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Die hohe Kunst des Vergessens

In einer Chemie der Zukunft wird man Gedanken vielleicht ebenso bewusst neue Verbindungen miteinander eingehen lassen wie heute in den Laboratorien Sauerstoff, Stickstoff, Kohlenstoff und Wasserstoff. Man wird möglicherweise ihre „Verbindungsgewichte“ kennen, sie in eine „Mendellejeffsche Reihe“ einordnen und so aus bekannten Elementen – aus „Gemeinplätzen“ geniale Einfälle entstehen lassen.

Es gibt keine Kluft zwischen dem, was wir als materiell und immateriell anzusprechen gewohnt sind. Unmerklich blendet das eine in das andere hinüber. In Wahrheit ist die Materie nur sichtbare Form feinerer Elemente, die wir Geist nennen. Unser unsichtbarer und unausgesprochener Gedanke strömt von uns als Substanz, so wirklich wie der Wasserstrom, den wir sehen können, oder der elektrische Strom, den wir nicht sehen können. Er verbindet sich mit dem Gedanken eines anderen, und aus solchen Verschmelzungen bildet sich eine neue und andersartige Idee wie aus chemischen Elementen ein neuer Körper.

Wenn wir in Gedanken die Elemente: Hass, Gram, Trübsinn, Sorge aussenden, so setzen wir damit Körper und Seele schädigende Kräfte in Aktion.

Die Macht zu vergessen schließt zugleich die Macht in sich, unerfreuliche und schädliche Gedanken oder Elemente zu vertreiben und jene nützlichen an ihre Stelle zu rufen, die uns aufbauen statt niederzureißen. Die Art des ausgesandten Gedankens beeinflusst unsere Geschäfte zum Vor- oder Nachteil; beeinflusst andere für oder gegen uns, erfüllt sie mit Vertrauen oder Argwohn.

Der vorherrschende Geisteszustand, die dominierende Färbung des Gemüts formt Leib und Glieder. Sie macht uns hässlich oder erfreulich, anziehend oder abstoßend für andere und, was wichtiger – für uns. Sie bildet unsere Gesten, unsere Manierismen, unseren Gang. Die leiseste Zuckung eines Muskels hat noch eine Stimmung, einen Gedanken zum Untergrund. Ein entschlossener Geist zeigt immer einen festen Schritt; ein zweifelnder, lavierender, unsteter schlurft, schleicht, torkelt dahin, „übel angebracht auf seinem Stengel“. Entschlossenheit strafft jeden Muskel und erfüllt ihn wunderbar mit einem belebenden Fluidum, insonderheit, wenn diese Entschlossenheit auf ein Ziel gerichtet ist, das in seinen Ausstrahlungen auch anderen zugute kommen soll – nicht uns allein. Es ist ein sehr weiser Egoismus, der stets fremdes Wohl in seine Werke einflicht, weil im Geiste ja alle ein Ganzes bilden und ganz andere aufbauende und belebende Hilfen herbeiströmen, etwas zu fördern, das für viele Interesse hat. Auf diesen aufbauenden und belebenden Strömen, aus dem unsichtbaren „Überall“ her treibt dann auch das Schiffchen „selbst“ seinen persönlichen Erfüllungen zu. Wir alle sind Glieder eines Körpers. Unsichtbare Nerven strecken sich durch den Raum von Wesen zu Wesen; ein übler Gedanke ist eine qualvolle Pulsation durch Myriaden von Geschöpfen hindurch.

Um aber die Prozesse fruchtbarer Gedankenverbindungen des Fremden mit dem Eigenen zu fördern, müssen diese immer möglichst frisch und „chemisch“ wirksam, wenn man so sagen darf, erhalten bleiben. Das kann nur durch die Kunst des Vergessens erreicht werden… die nichts anderes ist als richtiges Ausscheiden verbrauchter oder verdorbener psychischer Substanz.

Etwas vergessen lernen, ist ebenso wichtig, wie etwas behalten lernen.

Auf den unabsehbaren Vorteil, den es bietet, Peinliches, Trübes, Beängstigendes nach Willen ausschalten zu können aus dem Bewusstsein – insonderheit vor dem Einschlafen, damit der Geist nicht noch durch Stunden in dunklen Sphären sich herumtaste, statt unbeschwert mit Licht beladen, am Morgen wiederzukehren von klareren Wohnplätzen als Täglichkeit sie kennt – auf diesen unabsehbaren Vorteil, der im Vergessenkönnen liegt, ist schon an anderer Stelle hingewiesen worden.

Doch auch die lebendige, die frohe und fruchtbare Idee soll zeitweise ganz aus dem Gedächtnis verschwinden. Um in einer Unternehmung, einem Studium, einer Kunstfertigkeit den größtmöglichen Erfolg zu haben, ist es nötig, dass wir täglich zu bestimmten Zeiten diese Unternehmung, Wissenschaft, Kunst total vergessen. Sonst passiert es, dass wir Geleise ausfahren – den Weg mit dem Ziel verwechseln und uns auf ersteren festlegen, was nie geschehen sollte. Vielleicht sieht ein schweigender Zug unsichtbarer Helfer weiter als wir selbst, einen Schritt, eine Tat, die notwendig zu größtem und dauerndstem Erfolg. Wir selbst aber sind für diesen ganz fremdartigen, ganz überraschenden Weg blind, weil wir uns manisch in eine Sackgasse hineinverdacht haben. Zuweilen wieder scheint nichts vorwärtsgehen zu wollen, während die Ereignisse nur warten, bis unsere Erkenntnis sich genügend geklärt hat. Wer bei einem Unternehmen – mit großem, wertvollem Zweck, nachdem er sein Bestes dafür getan, immer noch auf unbegreifliche Hindernisse und Belästigungen stößt, höre sofort auf, mehr als das Allernotwendigste weiter zu tun. Er verlange eindringlich, dass sein Geist mit Plänen, Grübeln, weiterem Brüten über die Sache aufhöre und vertraue allein auf die mysteriöse geheime Macht hinter allen echten Dingen. Er schlafe allein, esse allein und gehe im Übrigen sich unterhalten. Ist er sich bewusst, sein Bestes getan zu haben, schalte er sich völlig aus – höre auf, irgend etwas aus sich selbst tun zu wollen.

Es wird ihm die enorme Kraftvergeudung sparen, die aus der Unentschlossenheit in solchen Perioden erzwungener Stagnation kommt.

Gelingt es ihm „wegzudenken“, dann wird eines Tages, mitten in das selige Vergessen hinein, ein Impuls kommen, der ihn handeln, eine Stufe höher steigen heißt. Die Stufe – der Schritt wird in Form einer Gelegenheit, eines Angebots, wie es kein Mensch vorhersehen konnte, erscheinen. Dann soll er sich aufs neue hineinstürzen in seine Unternehmung, die Gelegenheit beim Schopf packen, nicht mehr loslassen und sein Alles geben, so gut er es nur weiß und kann.

Aber dasselbe immerfort in sich herumwälzen – spekulieren, was man tun oder nicht tun sollte, heißt eigentlich nur die gleichen Dinge wiederholen – aus dem Gedankenmaterial einmal über das andere die gleiche Konstruktion bauen… einen Gedanken in Form einer Reihensiedlung aus sich herausstellen – aller Variation, auf die es doch in diesem Falle ankäme, unfähig.

Sind wir einmal gewohnt, immer über das gleiche Thema zu reden, es nie zu vergessen, es überall und immer aufs Tapet zu bringen, so werden wir aus der umgebenden Konversation bald herausfallen. Wer nicht durch Selbstvergessen imstande ist, echtes Interesse für das aufzubringen, was um ihn herum gesprochen wird, entschlossen, nur das zu diskutieren, was ihn selbst interessiert, läuft mit Recht Gefahr, in den Ruf eines „Hobbyisten“, eines Sonderlings zu geraten.

Der Monomane ist an seinem Ruf selbst schuld. Er ist ein Mensch, der das Vergessen verlernt hat. Eine Idee – in ihm überwertig geworden – hindert nun, gleich einer Geschwulst, freie psychische Zirkulation.

Andere um ihn herum fühlen diese Einseitigkeit, diese stille innere Manie in Form eines namenlosen Unbehagens, das er verbreitet, ganz gleich, ob er sein „Hobby“ schweigend nährt oder nicht, denn wir alle machen uns beliebt oder verhasst, während wir in der Einsamkeit unseres Zimmers sitzen.

Der Sonderling wird oft zum Märtyrer oder glaubt es zu werden… Zum Martyrium ist aber nie zwingende Veranlassung… es sei denn der Zwang der Unwissenheit. Martyrium hat im Grunde stets ein Element von Taktlosigkeit in sich. Mangel an Urteilskraft und Feingefühl für die Form, in der ein der Menschheit Ungewohntes ihr vermittelt werden sollte. Analysiert man Martyrium, so findet sich immer ein verbohrtes gewalttätiges Bestreben im Märtyrer, irgendeine Idee in verletzender oder antagonistischer Weise anderen aufzuoktroyieren.

Auch Christus ist keine Ausnahme. Man lese nur, welche Drohungen und Flüche gegen jene geschleudert wurden, die etwa seine Jünger nicht in ihr Haus aufnehmen wollten – berechtigterweise, weil diese sich vor dem Essen nicht die Hände zu waschen pflegten wie andere Leute. „Da wird sein Heulen und Zähneklappern“ – und „solchen wäre besser“ usw…. usw. Christus sagt auch: „Ich komme nicht im Frieden, sondern mit dem Schwert.“

Nun aber ist endlich die Zeit der Weltgeschichte gekommen, wo das Schwert in die Scheide gehört. Manche braven Leute gebrauchen unbewusst Schwerter, wenn sie anderen etwas Gutes erweisen wollen. Die eifernden Reformatoren, die das Schwert der Aversion gegen jeden schwingen, so er nicht auf das hört, was sie meinen, dass er unbedingt hören müsse – das Schwert der Vorurteile und noch ein ganzes Arsenal unzeitgemäßer Barbarenwaffen. Ein kommendes Reich des Friedens und der Toleranz wird sich aber aus tiefer Freundlichkeit aufbauen – oder gar nicht aufbauen. Von dem Guten, das in ihnen ist, soll man den Menschen künden und als erste Regel ihre Kinder lehren: „Jeder ist ein Gentleman“ – nicht aber: „Wir sind allzumal Sünder.“

Die Geburt der GedankenInhaltsverzeichnisDie ziehende Kraft des Gemüts

 

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