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Der praktische Wert der Träumerei

In der Zeit des Wachens unaufhörlich zu denken, ist unnötig. Eine aufreibende Gewohnheit, die zur Folge hat, dass eine gleiche Gruppe von ldeen bis zur Erschöpfung wiederholt wird.

Eine der erhabensten Quellen aller Macht und allen Heiles ist die Fähigkeit, positive Gedanken nach Belieben auszuschalten; in vollkommener physischer Ruhe verharrend, einer Träumerei sich hinzugeben. Nur das Stückchen Landschaft zu sehen, das vor dem Auge schwimmt, oder leise, wolkige Bilder am Bewusstsein vorüberziehen zu lassen.

Sechzig Sekunden der Träumerei sind sechzig Sekunden lebendiger Ruhe für Leib und Geist. Selbst in der niederen Region materiellen Erfolges wird der Sieger bleiben, dem es möglich ist, nach Willen zu ruhen, d. h. passiv zu werden und Gedanken nach Willkür aus sich weg zu weisen. Er hält die Zügel des Lebens, denn in den Momenten der Versunkenheit öffnet sich das Tor für neue Ideen, Pläne und Unternehmungen, die dann, im wachbewussten Zustande still und zähe festgehalten, ihm die Erfüllung, die Realität bringen.

Die Menschen von heute sind alle atemlos, rasen jahraus, jahrein ein totes Rennen im Karussell der ewig gleichen Gedanken! Wie könnten sie in diesem abgehetzten Zustande auch nur fähig sein, Gelegenheiten wahrzunehmen, die auf ihrem Wege liegen; und wenn sie sie wahrnehmen, fehlt der Mut des spannkräftigen Zugreifens. Sie tun heute genau das gleiche wie gestern und nur, weil sie es gestern taten. Sklaven ihres eigenen Gemütszustandes, der sie an Ketten stärker als Stahl niederhält im Banne immer gleicher, jagender, hündischer Gedanken! Sie glauben immer etwas tun zu müssen – vornehmlich etwas „Nützliches“ mit Händen und Hirn! Auch im Schlafe rackern sie sinnlos weiter – wie blinde Pferde am Seil! Ihr Erwachen ist ohne Frische – der Schlaf ist ihnen nicht das Lebenselixier wie denen, die eine Kultur des Träumens besitzen oder der Versenkung, Konzentration – wie immer man es nennen mag. Auf Seereisen werden die rastlosen Barbaren durch alle Kabinen rasen von einem Ende des Schiffes zum andern; werden suchen, sie wissen nicht was! In der Eisenbahn beherrscht sie der ungeduldige Wunsch, so schnell wie möglich ans Ziel zu kommen, – sobald sie am Ziel sind, wissen sie nicht, was mit sich anfangen. In ihrem eigenen Heim wird unaufhörlich herumgewirtschaftet – am Ende des Tages ist dann für wahren Vorteil und wirkliches Gedeihen fast nichts geschehen!

Mentale Spannungen – und wozu? Eine Maschine, die leer läuft, wenn keine Arbeit zu tun ist!

General Grants Zigarre gewann ihm mehr Schlachten als sein Schwert! Ganz abgesehen von den Wirkungen des Nikotins erzeugt der Akt des Inhalierens, das Auspuffen des Rauches, die unwillkürliche Beobachtung der auseinanderschmelzenden Wölkchen schon die Stimmung der Meditation, den passiv verträumten Zustand, da der Geist nicht nur ruht, sondern neue Intuitionen empfängt.

Tabak soll damit weder empfohlen noch verdammt werden, er ist eines der vielen unvollkommenen Mittel, einen wünschenswerten Zustand herbeizuführen, der sicher auf anderen, innerlichen Wegen dauernder und mit größerem Vorteil zu erlangen ist.

Ein Weg aus vielen: Wer diese Seiten liest, halte ab und zu inne, lehne sich in seinen Stuhl zurück mit passiv herabhängenden Armen, ohne zu denken, drei, fünf Sekunden lang! Eine Wolke, ein Rauchsäulchen oder ein Baum, ein Ast, bewegt vom Winde, mag den Blick binden, solange es Freude bereitet, nicht länger. Wer auch nicht für fünf Sekunden physisch oder psychisch ruhen kann (und es gibt viele, die das nicht können), vermeide wenigstens allzu spastische, jähe nervöse Bewegungen! Er hat dann seine erste Lektion in der hohen Kunst der Träumerei oder mentalen Abstraktion genommen. Er hat seinem Leib ein Atom wirklicher Rast gegönnt! Sein Geist hat ein Atom lebendiger Kraft an sich gezogen, das nicht mehr verlorengehen kann. Wer die Rastlosigkeit eines ganzen Lebens zu besiegen hat, darf nicht gleich einen vollen Erfolg erwarten. Doch die Saat der Stille ist nun in ihn gesät! Dieser Gedanke wird ihn nicht mehr verlassen. Doch er mühe sich nicht allzu sehr und zu absichtlich, ihn zu kultivieren! Alles muss und wird von innen heraus wachsen.

Jeder Mensch vermag die harmonische Herrschaft über sich und seinen Leib bis in die (fälschlich sogenannten) trivialsten Akte des täglichen Lebens zu tragen: beim Aufstehen, Gehen, beim Öffnen oder Schließen einer Tür, bei der Art, die Seiten eines Buches umzuschlagen.

Wer in den Stunden des Wachens die kontemplative Stimmung festzuhalten vermag, wird auch bald einen erfrischenderen und gesünderen Schlaf erlangen – bestimmt doch die dominierende Tagesstimmung auch jene der folgenden Nacht. Schlaflosigkeit entspricht psychischer Zerfahrenheit – einem spastischen Gedankenkrampfe, der einen Menschen stundenlang wachhält, sich hin und her wälzend, unfähig einzuschlafen, mit Gliedern, die von Erschöpfung brennen. Mit der Kultur der Ruhe aber wächst der Wille zu einer Macht, die Schlaf oder absolute Passivität augenblicklich erzeugen kann.

Nie aber soll man mentale Stimmungen üben, wenn es unbequem oder langweilig erscheint – das retardiert eher! Nur in den Augenblicken, da es spontan erfreut, darf man üben! Das Mysterium und die Schönheit innerer Entwicklung ist ja, dass sie wächst wie Korn und Weizen, in der Stille, unbewusst! In zwei, drei, fünf Jahren werden dann alle Gebärden verändert, getragen und harmonisch sein. Bei der gedanklichen Anarchie, in der die Menschheit heute lebt, wird der Körper ja faktisch in Stücke zerrissen, an den jagenden Gedanken, die ziel- und zwecklos hier, dort, überall und auf allem sind zu allen Stunden – hemmungslos! – Jede Handlung, jeder Schritt kann in dem Maße, wie die Serenität wächst, zu einer Quelle des Vergnügens werden, wenn er nicht mehr als Hindernis, als Aufenthalt in der Jagd von Überflüssigkeit zu Überflüssigkeit erscheint. Was man aber gern macht, macht man gut; so setzt sich allmählich das ganze Leben aus vollendeten Elementen zusammen, von denen keines einreißt, was das andere aufbaut. Jede Einzeltat wird ein neuer Magnet, der sich verstärkt, und „Wunder“ würden wir nennen, was die Menschheit durch diese einfachen Übungen zu vollbringen imstande wäre!

Christus und Moses, alle Seher und Magier waren „in der Ruhe“. So akkumulierte sich in ihnen die psychische Kraft, die dann, auf einen Kranken konzentriert, diesen wie mit neuem Leben erfüllte. In der Geschichte von Martha und Maria hat eben Maria das bessere Teil erwählt, weil sie fern von häuslichen Mühen, in der Stille, Kräfte erwarb, die, richtig geleitet, in Sekunden mehr zu vollbringen vermochten als Martha in ihrer Trübsal aller Tage.

Martha arbeitete sich ab – Maria baute sich auf! Die Kultur der Ruhe steigert auch die Geistesgegenwart! Geistesgegenwart ist doch die Fähigkeit, zu jeder beliebigen Zeit alles in sich zu mobilisieren, was man an Wissen, Tatkraft, Entschlossenheit und Takt besitzt. Die augenblickliche Präsenz aller Eigenschaften macht allein ihren Wert. Im ruhenden Geist aber sind sie konzentriert, jagen nicht zerstreut nach tausend Objekten.

Die kontemplative Stimmung ist die ausgeruhte Besatzung der Gedankenfeste. Gehetzte, nervöse, daher stets ermüdete Menschen werden darum selten in irgend etwas exzellieren, sie sind nicht Magneten, die durch Ruhe arbeiten, durch jede Tat stärker werden statt schwächer!

Wer seine Kraft bewahren und seinen Geist ausruhen lassen kann, wird Nerven wie Stahl bekommen; ein Fluidum wird von ihm ausgehen, das das unbändigste Pferd unter ihm gefügig macht! Mut ist wie eine magnetische Wolke, die nichts durchbrechen kann! Die Möglichkeiten, die hier liegen, sind unbegrenzt. Der Leib kann dazu gebracht werden, allen materiellen Einflüssen zu trotzen, jedes Organ kann zehnmal so viel Widerstandskraft gewinnen als jetzt!

Träumerei kann, wie jede andere Fähigkeit, übertrieben entwickelt werden, wie bei Menschen, die schlafwachend nicht mehr wissen, was ihre Körper tun. Ihnen mangelt die positive Kraft, nach eigenem Wollen zur Tat überzugehen, wenn Taten not tun. Es muss ein Gleichgewicht hergestellt werden zwischen dem positiven und negativen Komplex der Kräfte, der Mensch muss lernen, sich nach freier Willkür in den einen oder andern Zustand zu werfen, wann, wo und auf wie lange es ihm beliebt. Dabei kann die Ein- und Abnahme der Kräfte so genau eingerichtet werden, dass stets ein kleiner Überschuss an Kraft bei jedem Zustandswechsel akkumuliert, wie ein Ingenieur überschüssigen Dampf in der Maschine vorrätig lässt. Viele geben heute immer sofort geistig aus, was sie einnehmen, und stehen dann in unvorhergesehenen Fällen völlig hilflos da.

Mit der wachsenden Fähigkeit, kontemplativ zu werden, verändern sich auch Atem und Herzschlag. Die künstlich geübte Zwerchfellatmung – Pranayama, der methodische lange Ein- und Aushauch der indischen Yogis, stellt sich von selbst als natürliche äußere Folge eines inneren Zustandes ein mit allen wunderbaren Zeichen an Leib und Gemüt.

Es gibt ein seelisches Atmen, einen psychischen Rhythmus, dessen sichtbares Korrelat die Lungenatmung darstellt. Wer in dem Strome aufbauender Gedanken lebt, in den er kraft der Träumerei einzutauchen vermag, ist befähigt, innerlich ein Element zu absorbieren, eine Atmosphäre, freier, mächtiger und lebensvoller als die Luft der Erde – das Prana der Inder. Aus diesem göttlichen Äther gewinnt der Mensch das Lebenselixier! Es wird ihm in der materiellen Sphäre ungeheure Kräfte verleihen, Taten des Lebens zu vollbringen, wo solche not tun.

Gott in den BäumenInhaltsverzeichnisDas Mysterium des Schlafes oder Unsere doppelte Existenz

 

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