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Artikel von Sukadev Bretz und Ergänzungen

Sukadev Bretz ist der Gründer und Leiter von Yoga Vidya, Seminar- und Ausbildungsleiter und Autor.

Von Jugend an war er von den Möglichkeiten des menschlichen Geistes fasziniert. Autodidaktisch brachte er sich das Schnelllesen bei und absolvierte Kurse in Konzentrations- und Gedächtnistraining. Mit 20 Jahren erwarb er an der Universität München den Titel eines Diplomkaufmanns.

Als Nebenfach studierte er Psychologie. In den Sivananda Yoga Zentren wurde er 1981 zum Yogalehrer ausgebildet. Swami Vishnu Devananda gab ihm den Titel „Acharya“ (Yoga-Meister), beauftragte ihn mit dem Aufbau vieler Yoga-Zentren sowie der Ausbildung von Yogalehrern und erwählte ihn zu einem seiner Nachfolger.

1992 gründete er das erste Yoga Vidya Center, um einen lebensnahen Yoga zu lehren. Seine Kurse und Ausbildungen verbinden Theorie und Praxis zu einer ganzheitlichen Entwicklungserfahrung für Körper, Geist und Seele.

Sukadev Volker Bretz lehrt in der Tradition von Swami Sivananda und Swami Vishnudevananda, begründete aber auch den Yoga Vidya Stil als eigenen Yoga Stil.


Inhaltsverzeichnis

Einführung

Erstes Kapitel: Samadhi Pada – Theorie des Geistes
Zweites Kapitel: Sadhana Pada – Spirituelle Praxis
Drittes Kapitel: Vibhuti Pada – Außergewöhnliche Kräfte
Viertes Kapitel: Kaivalya Pada – Befreiung
Anhang: Wichtige indische Schriften und Philosophiesysteme

Raja Yoga


Einführung

Wichtige indische Schriften
Sutras
Aufbau der Raja Yoga Sutras

Kommentar von Sukadev Volker Bretz zu den Raja Yoga Sutras von Patanjali

Grundlage/Quellentexte: „Meditation und Mantras“ von Swami Vishnudevananda, herausgegeben vom Sivananda Yoga Vedanta Zentrum, München, ISBN 3-930716-003, und „Die Wissenschaft des Yoga“ von I.K. Taimni, F. Hirthammer Verlag, ISBN 3-921288-80-0

Wichtige indische Schriften
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Die Yoga Sutras von Patanjali gelten als wichtigste der Yogaschriften. Die vier bedeutendsten Yogaschriften sind

· die Upanishaden, die den Jnana Yoga (Yoga des Wissens) betreffen
· die Bhagavad Gita, die alle Yogawege umfasst, vor allem aber Karma und Bhakti Yoga (Hingabe, Liebe zu Gott)
· die Hatha Yoga Pradipika, die den Hatha und Kundalini Yoga behandelt
· die Yoga Sutras über den Raja Yoga, den Yoga der Geisteskontrolle.

Patanjali selbst spricht übrigens nicht von Raja Yoga, sondern von Yoga allgemein. Der Ausdruck Raja Yoga stammt eigentlich aus der Hatha Yoga Pradipika (eine der wichtigsten klassischen Hatha Yoga Schriften). Dort heißt es: „Wir üben Hatha Yoga (körperorientierte Teil des Yoga), um Raja Yoga (ganzheitliches Yoga) zu erlangen.“ Denn es ist sehr schwer, nur durch geistig-psychologische Techniken Kontrolle über den Geist zu bekommen. Asanas (Yogastellungen) und Pranayama (Atemübungen) können uns dabei helfen. So haben eigentlich die Hatha Yoga-Schriften den Ausdruck Raja Yoga für die Sutras (Satz mit Aussage) von Patanjali populär gemacht. Raja heißt wörtlich „Herrscher“; durch Raja Yoga werden wir zum Herrscher über unseren Geist und unser Leben.

Die Raja Yoga Sutras wurden von einem Weisen namens Patanjali geschrieben. Über seine Person und sein Leben ist fast nichts bekannt, nicht einmal mythologische Geschichten, was sehr außergewöhnlich ist, denn die Inder lieben es, Legenden zu erzählen. Möglicherweise hat er sich als Mensch bewusst im Hintergrund gehalten in der Vorstellung, nicht er als Person sei wichtig, sondern das Yogasystem, das dahintersteht und das er weitergibt. Patanjali ist nicht der Erfinder dieses Systems, sondern er hat altes, längst vorhandenes Wissen zusammen gefasst und geordnet. Die Raja Yoga Sutras sind etwa zwischen 600 vor und 500 nach Christus anzusiedeln. Da Patanjalis System mit dem Buddhismus große Ähnlichkeiten aufweist, nimmt man an, dass entweder Patanjali von der buddhistischen Tradition beeinflusst wurde oder umgekehrt Buddha von Patanjali. (Buddha: geboren 560 v. Chr. gestorben um 480 v. Chr.). Die Meinungen, ob Patanjali vor oder nach Buddha gelebt hat, gehen auseinander.

Sutras     Zurück zur Einführung

Es gibt verschiedene Formen indischer Schriften. Sutras sind die kürzeste und prägnanteste Weise, etwas zu sagen – nicht nur im Yoga, sondern auf allen Gebieten. Es gibt zum Beispiel die Nadya Sutras über indischen Tanz, es gibt Sutras über Politik usw. Für den Jnana Yoga (Yoga des Wissens) sind zum Beispiel die Brahma Sutras sehr bedeutend. Aber es gibt nur dann eine Sutra, wenn die Tradition schon einige hundert Jahre alt und reif dafür ist, in Sutraform komprimiert zu werden. Sutra bedeutet wörtlich „Schnur“ oder „Faden“, was durchaus auch in unserer Kultur als „Leitfaden“ zu finden ist.

Ein Sutra ist kein Lehrbuch, das man liest und anschließend hat man alles verstanden. Es ist vielmehr als Leitfaden gedacht für den Lehrer, um dem Schüler den Raja Yoga beizubringen, indem er eben Sutra für Sutra durchgeht. Und es ist ein Leitfaden für den Schüler. In früheren Zeiten war es üblich, dass die Schüler die Sutras vollständig auswendig lernten, bevor der Lehrer irgendwelche Kommentare dazu abgegeben hat. Erst wenn der Schüler sie auswendig konnte, wurde er für fähig gehalten, im Raja Yoga unterwiesen zu werden. Sie sind übrigens nicht so schwer auswendig zu lernen, denn sie sind in Versen abgefasst, die inhaltlich wie eine Schnur, eine Kette, aufeinander folgen. Man kann aus dem letzten Wort des vorhergehenden Verses jeweils fast schon den Anfang des folgenden Verses erraten.

Der Sinn des Auswendiglernens ist auch, dass der Text im Geist dann immer parat ist. Denn in früheren Zeiten gab es kaum Bücher. Die Inder haben auf Palmblätter geschrieben. Palmblätter sind schwierig zu präparieren und zu beschreiben und halten auch nur einige Generationen lang. Dann müssen sie neu abgeschrieben werden. Einer der Gründe, warum man in Indien so große Schwierigkeiten hat zu bestimmen, von wann eine Schrift stammt, ist, dass man auf kein Original mehr zurückgreifen kann, sondern nur auf wiederholte Abschriften. Man kann also nicht beurteilen, ob eine Schrift nun schon Tausende oder „nur“ Hunderte von Jahren alt ist. Die Sutras wurden vorgelesen, vom Lehrer erklärt und von den Schülern gelernt. Dadurch lernten die Schüler auch ihren Geist und seine Arbeitsweise kennen.

Yoga Sutras lernt man nur wegen ihres Inhalts, man rezitiert sie nicht wie zum Beispiel die Bhagavad Gita oder die Upanishaden, die gleichzeitig Mantracharakter haben und durch ihre Klangschwingung wirken. Auch heute noch findet man es in Indien relativ häufig, dass die Bhagavad Gita rezitiert wird– nicht so die Yoga Sutras.

Aufbau der Raja Yoga Sutras     Zurück zur Einführung

Die Raja Yoga Sutras bestehen aus vier Teilen, den sogenannten Padas. Pada bedeutet wörtlich „Fuß“ oder eben im übertragenen Sinn Kapitel. Jedes Kapitel ist in Verse unterteilt, die als Aphorismen oder Sutras bezeichnet werden. Das Wort Sutra bezieht sich sowohl auf das Gesamtwerk wie auch auf jeden einzelnen Aphorismus. Die vier Füße, Kapitel, auf denen die Sutras stehen sind:

· Samadhi Pada  = Theorie des Geistes (z. B. welche Arten von Samadhi es gibt)
· Sadhana Pada  = Spirituelle Praxis (z. B. Die 8 Stufen des Yoga)
· Vibhuti Pada     = Höhere Stufen des Raja Yoga (Konzentration, Meditation, übersinnliche Kräfte)
· Kaivalya Pada  = Befreiung

Samadhi Pada wird oft auch als „Theorie des Geistes“ betitelt. Im ersten Kapitel beschreibt Patanjali, welche Stufen des Bewusstseins und welche Arten von Samadhi es gibt und wie der Geist funktioniert, bzw. was er ist. Er behandelt der Reihe nach, was Yoga ist, dann die verschiedenen Gedanken im Geist, die verschiedenen Weisen, wie man den Geist beherrschen kann, die verschiedenen Samadhi-Stufen (Savitarka, Nirvitarka, Savichara, Nirvichara, Sananda und Sasmita) als Formen von Sarvikalpa Samadhi, und schließlich Nirvikalpa Samadhi. Weiterhin schreibt er über die Hindernisse auf dem Weg, Hinweise zu deren Überwindung und schließlich nochmals über Samadhi und die Folgen von Samadhi.

Das zweite Kapitel hat als Hauptthema Sadhana, die spirituelle Praxis. Patanjali beschreibt dort zunächst den sogenannten Kriya Yoga, auf den wir noch zurückkommen werden, dann die Kleshas, die Ursachen des Leidens, was Karma ist und Teile der Raja Yoga-Philosophie, die letztlich aus dem Samkhya-System stammt. Dabei geht es um die Fragen: Was ist diese Welt, warum bin ich überhaupt in dieser Identifikation, was ist der Sinn des Ganzen, was ist Bindung und was ist Befreiung? Der bekannteste Teil der Raja Yoga Sutras, die acht Stufen des Yoga, findet sich ebenfalls im zweiten Kapitel. Speziell die ersten fünf Stufen – Yama, Nyama, Asana, Pranayama, Pratyahara – sowie ihre Wirkungen, wenn wir sie üben, sind hier beschrieben.

Die Kapitel sind nicht so systematisch, wie die Überschriften dies vermuten lassen, eben weil es Sutra–Stil ist und als Leitfaden zur Unterweisung und für die Praxis dient. Es würde unter diesem Gesichtspunkt keinen Sinn machen, das erste Viertel nur mit Theorie zu füllen, das zweite nur mit Praxis. Im ersten Teil überwiegt zwar die Theorie und im zweiten die Praxis, aber gleichzeitig findet sich im ersten Kapitel auch Praxis und im zweiten auch Theorie. Trotzdem ist das Hauptthema des ersten Kapitels Theorie des Geistes und des zweiten Kapitels spirituelle Übung. Letzteres umfasst sowohl die eigentlichen Praktiken (Yama, Nyama, Asana, Pranayama, Pratyahara) als auch die Lebenseinstellung des Yogis, was dann wieder in die Philosophie und die Theorie des Karmas hineingeht.

Das dritte Kapitel beschreibt die höheren Stufen des Raja Yoga, nämlich Dharana, Dhyana und Samadhi, also Konzentration, Meditation und Überbewusstsein und deren Auswirkungen. Der größte Teil des 3. Kapitels behandelt die Auswirkungen, die es hat, wenn man in der Lage ist, den Geist ganz auf etwas zu konzentrieren. Wenn wir zu einer großen Konzentration fähig sind, entstehen außergewöhnliche Fähigkeiten. Daher ist das 3. Kapitel ganz faszinierend. Es wird in den Kommentaren oft vernachlässigt in der Vorstellung, das alles sei nur für sehr weit entwickelte Menschen oder die Siddhis (übersinnliche Fähigkeiten), die dabei entstehen, seien doch nur Hindernisse auf dem spirituellen Weg, mit denen man sich als Aspirant gar nicht so sehr abgeben solle. Aber da Patanjali ein Viertel seines ganzen Werkes diesem Thema widmet, kann es wohl doch nicht ganz so sein.

Swami Vishnu hat einige Aphorismen davon erläutert und gezeigt, dass sie nicht nur Siddhas (Meistern im Besitz übernatürlicher Kräfte) vorbehalten sind, sondern auf jeder Entwicklungsstufe ganz praktisch anwendbar sind, um bestimmte Probleme zu lösen und Hindernisse im Geist wegzuräumen. Indem wir lernen, uns zu konzentrieren, kommen alle möglichen Fähigkeiten. Patanjali sagt im Grunde genommen, dass Konzentration alles ist. Und das gilt auf allen Stufen der Entwicklung. Konzentrationstechniken sind nicht nur für Menschen, die tatsächlich Samadhi erreichen, sondern auch für spirituelle Aspiranten, die ernsthaft auf dem Weg sind und Konzentration üben wollen. Swami Vishnu sagte immer: „Für einen Yogi mit Konzentration ist nichts unmöglich“ oder „Konzentration ist der erste Schritt der Meditation“, „Ein zerstreuter Geist ist unfähig zu meditieren“. Dazu gehört auch, im Alltag, im ganz Banalen, konzentriert zu sein. Diese Konzentration können wir im täglichen Leben mit Hilfe der anstehenden Aufgaben entwickeln. Umgekehrt können wir auch die Schwierigkeiten des täglichen Lebens besser bewältigen, wenn wir konzentriert sind.

Swami Nidyananda pflegte zu sagen: „Concentrate, just concentrate“ – nicht auf etwas konzentrieren, sondern einfach nur konzentrieren, immer ganz konzentriert sein, dann kommt alles andere von selbst.

Wenn wir eine so starke Konzentration entwickeln, entsteht Macht, und Macht korrumpiert. Patanjali beschreibt hier ganz großartige Dinge, wie wir zum Beispiel den Geist anderer Menschen kennen lernen und beeinflussen, Vergangenheit und Zukunft sehen, unsere früheren Leben erfahren, größer, kleiner, unsichtbar, schwer, leicht usw. werden können – was sowohl wörtlich zu verstehen ist als auch im übertragenen Sinn. Wir werden es hier mehr im übertragenen Sinn interpretieren: Wie diese Techniken uns schwergewichtig machen, so dass wir wahrgenommen werden, wenn wir etwas zu sagen haben, oder wie sie uns unsichtbar machen, so dass wir von anderen Menschen in einer bestimmten Situation nicht wahrgenommen werden. Es ist aber auch durchaus wörtlich zu nehmen. Ich selbst habe mehrmals erlebt, wie Swami Vishnu in die Zukunft sehen konnte, dass er hellseherische Fähigkeiten hatte und Ereignisse, die eigentlich unmöglich waren, möglich gemacht hat. Wenn er eine Vision hatte, spielte es keine Rolle, ob es äußerlich möglich war oder nicht – es hat sich einfach manifestiert.

Die Gefahr dabei ist, dass das Ego sich aufbläst. Daher sagt auch Patanjali, die Siddhis (übersinnliche Kräfte), die sich dabei entwickeln, sind Hindernisse, denn sie verstärken das Ego. Je fortgeschrittener wir sind, desto weniger werden wir unsere geistigen Kräfte benutzen. Allerdings für den, der fortgeschritten, aber noch nicht so sehr fortgeschritten ist, ist es gut, diese Techniken zu üben, um die Konzentration weiterzuentwickeln und seinen Geist zum Instrument Gottes werden zu lassen.

Bei all dem müssen wir Hingabe zu Gott üben, uns bewusst sein, auch wenn wir unsere Konzentrationsfähigkeit benutzen, sind wir Diener Gottes und stellen all unsere Fähigkeiten, unser Prana (Lebensenergie), als Instrument Gottes zur Verfügung. Vor diesem Hintergrund spricht nichts dagegen. Wir entwickeln dann diese Fähigkeiten, um ein besserer Diener Gottes zu werden und nicht, um ein dickes Ego zu bekommen. Nicht „Das habe ich toll gemacht“, sondern: „Gott wirkt durch mich hindurch“. Man muss sich immer als Kanal Gottes sehen und alles, was man an Fähigkeiten bekommt und erreicht, als Gnade Gottes empfinden.

Das vierte Kapitel ist Kaivalya, die Befreiung. Es enthält zwar tatsächlich einiges über Befreiung, aber relativ unzusammenhängend auch über alle möglichen anderen Themen. Es gab auch eine Theorie, nach der das vierte Kapitel nicht von Patanjali sein könne, weil hier ein Aphorismus auf den anderen folgt, ohne dass sie miteinander etwas zu tun hätten. Laut der modernen Kommentatoren soll es aber trotzdem von Patanjali sein. Er hat eben in dieses vierte Kapitel alles hineingebracht, was nicht in die Logik und Aufeinanderfolge von Versen der ersten drei Kapiteln hinein gepasst hat, aber trotzdem wichtig ist. Er spricht zum Beispiel nochmals über Siddhis, die übernatürlichen Kräfte und deren mögliche Ursachen. Er geht erneut auf Karma ein, auf den Unterschied zwischen Chitta und Atman (Geist und Selbst), auf das Wesen des Gedankens, die Philosophie der Wahrnehmung und er endet natürlich mit Kaivalya, der Befreiung.


Erstes Kapitel: Samadhi Pada – Theorie des Geistes

1. Atha
2. Yogash
3. Tadâ drashtuh swarûpe ‘vasthânam
4. Vritti sârûpyam itaratra
5. Vrittayah pañchatayyah klistâklistâh
6. Pramâna–viparyaya–vikalpa–nidrâ–smritayah
7. Pratyakshânumânâgamâh pramânâni
8. Viparyayo mithyâ–jñânam atad–rûpa–pratishtham
9. Shabda–jñânânupâtî–vastu–shûnyo–vikalpah
10. Abhâva–pratyayâlambanâ vrittir nidrâ
11. Anubhûta–visayâsampramoshah smritih
12. Abhyâsa–vairâgyâbhyâm tan–nirodhah
13. Tatra
14. Sa tu
15. Drishtâ
16. Tat param
17. Vitarka
18. Virâma–pratyayâbhyâsa–pûrvah
19. Bhava–pratyayo videha–prakrtilayânâm
20. Shraddhâ–vîrya–smriti–samâdhi–prajnâpûrvaka
21. Tîvra–samvegânâm âsannah
22. Mridu–madhyâdhimâtratvât tato’pi visheshah
23. Îshwara–pranidhânâd vâ
24. Klesha-karma-vipâsakâshayair aparâmrishtah
25. Tatra niratishayam Sarvajna–bîjam
26. Sa pûrveshâm api guruh kâlenânavacchedât
27. Tasya vâchakah pranavah
28. Tajjapas tad–artha–bhâvanam
29. Tatah pratyak–chetanâdhigamo ’py
30. yâdhi–styâna–samshaya–pramâdâlasyâ–virati–bhrânti–
darshanâ–labdhabhûmi–katvânavasthitatvâni chitta–vikshepâs te `ntarâyâh

31. Duhkha-daurmanasyângamejayatva-shvâsa-prashvâsâ vikshepa-sahabhuvah
32. Tat–pratishedhârtham eka–tattvâbhyâsah
33. Maitrî–karunâ–muditopeksânam
34. Pracchardana–vidharanabyam va pranasya
35. Visayavati va pravrttir utpanna manasah
36. Vishokâ vâ jyotishmatî
37. Vîta-râga-vishayam vâ chittam
38. Svapna-nidrâ-jnânâlambanam vâ
39. Yathâbhimata–dhyânâd vâ
40. Paramânu-parama-mahattvânto `sya vashikârah
41. Kshîna-vritter abhijâtasyeva maner
42. Tatra shabdârtha-jnâna-vikalpaih samkîrnâ
43. Smriti-parishuddhau
44. Etayaiva savichârâ nirvichârâ cha
45. Sûkshma-vishayatvam châlinga-paryavasânam
46. Tâ eva sabîjah samâdhih
47. Nirvichâra–vaishâradye ’dhyâtma–prasâdah
48. Ritambharâ tatra prajnâ
49. Shrutânumâna-prajnâbhyâm anya-vishayâ
50. Taj-jah samskâro ’nya-samskâra-prati-bandhî
51. Tasyâpi nirodhe sarva-nirodhân nirbîjah

1. Atha yogânushâsanam     Zurück zum ersten Kapitel

atha = jetzt, nun; Yoga = Yoga; Einheit, Vereinigung; anusasanam = Lehre, Auslegung

Nun wird Yoga erklärt.

Wenn wir dazu neigen, alles immer zu verschieben, müssen wir atha (jetzt) sagen: Jetzt, nicht morgen. Jetzt wird Yoga erklärt und praktiziert.

2. Yogash chitta–vritti–nirodhah     Zurück zum ersten Kapitel

Yogash = Yoga ist; chitta = Geist, Verstand; vritti = Gedanken(wellen), nirodhah = Zur–Ruhe–Bringen, Aufhören

Yoga ist das Zur-Ruhe-Bringen der Gedanken im Geist.

Der Geist ist wie das Wasser in einem See, auf dessen Grund ein Schatz ruht. Wenn das Wasser sich bewegt, entstehen Wellen, und wir können nicht auf den Grund schauen, um diesen Schatz zu sehen.

Nirodhah ist also das Zur-Ruhe-Kommen des Geistes, was als einer der fünf Grundzustände des Geistes gilt.

Um es mit dem Seevergleich auszudrücken:

Im Mudha-Zustand (vergesslicher Geist) ist das Wasser völlig verschmutzt. Man sieht gar nichts von dem Schatz, der unten liegt. Wir sind gar nicht bei unserem Selbst, sondern sehr weit davon entfernt. Das führt zu Traurigkeit, Verzweiflung, Depression. Es dominieren Gedanken und Gefühle wie „Ich kann nicht“, „Ich will nicht“, „Keiner mag mich“, „Alles hat keinen Sinn“,. Man hat nur noch den Wunsch, sich in ein Mauseloch zu verkriechen, entweder für alle Ewigkeit oder mindestens solange, bis es wieder besser wird. Das ist Mudha.

Kshipta, der zerstreute Zustand, ist, wenn wir ständig an etwas anderes denken und alles vergessen, was wichtig ist. Man möchte dann zum Beispiel gleichzeitig Wäsche aufhängen, mit dem Kind spielen, Yoga praktizieren, dazwischen nach dem Essen schauen, lesen, fernsehen, jemanden anrufen… und inzwischen springt die Katze in die Wäsche, und das Kind schreit.

Vikshipta ist das Bemühen um Konzentration. Nehmen wir als Beispiel diesen Vortrag. Folgt man ihm gar nicht, ist es Mudha, der vergessliche Geist. Denkt man dabei dauernd an alles mögliche andere, dann ist es Kshipta, der zerstreute Zustand. Bemühen wir uns, dem Vortrag zu folgen und es taucht nur ab und zu ein anderer Gedanken auf, dann ist es Vikshipta.

Und wenn man vollkommen konzentriert ist, ohne irgendeinen anderen Gedanken zu haben und ohne sich selbst noch zu spüren, einfach nur folgt, dann ist es Ekagrata, Einpünktigkeit, das, was die humanistische Psychologie heute als „Flow“-Erfahrung bezeichnet. Man ist voll konzentriert, man fließt mit, es fließt einfach, das Ego spielt keine Rolle. Es ist mir bei Swami Vishnus Vorträgen öfter so gegangen, dass ich sie inhaltlich einfach aufgenommen habe, die einzelnen Worte waren ganz unwichtig, es kam einfach so. Das kann bei allen möglichen Tätigkeiten passieren, zum Beispiel beim Singen. Nicht mehr ich singe, sondern es geschieht einfach. Manche erleben es am Computer, Handwerker bei der Arbeit, Köche beim Kochen. Ekagrata tritt immer dann ein, wenn es kein Bemühen um Konzentration gibt, sondern wenn sie einfach geschieht.

Schließlich folgt Nirodhah, wo es gar keinen Gedanken mehr gibt.

Das erste Kapitel spricht dann noch verschiedene Stufen von Ekagrata, Einpünktigkeit, an, also wie wir uns voll konzentrieren können und welche Erfahrungen dabei kommen. Im täglichen Leben ist Ekagrata eine Folge von Vikshipta, des Bemühens um Konzentration. Und zwar führt entspanntes, streßfreies Vikshipta zu Ekagrata. Wenn man ganz losgelöst ist, wird man plötzlich ganz konzentriert.

Dieses Modell hilft, sich mit gewissen Gemütszuständen weniger zu identifizieren. Wenn man zum Beispiel sagt: „Ach, ich bin heute so kaputt!“ oder „Ich bin so deprimiert!“, „Mir geht es wieder so schlecht!“, dann klingt das schon sehr vernichtend. Schon allein der Gedanke macht einen noch deprimierter oder lässt es einem noch schlechter gehen. Sagt man aber „Mein Chitta (Geist) ist in Kshipta (zerstreut)“, dann ist das nicht so tragisch. Nicht „Ich bin deprimiert“, sondern „Mein Chitta ist in Mudha (vergesslich)“ – und dann kann ich ja etwas daran ändern, kann überlegen, was mir hilft, aus diesem Mudha-Zustand heraus in Kshipta (zerstreut) zu kommen und aus Kshipta in Vikshipta (Bemühens um Konzentration). Um das zu trainieren und sich bewusst zu machen, ist es auch gut, eine oder zwei Wochen lang ein Tagebuch zu führen, in dem man zum Beispiel aufschreibt: Wie lange war ich jeden Tag in Mudha, wie lange in Kshipta, in Vikshipta usw.? Wer oder was hat die Übergänge erzeugt?

Frage: Wie kann man sich von einem Zustand in den anderen versetzen?

Das ist individuell und je nach Situation verschieden. Manchmal geschieht es automatisch durch äußere Einflüsse. Angenommen, man fühlt sich schlecht, und jemand klopft einem plötzlich auf die Schulter, während er sagt: „Was du da gestern gemacht hast, das war ja richtig toll!“, dann wird man meist aus Mudha (vergesslich) herausgehoben. Manchmal ist man aber so tief verstrickt, dass selbst das nichts nützt. Manchmal führt auch äußerer Druck aus Mudha heraus, zum Beispiel, wenn man sehr viel zu tun hat und keine Zeit bleibt, sich selbst zu bemitleiden.

Es gibt drei Ursachen, warum man sich schlecht fühlen kann oder in den Mudha–Zustand hineinkommt: Es kann ein äußerer Grund sein, ein innerer Rhythmus oder es geschieht einfach ohne erkennbaren Anlass.

Eine wichtige Aufgabe eines Aspiranten (Yogaschüler, jemand, der auf dem spirituellen Weg ist) ist es, dafür zu sorgen, nicht zu lange in Mudha (vergesslich) und Kshipta (zerstreut) zu bleiben. Das hängt von einer gewissen Grundzusammensetzung unseres Unterbewusstseins ab. Wenn viel Tamas (Trägheit, Dunkelheit) im Unterbewusstsein ist, sind wir relativ viel in Mudha. Herrscht Rajas (Aktivität) vor, sind wir relativ viel in Kshipta. Wenn Sattwa (Reinheit) überwiegt, sind wir eher in Vikshipta (Bemühens um Konzentration) und auch in Ekagrata (Einpüktigkeit). Wenn man sich nicht bemüht und an sich arbeitet, bleibt der Grundzustand im Leben relativ konstant. Menschen haben unabhängig von äußeren Veränderungen einen gewissen Glückslevel; das hat auch die moderne Psychologie festgestellt.

Bei einer vollkommenen Veränderung im Leben wird man ein paar Monate lang durcheinandergeschüttelt, dann pendelt sich der innere Gemütszustand wie vorher ein. Die Vorstellung, durch die Veränderung äußerer Umstände glücklich zu werden, stimmt also nicht so ganz. Äußere Veränderungen können eine Hilfe sein, damit wir besser an der inneren Transformation arbeiten können. Das kann dann auch sehr schnell gehen, denn wir arbeiten im Yoga auf mehreren Ebenen, um auch innerlich etwas zu verändern. Auch die verschiedenen Asana- (spirituelle Praktiken) und Pranayamapraktiken (Yogaatmung) erhöhen Sattwa (Reinheit) in uns. Ist mehr Sattwa und mehr Energie da, fällt es leichter, in Vikshipta (Bemühens um Konzentration) oder Ekagrata (Einpüktigkeit) zu kommen und zu bleiben. Auch Meditieren und Mantrasingen sind Gelegenheiten, mehr Sattwa zu schaffen.

Wenn wir in einer depressiven Stimmung sind, können wir überlegen, was wir konkret tun können. Je nach Situation kann die Antwort heißen, dass man einfach mal entspannen oder sich mit etwas Bestimmtem beschäftigen, sich reinigen, ein paar Runden Pranayama machen kann. Manchmal reicht es auch aus, dem Geist zu sagen: „Das ist jetzt eine Depression, die will ich nicht“ um den Geist davon abzubringen, das heißt also, Nicht-Identifikation und Umschalten.

Oder wenn man zerstreut ist, wenn der Geist unruhig ist und vieles gleichzeitig machen will, dann hilft es manchmal, aufzuschreiben, was alles zu tun ist, Prioritäten zu setzen und dann eins nach dem anderen zu erledigen.

Es gibt verschiedene Gründe, warum der See in Bewegung kommen kann:

Der Wind, der bläst und das Chitta (Geist) durcheinanderbringt, ist letztlich unser Prana (Lebensenergie). Ist das Prana unruhig, wird auch das Chitta unruhig.

Der zweite Grund sind Boote auf dem See, also äußere Ereignisse, die Unruhe erzeugen.

Fische bewegen sich von unten herauf, das sind Eindrücke aus dem Unterbewusstsein, die an die Oberfläche kommen und den See aufwühlen.

Wenn wir die Gründe für die Bewegung ausschalten, also nicht mehr so leicht auf äußere Ereignisse reagieren, wenn wir unser Unterbewusstsein langsam reinigen – das ist ein langanhaltender Prozess –, und unser Prana harmonischer machen, wird der See langsam ruhiger. Dann kommen wir öfter zu Vikshipta (Bemühens um Konzentration) und Ekagrata (Einpünktigkeit), dann allmählich zu Nirodhah (keine Gedanken mehr) und schließlich auch zu „Tadâ drashtuh swarûpe ´vasthânam“, wo „der Seher in seinem wahren Wesen ruht“. – Aber bis dahin dauert es eine Weile!

3. Tadâ drashtuh swarûpe ‘vasthânam     Zurück zum ersten Kapitel

tadâ = dann; drastuh = Seher; swarûpe = eigene Natur; avasthânam = Niederlassung

Dann ruht der Wahrnehmende (Seher) in seiner wahren Natur.

Sind die Gedanken, die Vrittis, ruhig, dann ruhen wir in unserem wahren Wesen, in unserer eigentlichen Natur. Wir sind nicht der Geist, wir sind nicht die Gedanken, wir sind reines Bewusstsein, Bewusstsein jenseits der Gedanken, was auch als Sat-Chid-Ananda, Sein-Wissen-Glückseligkeit, erfahrbar ist.

4. Vritti sârûpyam itaratra     Zurück zum ersten Kapitel

vritti = Gedankenwellen, Verhaltensweisen; sârûpyam = Identifizierung; itaratra = in anderen Zuständen

In anderen Zuständen (wenn der Geist nicht konzentriert ist), identifiziert sich der Wahrnehmende mit seinen Gedanken.

In allen anderen Gemütszuständen außer Nirodhah (keine Gedanken mehr vorhanden) identifiziert sich der Sehende mit seinen Vrittis (Gedanken). Und je mehr wir uns mit den Gedanken identifizieren, umso stärker werden sie. Wenn wir uns weniger auf die Gedanken einlassen, verschwinden sie auch leichter wieder. Wenn ein Gedanke kommt und man wenig mit ihm anfangen kann, dann ist er schnell wieder weg. Wenn aber ein Gedanke auftaucht, mit dem man sich sofort identifiziert, dann wird er sehr stark. Trotzdem sagt Patanjali, eine gewisse Identifikation sei immer da, sowie wir anfangen zu denken. Ohne Identifikation gäbe es keine Gedanken und ohne Gedanken keine Identifikation.

Bis jetzt hat Patanjali darüber gesprochen, was Yoga ist und welche Konsequenzen es hat, wenn wir nicht in Nirodhah (keine Gedanken mehr vorhanden) sind. Im Folgenden beschreibt er die verschiedenen Formen von Vrittis   (Gedankenwellen).

5. Vrittayah pañchatayyah klistâklistâh     Zurück zum ersten Kapitel

vrittayah (Mehrzahl von vritti) = Gedankenwellen; pañcatayyah = fünffältig; klistâ = schmerzlich; aklistâh = nicht schmerzlich

Es gibt fünf Arten von Gedankenwellen, von denen einige schmerzvoll sind und einige nicht.

Alle Gedanken sind entweder klistâh, schmerzvoll, oder aklistâh, nicht schmerzlich. Es gibt also keine freudvollen Gedanken. Freude, Ananda, ist nur im Selbst. Die Gedanken an sich sind nicht freudvoll. Wenn Patanjali von Gedanken spricht, beinhaltet das immer auch die Emotion. Vritti ist Gedanke plus Worte, Bilder und Gefühle. Gedanken und Emotionen sind zwei Aspekte von Vritti, die eigentlich nicht so unterschiedlich sind, wie es in der westlichen Psychologie angenommen wird.

Wenn ich zum Beispiel „Baum“ sage oder denke, ist das mit bestimmten Gefühlen verbunden. Wenn ich „Panzer“ sage, fühlt sich das ganz anders an, und „Maikäfer“ gibt wieder einen ganz anderen Eindruck. Es gibt also eigentlich keine Gedanken, die gänzlich vom Gefühl losgelöst sind. Mit Worten und Gedanken kann man Gefühle hervorrufen, die man nicht in Worte fassen kann, aber grundsätzlich sind immer alle drei Aspekte vorhanden. Manchmal weiß man nicht, was zuerst da ist. Man kann Worte sagen oder denken, beispielsweise Affirmationen (Bejahungen, Bestätigungen), das kann zu Bildern und Gefühlen führen. Oder ein Gefühl kommt auf, das bestimmte Bilder erzeugt, die wiederum mit Worten verbunden sind.

Man unterscheidet hier auch verschiedene Menschentypen. Es gibt Menschen, bei denen Worte überwiegen, bei manchen Bilder, für wieder andere sind Gefühle besonders wichtig. Je nachdem fällt es einem leicht, Affirmationen zu wiederholen, logisch nachzudenken (Worte), etwas zu visualisieren (Bilder) oder man kann sich leicht auf das Herz bzw. eine andere Körperregion konzentrieren (Fühlen). Dies merkt man auch im Sprachgebrauch: „Das fühle ich halt, ich kann es nicht in Worte fassen.“, „Siehst du das denn nicht ein?“ „Das klingt gut, oder?“ Bei manchen Menschen haben alle drei Anteile gleiches Gewicht oder auch nur zwei davon.

Alle Meditations-, Entspannungs- und Energielenkungstechniken arbeiten mit diesen drei Anteilen, so dass sie auf alle Menschen wirken. Es gibt zum Beispiel Entspannungstechniken, die mehr über Worte funktionieren („Ich entspanne meine Füße …“), über Bilder (Traumreisen) oder rein über das Fühlen (in die verschiedenen Körperteile hineinfühlen). Die verschiedenen Meditationstechniken arbeiten mit Worten (vor allem Mantras), Bildern-*, sich Shiva, Krishna, das Symbol für Om (unten einige besonders schöne Om-Symbole) oder Yantras (Bilder, Symbole) vorstellen und dem Gespür ins Herz oder in den Punkt zwischen den Augenbrauen hineinfühlen. Meistens macht man Kombinationen, um den Geist als Ganzes anzusprechen.

raja-yoga - konzentration und meditation

All das ist gemeint, wenn man von Vrittis (Gedanken, Worte, Gefühle) spricht. Und weil eben die Gefühle mit eingeschlossen sind, kann man sagen, Gedanken sind entweder schmerzvoll oder nicht. Wenn der Gedanke die Freude des Selbst nicht widerspiegelt, kann er schmerzhaft sein. Ist ein Gedanke schön, erhaben, freudvoll, dann ist er Spiegel unseres eigenen Selbst.

Nagt ein Hund an einem Knochen, der nicht ganz glatt ist, verletzt er sich die Zunge und blutet. Da er Blut liebt, leckt er noch mehr und je länger er leckt, desto besser schmeckt es ihm, weil er immer mehr Blut bekommt. Er denkt, es ist der Knochen, der ihm schmeckt, aber in Wirklichkeit kommt sein Genuss von seiner eigenen Zunge. Ähnlich ist es bei uns. Wir denken, wir erhalten Freude von äußeren Objekten, aber in Wahrheit kommt die Freude nur aus uns selbst heraus.

Ein anderes Beispiel ist die Geschichte von der Frau, die einen wertvollen Ring von ihrem Mann geschenkt bekommt, den sie sich schon lange gewünscht hat und der ihr immer besonders gut gefallen hat. Warum ist die Frau in dem Moment glücklich, wo sie das Geschenk auspackt und den Ring sieht? Nicht wegen des Rings an sich – sonst bräuchte sie künftig nur noch den Ring zu tragen und ihn anzuschauen, um immer glücklich zu sein.

Auch nicht, weil der Mann, an sie gedacht hat („Er liebt mich doch…!“), denn sonst bräuchte sie ja nur immer mit ihm zusammenzusein. Natürlich ist sie auch darüber glücklich, denn es nimmt ihre Ängste und befriedigt ihr Bedürfnis nach Liebe. Aber das allein ist es nicht. In Wirklichkeit ist sie glücklich, weil ihr Wunsch erfüllt ist. Und weil ein großer Wunsch erfüllt ist, sind im Moment keine anderen Wünsche da und sie kommt zur Ruhe. Die anderen Vrittis kommen weitgehend zum Stillstand, so dass die Freude des wahren Selbst durchscheinen kann. Weil wenig Gedanken da sind, strahlt das Glück des Selbst heraus. Und das Selbst ist Sat-Chit-Ananda, Sein, Wissen und Glückseligkeit, wobei in Ananda (Wonne) immer auch Prema (Liebe) enthalten ist.

Man kommt mit einer gewissen Zusammensetzung der Vrittis, mit einem bestimmten Temperament, zur Welt, aber man kann daran arbeiten, das zu verändern. Das Grundtemperament kann man schon beim Baby erkennen. Gewisse Dinge sind angeboren und vieles wird durch Erziehung und Erfahrung geprägt. Und nicht nur dieses Leben, sondern auch frühere Leben haben uns geprägt. Aber im Raja Yoga wollen wir etwas verändern. Man muss nur wissen, dass bestimmte Veränderungen länger dauern. Manches geht sehr schnell, wenn im früheren Leben schon etwas in dieser Richtung vorhanden war und nur noch Karma aus früheren Leben abzuarbeiten war. Diese Phase kann durchaus auch Jahrzehnte dauern. Kommt man dann wieder ins Yoga hinein, können Veränderungen sehr schnell und sehr gründlich eintreten. Oder der Fortschritt ist etwas bedächtiger, nicht in so großen Schritten, je nachdem, was man im früheren Leben war und gemacht hat.

6. Pramâna–viparyaya–vikalpa–nidrâ–smritayah     Zurück zum ersten Kapitel

pramâna = rechtes Wissen; viparyaya = falsches Wissen; vikalpa = Einbildung, falsche Vorstellung, „Wortirrtum“; nidrâ = Schlaf; smritayah = Erinnerung

Die fünf Arten von Gedankenwellen sind korrektes Wissen, irriges Verstehen, Wortirrtum, Schlaf und Erinnerung.

Jetzt spricht er über die fünf Arten von Gedankenwellen, die es gibt, eben das richtige Wissen, falsches Wissen, Einbildung oder Wortirrtum, Schlaf und Erinnerung.

Wortirrtum bedeutet, dass der Geist beispielsweise Lob, Tadel und einfache Affirmationen (Bestätigungen), die in der Wirklichkeit gar keine Korrelate haben, ernst nimmt.

Aus der Erinnerung kommen Gedanken und auch der Schlaf gilt als Gedankenwelle. Wenn das nicht so wäre, wären wir im Schlaf in Nirodhah, im gedankenlosen Zustand der Selbstverwirklichung. Aber das würde nicht viel bringen, denn nachdem wir geschlafen haben, fühlen wir uns zwar ausgeruht, aber wir wissen genauso wenig wie vorher. Durch Schlafen selbst erreichen wir keine Befreiung, keine Erlösung.

7. Pratyakshânumânâgamâh pramânâni     Zurück zum ersten Kapitel

pratyaksha = direkte Kenntnis; anumâna = Folgerung; âgama = Zeugnis; pramânâni = bezeugte Tatsachen

Direkte Wahrnehmung, Folgerung und kompetente Zeugenaussage sind Beweise korrekten Wissens.

Schauen wir zuerst das korrekte Wissen an. Dazu will ich zuerst nochmals auf die Theorie des Geistes in seinen vier verschiedenen Aspekten eingehen.

Der Geist als Ganzes wird als Antarkarana bezeichnet, als inneres Instrument. (Karana = Werkzeug, Instrument, Ursache; Antar = innen), im Unterschied zum Bahirkarana, dem äußeren Instrument. Das ist der Körper. Beide sind nicht unser Selbst, sondern nur Instrumente – sehr wertvolle Instrumente, aber eben nur Instrumente; wir sind nicht der Körper und nicht der Geist. Das muss man sich immer wieder vor Augen führen im täglichen Leben. Körper und Geist sind meine Instrumente, um mich auszudrücken, um Erfahrung zu sammeln, um die göttliche Energie durchzulassen und zu erfahren.

Das Antarkarana (der Geist, das innere Instrument) besteht aus vier verschiedenen Teilen:

1. Chitta im engeren Sinne bezieht sich nur auf das Unterbewusstsein. In einem weiteren Sinn ist Chitta der ganze Geist, entspricht also dem Antarkarana. In „Yogash Chitta Vritti Nirodhah“ = „Yoga ist das Zur-Ruhe-Kommen der Gedanken im Geist“ ist mit Chitta der gesamte Geistkomplex gemeint. Aber im Zusammenhang mit dem Antarkarana-Modell steht Chitta nur für das Unterbewusstsein.

2. Manas ist das Denkprinzip an sich.

3. Buddhi ist sehr schwer zu übersetzen, am ehesten mit Vernunft.

4. Ahamkara ist das Ego, die Ursache des „Ich bin“, der Identifikation.

Unser normales Wissen ist geprägt durch diese vier Bestandteile des Geistes.

Die Sinnesorgane oder Organe des Wissens, die Jnana Indriyas, wirken durch Sinneswahrnehmungen auf Manas ein.

Man sieht etwas, Schwingungen kommen auf die Augen, die Pupille dreht alles um, verkleinert es, projiziert es auf die Netzhaut, in der Netzhaut wird es umgewandelt, dann im Manas in elektrische Ströme umgesetzt, diese werden durch den Sehnerv auf das Gehirn projiziert, dann entstehen im Sehnerv nochmals andere elektrische Ströme, die im Manas in ein Bild umgewandelt werden. Wie der Prozess, durch den diese elektrischen Impulse als Bild wahrgenommen werden, genau abläuft, kann die moderne Wahrnehmungspsychologie bis heute nicht erklären. Yogis würden sagen, das geschieht auch nicht mehr im physischen Körper, sondern im Astralkörper, denn Bilder spielen sich auf der Astralebene ab.

Anschließend geht Manas ins Unterbewusstsein und fragt: „Was ist das?“ Chitta, das Unterbewusstsein bringt alle möglichen Vorstellungen hoch, die dem Gesehenen entsprechen könnten. Dann tritt Buddhi (Vernunft) in Aktion und sagt: „Ja, das ist dieses oder jenes bzw. dies könnte es sein.“ oder „Nicht genügend Information.“ Dann kommt das Ahamkara, das Ego und sagt: „Ich weiß, das ist DAS“. Man identifiziert sich damit und wenn wir darin bestätigt werden, sind wir erfreut.

Es kann aber auch falsch sein, denn die Sinne können uns täuschen, wie wir das zum Beispiel von optischen Täuschungen her kennen:

Der rechte Strich sieht jetzt länger aus. Da wir aber wissen, dass die Striche genau gleich lang sind, wird unser Buddhi, die Vernunft, in diesem Fall sagen, das kann nicht sein, beide Striche müssen gleich lang sein. Ein anderes Beispiel ist die Perspektive in der Malerei.

Unser Wissen kann uns täuschen, nicht nur durch die Sinneswahrnehmungen, sondern auch durch die Interpretationen, die wir hineinlegen. Menschen interpretieren ununterbrochen. Wenn zum Beispiel jemand einmal nachdenklich ist und deshalb nicht grüßt, denkt man sofort: „Er hat etwas gegen mich, was habe ich falsch gemacht?“ usw. Oder jemand hat sich über irgendetwas geärgert und viele Menschen beziehen das sofort auf sich, interpretieren den Gesichtsausdruck, den Ton etc.

Jemand ist vielleicht gestresst und daher im Moment für unsere Begriffe nicht freundlich genug und sofort haben wir das Gefühl, er spiele Machtspielchen oder so ähnlich. Das kommt, wenn man alles auf sich selbst bezieht und hängt auch mit dem eigenen Selbstbewusstsein, dem Selbstwertgefühl und dem eigenen Gemütszustand zusammen. Das Ego braucht Bestätigung. Wenn es sehr schwach ist, sucht es ständig im Äußeren Bestätigung. Wenn es diese Bestätigung nicht findet, fühlt es sich unsicher. Man kann jetzt natürlich daran arbeiten, sein Selbstwertgefühl zu stärken. Eine andere Möglichkeit ist weiterzugehen und zu versuchen, die Verbindung zu Gott oder zum eigenen Selbst aufzubauen. Dann können wir lernen, gleichmütig zu bleiben, auch wenn die Dinge äußerlich gerade nicht so schön sind oder nicht optimal laufen. Gott ist immer gleich und beständig.

Wir müssen uns immer bewusst machen, dass unser Geist uns täuscht. Swami Vishnu hat gerne gesagt: „Never trust your mind“ (Traue nie deinem Geist!) oder „Mind your mind“ (Achte auf deinen Geist!). Oft hält man einen auftauchenden Gedanken zu schnell für richtig. Von vielen Menschen in der spirituellen Szene hört man häufig, man müsse auf die innere Stimme hören – was in der Tat sehr wichtig ist. Aber man muss aufpassen, denn diese innere Stimme kann einen auch täuschen. Wenn sie rein ist, ist sie das Richtige. Sie kann jedoch auch falsch interpretiert oder mit einer Emotion verwechselt werden. Das ist nicht so leicht auseinander zu halten.

Beim korrekten Wissen können wir drei verschiedene Formen unterscheiden:

Die direkte Wahrnehmung durch die Jnana Indriyas, die Sinnes- und Wahrnehmungsorgane, Schlussfolgerung über den Intellekt und kompetente Zeugenaussage; das heißt, wir erfahren bzw. lernen etwas von jemand anderem.

Aus welcher dieser drei Quellen stammt wohl der größte Teil unseres Wissens?

Der größte Teil unseres Wissens stammt aus Zeugenaussagen, die man zwar noch nachzuvollziehen versucht, aber vieles übernimmt man aus zweiter Hand, ohne es selbst wirklich nachzuprüfen oder auch nachprüfen zu können. Woher wissen wir zum Beispiel, dass die Erde rund ist, wie viel Einwohner unser Wohnort oder unser Land hat, wie der Körper funktioniert, wie das Herz genau arbeitet usw.? Wir haben es irgendwo gehört oder gelesen, versucht, es durch Wahrnehmung und logische Schlussfolgerung nachzuvollziehen, aber selbst um die Erde geflogen sind wir nicht und haben auch nicht selbst den Brustkorb aufgeschnitten und versucht, das Herz zu untersuchen – und selbst wenn, wäre die Erkenntnis wahrscheinlich nicht sehr brauchbar.

Zeugenaussagen können natürlich auch eine Quelle inkorrekten Wissens sein. Ebenso kann unsere Schlussfolgerung falsch sein. Man kann auf falsche Weise intellektuelle Schlüsse ziehen oder man kann jemandem trauen, der etwas Unwahres sagt.

Und gerade auf dem spirituellen Weg erfahren wir vor allem Anfang das meiste durch Zeugen, also von spirituellen Meistern, deren Schülern oder aus Büchern. Aus logischer Schlussfolgerung oder direkter Wahrnehmung herauszubekommen, wie die Asanas (Yogastellungen) gehen, ist nicht möglich. Dazu müsste man schon selbstverwirklicht sein, so dass sie von alleine aus einem herauskommen. Aber im Normalfall geht man in eine Yogastunde und bekommt die Asanas erklärt, in welcher Reihenfolge sie zu üben, wie lange sie zu halten sind und worauf zu achten ist – und das ist zunächst einmal eine Zeugenaussage und Beobachtung. Dann übt man selbst und das führt natürlich zu eigener Erfahrung, so dass eine direkte Wahrnehmung hinzukommt. Man stellt fest: „Das tut mir gut“. Und dann kommt vielleicht noch die Schlussfolgerung dazu: „Das tut mir gut, also muss der Yogalehrer irgendwie Recht haben und in Ordnung sein“.

Den größten Teil des Wissens auf dem spirituellen Weg bekommen wir von großen Meistern und manchmal auch von weniger großen Meistern, also über kompetente Zeugenaussagen. Dabei muss man besonders aufpassen, wem man traut. Das ist einer der Gründe, warum Spiritualität manchmal in die Kategorie von Sekten gebracht wird. Es gibt genügend Leute, die das Vertrauen der Schüler ausnutzen und missbrauchen – man denke zum Beispiel an die Massenselbstmorde einiger Gemeinschaften in Amerika oder die Giftgas-Anschläge auf die Bevölkerung in Japan in jüngster Vergangenheit. Diese Leute sind von ihren Ideen überzeugt.

Ob der Meister jeweils davon überzeugt ist, weiß man nicht. Er kann bewusst verführen oder eine Wahrnehmungsverzerrung haben. Und weil es schon immer Pseudomeister gegeben hat, geben die Yogis Kriterien an, die man prüfen und beachten muss, bevor man einen Meister annimmt. Und je höher der Anspruch des Meisters – also wenn er von sich sagt, er sei selbstverwirklicht –, desto höher muss man die Messlatte anlegen. Umgekehrt, wenn ein Meister die Selbstverwirklichung erreicht hat, dann verlangt er von seinen Schülern mit Recht bedingungslosen Gehorsam. Wenn er sich dagegen selbst auch nur als einfacher Aspirant auf dem Weg bezeichnet, kann man ihm einige Fehler durchgehen lassen. Dabei muss der Schüler auch immer überlegen, was von dem Gesagten tatsächlich Weisheit und was auf Unvollkommenheit und menschlichen Irrtum des Lehrers zurückzuführen ist.

In jedem Fall, auch bei den großen Meistern, muss man die Prüfungen anwenden. Bei einem selbstverwirklichten Meister muss man zuerst überlegen, ob er tatsächlich selbstverwirklicht ist. Man weiß es zwar nie ganz genau, denn es heißt „It takes one to know one“, man muss also selbst verwirklicht sein, um zu erkennen, ob jemand anderes dies ebenfalls ist. Trotzdem gibt es einige Indizien, an denen man erkennen kann, ob jemand weiterentwickelt ist oder nicht. Das ist Aufgabe der Buddhi (Vernunft). Man darf das Herz nicht zu früh sprechen lassen, sondern muss erst ein paar kritische Fragen stellen:

Erstens, der Lehrer muss sich auf alte Schriften beziehen, die man auch selbst nachlesen kann – nicht irgendwelche obskuren Schriften, die er angeblich irgendwo in einer Höhle gefunden hat und die leider niemandem zugänglich sind. Viele der Bestseller auf dem spirituellen Markt in letzter Zeit haben solche Hintergründe. Die „Fünf Tibeter“ zum Beispiel sind gute, wirkungsvolle Übungen, aber der Hintergrund ist mysteriös und beruht höchstwahrscheinlich nicht auf alten Quellen. Oder die „Prophezeiungen der Celestine“, von denen der Autor von sich aus sagt, sie seien frei erfunden.

Aber es sind schöne Geschichten und manche Menschen werden dadurch auf den spirituellen Weg gebracht oder fangen an, ein bisschen tiefer zu gehen. Aber wenn jemand nicht nur solche Bücher schreibt, sondern uns direkt leiten will, dann müsste er konkreter werden. Wenn ein Lehrer sagt: „Gestern ist mir Krishna erschienen und hat gesagt, die Bhagavad Gita und die Upanishaden waren nur für das frühere Zeitalter, er verkündet jetzt das neue Evangelium“ – dann rennt lieber weg!

Also, man muss prüfen, auf welche Schriften sich das Ganze bezieht. Denn es gibt eigentlich nichts Neues auf dieser Erde. Der Fortschrittsglaube, der Gedanke, wir seien sehr viel klüger als unsere Eltern, die Eltern wieder klüger als unsere Großeltern und die Großeltern wieder erheblich klüger als die Urgroßeltern, ist einer der Irrtümer unserer westlichen Zivilisation. Die westliche Psychologie hat vielleicht noch ein paar Sachen entdeckt, die uns die Grundlagen der Spiritualität etwas erklären können, aber sobald es zu tiefer Spiritualität kommt, hat sie gegenüber Patanjali, Buddha, den Upanishaden oder den altchristlichen Meistern nichts Neues zu bieten.

Die zweite Prüfung bezieht sich auf das ethische Verhalten. Wenn ein Meister toleriert, dass jemand umgebracht wird, dann sollte man ihm nicht trauen! Man sollte sein ethisches Verhalten, die Einhaltung von Yamas (Yamas =  1. Gewaltlosigkeit, 2. Ehrlichkeit, 3. Nicht-Stehlen, 4. Keuschheit 5. Nicht-Begehren) und Nyamas (Nyamas  = 1. innere und äußere Reinheit, 2. Zufriedenheit, 3. Meditation, 4. Studium der Schriften 5. Hingabe an den Herrn), Nichtverletzen, Achtung der  Menschenwürde und Menschenrechte prüfen.

Jemandem, der oder die beispielsweise behauptet, man könne nur von Energie leben und deshalb die Menschen anleitet, wochenlang nichts zu essen und zu trinken und niemanden um Rat zu fragen, sollte man meines Erachtens nicht folgen. Ich spreche selten gegen jemanden, aber solche Lehren halte ich für sehr gefährlich. Es gibt viele Menschen, die diesem Programm gefolgt sind und bleibende Nieren- und andere gesundheitliche Schäden davongetragen haben. Natürlich fasziniert eine solche Botschaft die Menschen, gerade in unserer essgestörten Gesellschaft, wo man sich entweder überisst oder versucht abzunehmen. Die Hälfte aller Titelgeschichten in Zeitschriften handelt vom Essverhalten bzw. vom Abnehmen!

Es gibt natürlich auch Menschen, die unter ärztlicher Aufsicht länger nichts gegessen haben, zum Beispiel Theresa von Konnersreut, die zwei Jahre lang nur eine Hostie am Tag gegessen hat. Davon kann man eigentlich nicht leben. Solche Dinge gibt es durchaus, aber sie sind auf dem spirituellen Weg nicht übermäßig wichtig. Viele Menschen finden solche Sachen viel zu toll. Ob man jetzt isst oder nicht, was hat das für eine Bedeutung für den spirituellen Weg? Das ist wie mit den Siddhis, den übernatürlichen Kräften. Jemand, der wirklich weit fortgeschritten ist, wird kein echtes Interesse an ihnen haben.

Einiges geschieht dann einfach von selbst. Aber es geht nur darum, dass wir uns mit unserem Selbst identifizieren und nicht mit dem Körper, dass wir unser Instrument reinigen, es zum Werkzeug des Göttlichen machen und im Normalfall essen wir. Ramakrishna wurde einmal von einem Mönch berichtet, der irgendwo auf einem Gletscher ohne Kleidung hause und allein über seine Körperwärme die Umgebung zum Schmelzen bringe, sich so sein Wasser beschaffe usw.

Ramakrishna meinte dazu: „Was für eine Verschwendung! Wenn er weiter unten leben und seine Energie in die Meditation stecken würde, statt Gletscher zu schmelzen, dann könnte er schon verwirklicht sein!“ Auch von Anandamahi Ma heißt es, sie habe ein halbes Jahr nichts gegessen. Sie hat auch nicht abgenommen dabei – so steht es mindestens in ihrer Biographie. Das hatte sich mehr oder weniger zufällig ergeben. Sie hat sich halt einfach nicht ums Essen gekümmert, es war niemand da, der ihr Essen gemacht hätte, und so geschah es, dass sie eine Weile nichts gegessen hat. Bis es irgendwann einmal jemandem aufgefallen ist, dass sie nicht isst. Dann hat man ihr etwas gegeben und sie hat eben wieder angefangen zu essen.

Das dritte Kriterium ist, ob der Meister selbst praktiziert, was er predigt. Manchmal üben Meister andere Praktiken als die Schüler, aber sie sollten für sich selbst nicht zu viele Ausnahmen machen.

Viertens, er sollte grundsätzlich ein einfaches Leben führen. Wenn der Meister in Luxus lebt und die Schüler am Hungertuch nagen, dann stimmt auch irgendetwas nicht dabei.

Und schließlich ist die kompetente Zeugenaussage wichtig. Der Lehrer muss dem Schüler klar sagen, dass er nicht die Arbeit für ihn tun kann, sondern dass er selbst praktizieren muss. Ein Lehrer, der sagt: „Ich mache alles für dich, du brauchst nichts zu tun.“, ist unglaubwürdig. Es gibt Lehrer, die behaupten: „Du brauchst nur bei mir zu sein, ich erwecke dir die Kundalini, alles andere geschieht von selbst.“ Allerdings darf man hier auch nicht nur nach dem ersten Eindruck urteilen, sondern muss unterscheiden, was zunächst einmal plakativ gesagt wird. Um Menschen ansprechen zu können, muss man letztlich vereinfachen, man kann nicht alles in die erste Information hineinschreiben. Jeder kann selbst beurteilen, wie sich die Leute entwickelt haben, die eine Weile bei einer Organisation oder einem Meister gewesen sind und kann sich überlegen, ob das die Richtung ist, in die er sich selbst auch entwickeln möchte

Swami Sivananda hat humorvoll den „SB 40“–Test empfohlen, um einen selbstverwirklichten Meister zu prüfen. „SB“ für „shoe beating“ und „40“ für 40 Mal. Wenn jemand von sich sagt, „Ich bin ein großer Meister“, dann soll man einen alten Schuh nehmen und ihn 40 Mal damit schlagen – nicht zu stark, aber schon merkbar! Wenn er dann immer noch lächelt und sagt, „Ich bin ein selbstverwirklichter Meister“, dann ist er es tatsächlich.

Swami Vishnu hat immer, wenn er uns das erzählte, hinzugefügt: „Aber ich bin kein selbstverwirklichter Meister!“. Aber bei Swami Sivananda sind solche Dinge passiert, wie die Geschichte, dass jemand ihn im Ashram beinahe mit einer Axt ermordet hätte. Das erste, was er sagte, war: „Vishnu Swami, mäßige deinen Zorn!“ Seine erste Sorge war also, dass dem, der ihn fast umgebracht hätte, kein Leid geschieht und dass Swami Vishnu sich beherrschen sollte. Und das ist tatsächlich eine ganz natürliche Reaktion für einen selbstverwirklichten Meister, weil das Bewusstsein sich bereits so verändert hat. Man spürt dann wirklich das ganze Selbst überall und wenn jemand versucht, einen umzubringen, dann empfindet man das nicht als weiter tragisch. Wichtig ist, dass dem anderen Menschen kein Leid zugefügt wird. Und auf solche Indizien muss man eben achten; dann kann man sicher sein, eine kompetente Zeugenaussage zu erhalten.

All das muss man beachten und prüfen, weil eben auf dem spirituellen Weg vor allem am Anfang viel auf Vertrauen basiert. Je niedriger der Anspruch, desto mehr kann man durchgehen lassen, aber man muss immer noch darauf achten, dass es authentisch ist.

Eine andere Quelle des Wissens ist die direkte Wahrnehmung. Es gibt drei Arten der direkten Wahrnehmung:

· Die sinnliche Wahrnehmung über die Jnana Indriyas, die Sinnesorgane: Sehen, Hören, Riechen, Schmecken, Fühlen. Sie können zu Sinnestäuschungen führen oder auch zu Fehlinterpretationen.

· Die unterbewusste oder instinktive Intuition, d. h., irgendwelche Ahnungen oder Gefühle.

Diese Ahnungen und Gefühle können echt sein, sie können aber auch täuschen, wenn sie gefärbt oder gefiltert sind.

In einer unserer Yogalehrer-Ausbildungen hatte zum Beispiel einmal eine Teilnehmerin das Gefühl, ihre Kinder, die mit dem Vater in den Ferien waren, bräuchten sie dringend. Daraufhin hat sie die Ausbildung abgebrochen und ist zu der Familie in die Ferien gefahren. Die Kinder waren total enttäuscht, weil die Mutter nun wieder wie eine Glucke auftauchte, während sie gerade dabei waren, endlich einmal eine direkte, unkomplizierte Beziehung zum Vater aufzubauen!

Auf der Ebene des Unterbewusstseins sind wir nicht auf die sinnliche Wahrnehmung angewiesen. Wir können Gedanken wahrnehmen, in die Vergangenheit und in die Zukunft gehen.

· Daneben gibt es auch noch eine höhere Form der Intuition, nämlich die überbewusste Intuition, die wirklich aus dem Atman, dem Selbst, kommt.

Sie kann auch vom Guru kommen oder in Form einer Vision von einem großen Meister, der einem klar sagt, was zu tun ist. Vielleicht hat man auch die Vision einer Manifestation Gottes wie Jesus, Krishna oder Shiva. Oder man spürt einfach: Das ist meine Aufgabe, so ist es.

Diese überbewusste Intuition kommt dann, wenn Buddhi (Vernunft) und Ahamkara (Ego) zur Ruhe kommen. Eine überbewusste Intuition erkennen wir im Gegensatz zu einer Ahnung daran, dass sie uns zu unserem eigenen Selbst bringt, uns für unser eigenes Selbst öffnet. Und das Selbst, der Atman, ist Sat-Chit-Ananda, Sein, Wissen und Glückseligkeit.

Überbewusste Intuition ist immer verbunden 1. mit einem Gefühl der Ausdehnung, der Unendlichkeit und der Verbundenheit als einem Aspekt des reinen Seins (Sat), 2. mit reinem Wissen (Chit), das man vorher nicht hatte und das kein intellektuelles, sondern intuitives, direktes Wissen ist, und 3. schließlich mit Wonne, Liebe, Licht, auch mit Kraft und Energie (Ananda).

Es kann sein, dass das eine oder andere Gefühl stärker ausgeprägt ist, aber im Prinzip sollte von allen dreien etwas dabei sein; dann ist es umso weniger vom Unterbewusstsein gefiltert. Wenn nur ein Aspekt stark fühlbar ist, dann ist es vielleicht schon gefiltert und nicht ganz klar. Dann ist es eher eine instinktive Intuition. Wenn wir eine solche überbewusste Intuition haben, sollten wir ihr folgen. Wir müssen nur aufpassen, wie wir sie interpretieren. Auch wenn wir wissen, was wir machen sollen, ist noch längst nicht klar, auf welche Weise. Und es heißt auch nicht, dass diese Intuition dann alles für uns macht. Um sie umzusetzen, muss man anschließend seinen Verstand und seine Fähigkeiten benutzen.

Als ich zum Beispiel vor etwa neun Jahren gerade die Sivananda Yoga Zentren verlassen hatte und mich im Sivananda-Ashram in Rishikesh aufhielt, wusste ich nicht so recht, was ich mit dem Rest meines Lebens anfangen sollte. Ich hatte dann eine Vision von Swami Sivananda, in der er mir klar gesagt hat, ich solle nach Deutschland zurückkehren, in Frankfurt ein Yogazentrum eröffnen, in fünf Jahren werde es einen Ashram geben und dann würde sich auch noch einiges anderes entwickeln.

Ich war vorher jahrelang in Amerika gewesen und wollte eigentlich nicht mehr nach Deutschland zurück. Aber nach dieser Vision hatte ich keine Wahl. Wenn Swami Sivananda mir das sagt, dann mache ich es natürlich. Gut, die Vision war klar. Aber als ich dann nach Frankfurt kam, war es bei weitem nicht so, dass alles von selbst gegangen wäre.

Man musste mit Maklern Kontakt aufnehmen, verschiedene Objekte anschauen, Mietverträge abschließen, nach einem halben Jahr waren alle Finanzreserven erschöpft. Aber Schritt für Schritt ging es dann doch voran und etwa fünf Jahre später entstand dann tatsächlich der Ashram hier. Aber auch das kam nicht von selbst, sondern es kam auch wieder diese Intuition, jetzt ist es Zeit, sich um einen Ashram zu kümmern. Dann muss wieder der Intellekt arbeiten und alles in die Wege leiten. Es reicht nicht aus, nur eine solche Wahrnehmung zu haben, sondern es müssen Taten folgen. Aber man kann loslassen, beten und bekommt dann Führung auch bei der praktischen Umsetzung.

Temple, der in Amerika die alten Mythen durch eine eigene, sehr populäre Fernsehsendung wieder salonfähig gemacht hat, sagt: „Follow your bliss“, also, folge dem, was ein Gefühl der Freude und Wonne in dir auslöst.

Wenn wir auf dem Weg fortschreiten, nimmt diese höhere Intuition irgendwann den Hauptstellenwert ein, wie wir Entscheidungen treffen. Swami Vishnu hatte sehr viele solcher Eingebungen und hat danach gehandelt. Manchmal kam es dabei auch zu Fehlschlägen. Also selbst bei jemand wie ihm ist das nicht immer ganz sicher. Wobei man nicht sagen kann, ob er wirklich danebengelegen hat oder ob es ihn nur zu einer bestimmten Erfahrung führen sollte und uns alle damit auch. Aber er hatte auch keine Schwierigkeiten, sofort loszulassen, wenn er gemerkt hat, dass etwas nicht geht. Und dann kam bald die nächste Geschichte! Aber er hat eben dadurch, dass er der Intuition gefolgt ist und ihr vertraut hat, immer mehr Zugang zum Göttlichen bekommen.

Die direkte Wahrnehmung umfasst also die sinnliche Wahrnehmung, die instinktive (unterbewusste) und die überbewusste Intuition. An späterer Stelle, im 3. Kapitel der Yoga Sutras, sagt Patanjali, nur die unmittelbare Wahrnehmung aus der Intuition heraus ohne den Umweg über die Sinne ist die eigentliche, richtige direkte Wahrnehmung. Jede Sinneswahrnehmung ist eigentlich irriges Verstehen, birgt Fehlerquellen in sich. Wir können die Wahrheit nicht über Sinne wahrnehmen, auch nicht über das Denken. Selbst wenn uns Meister davon erzählen, verstehen wir es immer noch nicht. Es braucht die direkte Wahrnehmung, Pratyaksha, und die eigene, unmittelbare Erfahrung der Wahrheit. Wahrnehmung im überbewussten Zustand, in Sarvikalpa Samadhi, unter Ausschaltung der Sinne und Gedanken, lässt uns die Wirklichkeit direkt wahrnehmen.

In Manas (Denkprinzip) werden die einfachen Gedanken widergespiegelt. Intuition kommt dann, wenn Ahamkara (Egoismus) und Buddhi (Vernunft) durchlässig sind. Ein Ziel muss also sein, unser Ego auszudünnen. Und auch unser Intellekt muss mal Ruhe geben, denn im Grunde genommen steht er uns im Weg – wie auch das Chitta (Unterbewusstsein) – , wenn wir zu Atman, unserem Selbst, kommen wollen. Nur dann kann wahrhafte Intuition oder direkte Wahrnehmung der Wirklichkeit entstehen.

Aber die Buddhi (Vernunft) hat auch wichtige Funktionen.

Als niedrige Buddhi hilft uns der praktische Intellekt bei der Bewältigung unserer Alltagsaufgaben. Wenn wir zum Beispiel ein Bild aufhängen wollen, müssen wir überlegen, wie wir das am besten machen: Aus was für einem Material besteht die Wand, kann ich einfach einen Nagel einschlagen oder brauche ich eine Bohrmaschine oder Spezialnägel, wen könnte ich fragen, wo bekomme ich die nötigen Werkzeuge und Hilfsmittel usw. Man benutzt also das logische Denken, um etwas zu erreichen. Die meisten Menschen benutzen ihren Intellekt nur dafür. Wenn sie etwas haben wollen, wird der Intellekt in Bewegung gesetzt, um es zu bekommen.

Aber der höhere Intellekt ist ein anderer, nämlich Viveka, die Unterscheidungskraft. Sie ist sehr wichtig auf dem spirituellen Weg. Viveka gibt es auf verschiedenen Ebenen: zum einen die grundlegende Unterscheidungkraft zwischen dem Wirklichen und dem Unwirklichen, dem Ewigen und dem Vergänglichen, zwischen dem, was uns glücklich macht und dem, was uns Leid bringt. Was ist wirklich wichtig angesichts der Tatsache, dass wir irgendwann diesen physischen Körper verlassen? Was macht mich wirklich glücklich? Manche Menschen laufen ihr Leben lang hinter dem Glück her, ohne nachzudenken. Ein Yogi denkt zuerst nach und begibt sich dann auf die Suche. Dazu benutzen wir die Unterscheidungskraft der Buddhi (Vernunft). Sie ist auch dazu da, die anderen Quellen der Wahrnehmung zu überprüfen. Und, wie bereits erwähnt, setzen wir die Unterscheidungskraft ein, ehe wir uns einem Meister anvertrauen.

Wenn wir schließlich einen Meister gefunden haben, der vollkommen ist, müssen wir bei allem, was er sagt, überlegen und unterscheiden lernen, was es überhaupt bedeutet. Manchmal interpretiert man auch zu viel in eine Aussage oder eine Handlung hinein. Swami Vishnu hat gerne die Geschichte erzählt, wo ein Meister zum Baden an den Fluss ging. Um seine Kleider vor den vielen Affen, die dort waren, zu schützen, machte er einen Sandhügel darüber. Kurz danach kamen seine Schüler ebenfalls zum Fluss. Sie hatten nicht gesehen, dass der Meister seine Kleider vergraben hatte. Sie sahen nur den Sandhügel und hielten dies für eine besondere rituelle Handlung. Also gingen auch sie alle hin und bauten Sandhügel. Als der Meister nach seinem Bad aus dem Fluss kam, dauerte es eine ganze Weile, bis er den richtigen Hügel mit seinen Kleidern wiedergefunden hatte ….

Ist der Meister nicht ganz so perfekt, müssen wir unsere Unterscheidungskraft einsetzen, um zu beurteilen, was von dem, was er tut und lehrt, tatsächlich eine Manifestation von Weisheit ist und was einfach nur menschliche Unzulänglichkeiten sind, die er noch hat.

Auch bei einer höheren Erfahrung, einer Intuition, Inspiration oder Vision, müssen wir mit unserer Unterscheidungskraft nochmals überlegen, ist es tatsächlich eine Intuition oder einfach nur eine Emotion, was hat es zu bedeuten und wie setze ich es im richtigen Sinn am besten um.

Der Intellekt spielt also immer eine große Rolle. Er kann uns aber auch in die Irre führen.

Wie zum Beispiel im 2. Kapitel der Bhagavad Gita, wo Arjuna Krishna genau erklärt, warum er nicht kämpfen sollte und nicht kämpfen will. Gleichzeitig ist er aber trotzdem nicht sicher und sagt zu Krishna: „Oh Krishna, bitte, ich weiß nicht, was richtig und was meine Pflicht ist. Nimm mich an, der ich mich dir hingebe. Nimm mich als Schüler an, ich nehme zu dir Zuflucht.“ Aber nachdem er so darum gebeten hat, belehrt und geführt zu werden, sagt er paradoxerweise: „Ich will nicht kämpfen“. Der Schüler geht zum Meister: „Bitte sage mir, was ich tun soll, aber ich mache lieber das …“ – Und Krishna lächelt brutalerweise. Das machen Meister oft. Man kommt ganz verzweifelt zu ihnen und sie lächeln einfach und erzählen einem irgendetwas, aber sie geben in den wenigsten Fällen eine eindeutige Antwort.

Ich kann mich noch an eine große, vielleicht die erste große spirituelle Krise erinnern, die ich hatte. Ich hatte ja recht früh, mit 16 Jahren, angefangen zu meditieren. Mit 17 entdeckte ich das Yoga und habe dann viel praktiziert, die vier Wochen Intensiv-Yogalehrer-Ausbildung gemacht und bin dann in München in das Sivananda Yoga Zentrum eingezogen. Dort habe ich jeden Morgen meditiert, bin meistens schon um vier oder früher aufgestanden und habe vor der Meditation schon zwei Stunden Pranayama gemacht, nach der Meditation nochmals Asanas und Pranayama, tagsüber studiert und Karma Yoga im Zentrum gemacht, d. h., bei Arbeiten im Zentrum mitgeholfen, und abends wieder meditiert.

Es ging mir auch ganz gut, aber irgendwann sagten mir die anderen im Zentrum, ich solle doch mal ein bisschen lockerer werden. Ich bin auch nie mit den anderen zusammen Eis und Pizza essen gegangen – das große Laster in den Sivananda-Zentren. Irgendwann fing ich auch an, zu denken: Ich mache so viel, aber die Selbstverwirklichung lässt auf sich warten und ich spüre weder die Kundalini noch mache ich tiefe Meditationserfahrungen, während andere oft von ihren wunderbaren Erfahrungen erzählten. Vor allem fehlte mir auch die Fähigkeit, meinen Geist zu konzentrieren. Das war für mich ein ganz großes Problem. Schließlich begann ich auch langsam zu zweifeln, ob die Leiterin des Zentrums mich wirklich richtig anleitete und ob das überhaupt der richtige Weg sei, ob ich nicht woanders hingehen sollte, ob ich doch den falschen Meister oder die falsche Richtung gewählt hatte. Im Jahr zuvor war ich bei einem anderen Meister gewesen – das war eigentlich auch ganz schön gewesen. Durgananda, die Leiterin des Zentrums, wusste von meinen Zweifeln und sagte, dass ich Swami Vishnu fragen müsse.

Gut, irgendwann kam dann Swami Vishnu nach München. Er wohnte im Hotel, da das Zentrum voll war, denn wenn er kam, wollten ihn auch sehr viele andere Leute sehen und im Zentrum übernachten, so dass dort kein Platz mehr für ihn war. Es war dann immer so, dass alle zu ihm ins Hotelzimmer gingen und um ihn herumsaßen. Es wurde Satsang (Zusammensein mit Weisen, mit Gleichgesinnten auf dem spirituellen Weg) gehalten, gemeinsam meditiert und gesungen und anschließend fing er an, mit den Teilnehmern zu reden. Da sagte Durgananda zu mir: „So, und jetzt fragst Du ihn!“ Ich war damals ziemlich schüchtern, mein Englisch war auch nicht so überwältigend und ich wagte eigentlich kaum mit Swami Vishnu zu reden – na, ja, jedenfalls habe ich ihm dann meine Probleme in Kurzform geschildert.

Da hat er zuerst einmal gelacht und zu den anderen gesagt: „Hier ist ein Junge, der keinen inneren Frieden findet. Was machen normalerweise Jungen in seinem Alter, wenn sie keinen Frieden finden? Sie gehen in die Disko, rauchen, betrinken sich oder nehmen Drogen (alles Sachen, die ich nie im Leben gemacht habe!), aber er sucht die Lösung im Yoga.“ Zuerst war ich leicht irritiert und habe mich ausgelacht und nicht ernst genommen gefühlt.

Aber dann hat er mir noch gesagt: „Was du machst, ist richtig. Dein Sadhana (spirituelle Praxis) ist ok. Du musst nur Geduld üben“. Dann hat er die Geschichte vom Mangobaum erzählt, der viele Jahre braucht, bis er Früchte trägt und den man nicht zwingen kann, schneller zu wachsen. Aber ich solle alle Praktiken so fortsetzen wie bisher. Vielleicht könnte ich ja einmal in der Woche einen Morgenspaziergang machen statt zu meditieren. Am nächsten Morgen ging ich natürlich gleich hinaus. Es regnete in Strömen, aber dieser Spaziergang, wo ich eine Stunde lang ganz meditativ an der Münchener Pinakothek usw. vorbeigegangen bin, ist mir als ein wunderbares Erlebnis in Erinnerung geblieben!

Das ist eben auch die Kunst, wenn Schüler einen um Rat fragen – und wenn man länger unterrichtet, wird man öfter um Rat gefragt –, dass man zwar Mitgefühl zeigt, aber trotzdem versucht, das Ganze von einer höheren Warte aus zu sehen, um einen übergeordneten Ratschlag geben zu können. Dem anderen ist nicht gedient, wenn man selbst vor lauter Mitgefühl auch traurig und niedergeschlagen wird.

Und so sagt Krishna im 11. Vers des 2. Kapitels der Bhagavad Gita zu Arjuna: „Weise Worte sprichst du, oh Arjuna, doch nicht zu Beklagende beklagst du. Die Weisen klagen nicht um Leben oder Tod der Wesen, denn in Wahrheit waren weder du noch ich noch diese Fürsten jemals nicht, noch werden wir jemals nicht sein in dem, was hierauf folgt.“ Er holt Arjuna aus seiner Froschperspektive heraus, in der er nur die engen Wände des Froschbrunnens sieht. Natürlich sagt er ihm nicht nur: Es ist egal was du machst, es spielt keine Rolle, sondern er erklärt ihm anschließend 16 Kapitel lang, nach welchen Grundsätzen und wie er handeln kann, ohne Verhaftung und ohne Ego. Und ganz zum Schluss sagt er: Es spielt in Wirklichkeit doch keine Rolle, was du machst. Opfere einfach alles nur Gott:

Sarva Dharman Parityajya
Mam Ekam Sharanam Vraja
Aham Tva Sarvapapebhyo
Mokshayishyami Ma Succha

„Gib alle Vorstellungen von Pflichten, von Recht und Unrecht auf.
Nimm bei mir allein Zuflucht.
Ich werde dich von all deinen Sünden (Papa), Fehlern und Schuld befreien.
Sorge dich nicht, ich werde dich zur Befreiung (Moksha) führen.“

Eigentlich ist das ja eine anarchistische Aussage: Du kannst machen was Du willst, es spielt keine Rolle. Opfere einfach alles Gott. Gott wird Dich von allem befreien. Deshalb macht Krishna anschließend sofort die Einschränkung: „Gib das niemandem weiter, dem es nicht darum geht, zu Gott zu kommen, erzähle dies niemandem, der sich nicht bemüht, zur Vollkommenheit zu gelangen und erzähle es niemandem, der sich nicht selbst beherrscht.“ Das gilt nur für Menschen, die sich um Vollkommenheit, Selbstbeherrschung und Hingabe an Gott bemühen. Diese drei Kriterien müssen erfüllt sein, dann können wir irgendwann loslassen, die Entscheidung Gott überlassen und unserem Intellekt eine Pause gönnen.

Bei allen drei Arten der Wissensgewinnung müssen wir aufpassen. Unser Geist führt uns in die Irre. Auch unser logisches Denken kann uns in die Irre führen.

Viele Menschen benutzen ihr logisches Denken nicht, um tatsächlich zu Schlüssen zu kommen, sondern um ihre emotional bedingten Haltungen und Einstellungen zu rechtfertigen. Ein typisches Beispiel sind hypnotische Experimente. Jemand führt eine Handlung aus, die ihm unter Hypnose suggeriert wurde und findet dann im Nachhinein eine logische, rationale Erklärung dafür, warum er das tut. Unser Geist ist oft nicht wirklich rational. Wir benutzen unser logisches Nachdenken selten dazu, wirklich die Wahrheit über die Dinge herauszufinden, sondern eher, um etwas irgendwie rational erscheinen zu lassen, das eigentlich nicht rational ist.

Da wir jetzt einiges über korrektes Wissen gelernt haben, wissen wir natürlich auch das Gegenteil, nämlich was inkorrektes Wissen ist.

8. Viparyayo mithyâ–jñânam atad–rûpa–pratishtham     Zurück zum ersten Kapitel

viparya = irrtümlicher Eindruck; mithyâ = falsch, täuschend; jñânam = Wissen, Auffassung; atad = nicht seiner eigenen; rûpa = wirkliche Form; pratishtham = besitzend, beruhend

Verstehen ist eine falsche Vorstellung einer Idee oder eines Gegenstandes, deren wirkliche Natur nicht zu dieser Vorstellung passt.

9. Shabda–jñânânupâtî–vastu–shûnyo–vikalpah     Zurück zum ersten Kapitel

Shâbda = Wort; jñâna = Wissen; anupâtî = darauffolgend; vastu–shûnyah = ohne Substanz, ohne Bezug zur Wirklichkeit; vikalpah = Einbildung

Wörtliche Täuschung wird verursacht durch Identifikation mit Worten, die in Wirklichkeit keine Grundlage haben.

Vikalpah, wörtliche Täuschung oder Wortirrtum, wie es meist übersetzt wird, ist also neben richtigem und irrigem Verstehen die dritte Form der Gedankenwellen. Eigentlich ist es schwer zu übersetzen. Vikalpah ist etwas, was dem Menschen ganz eigen ist, denn nur der Mensch hat Worte und wird durch Worte sehr stark beeinflusst.

Vikalpah bezieht sich sowohl auf Affirmationen (Bejahung, Bestätigung), Suggestionen, als auch auf Lob und Tadel. Wenn zum Beispiel jemand zu euch sagt: „Du Esel!“, dann hat dies in der Wirklichkeit keine Korrelation. Ihr habt deswegen weder längere Ohren noch ein graues Fell. Ihr könntet jetzt darüber stehen und einfach denken, derjenige, der das sagt, hat seinerseits ein irriges Verständnis. Aber trotzdem beeinflusst es einen irgendwie.

Oder wenn einem jemand sagt: „Das ist nicht richtig gemacht“, dann reagieren wir unsererseits nicht nur mit der neutralen Feststellung: „Aha, der hat gesagt, das ist nicht richtig gemacht“ – denn seine Aussage kann ja entweder korrektes oder irriges Wissen widerspiegeln. Für uns ist es gleichzeitig noch etwas anderes, nämlich Lob oder Tadel. Man ärgert sich darüber oder fühlt sich in Frage gestellt, getadelt – nicht unbedingt in jeder Situation, aber ab und zu passiert es einem schon. Das ist Vikalpah. Wir identifizieren uns mit den Worten. Wir nehmen nicht nur die Worte als solche und überprüfen den Wahrheitsgehalt, sondern wir identifizieren uns mit der Aussage, wir beziehen die Worte auf uns selbst, denn das Ego hat den Wunsch nach Bestätigung.

Es kommt natürlich auch darauf an, wer etwas sagt. Als ich zum Beispiel früher Yoga unterrichtete habe, meinte einmal ein anderer Yogalehrer, die Art und Weise, wie ich die Stunde gebe, sei nicht ganz richtig. Das hat mir wenig ausgemacht. Ich hatte das Gefühl, ich habe mehr Erfahrung, die richtige Lehrerausbildung und er hat nicht bei einem indischen Meister gelernt. Wenn aber die Leiterin des Yoga Zentrums gesagt hat: „Das hast du nicht richtig unterrichtet, so kann man das nicht machen.“, dann war das für mich wie ein Stich ins Herz. Und als mich Swami Vishnu einmal kritisiert hat, da war es wie ein Stich ins Herz und das Messer noch einmal herumgedreht.

Man muss nicht nur von Tadel, sondern auch von Lob unabhängig werden.

Kennt ihr das Gabelstaplerprinzip?  Einen Menschen hochheben, um ihn dahin zu bringen, wo man ihn haben will. Wenn ihr jemanden zu etwas motivieren wollt, ist die beste Methode, ihn mehrmals zu loben. Das kann man als positive Bestätigung auch durchaus benutzen, aber man sollte es nicht zur Manipulation einsetzen.

Ich habe das einmal im Sivananda-Yoga-Zentrum in Amerika erlebt. In Amerika spielen Kreditkarten im bargeldlosen Zahlungsverkehr eine große Rolle, so wie hier zum Beispiel die Einzugsermächtigung. Um Kreditkarten als Zahlungsmittel annehmen zu können, braucht man dort die Genehmigung seiner Bank, denn letztlich haftet sie dafür, wenn beispielsweise ein Unternehmen in Konkurs geht, aber vorher ein paar Tausend Dollar zu viel von Kreditkarten eingezogen hat.

Ich ging zu unserer Bank, um diese Genehmigung zu beantragen. Die Bank lehnte ab. Ich führte Verhandlungen mit ihnen, sie prüften es noch einmal und lehnten wieder ab. Ich erzählte die Sache einem Yogalehrer im Zentrum, der von Beruf Rechtsanwalt war. Er sagte: „Ich zeige dir, wie man so etwas macht.“ Zuerst hat er Informationen gesammelt und erfahren, dass die Bank einen neuen Direktor bekommen hatte. Dann hat er die Bank angerufen und dem Chef erst einmal Honig um den Mund geschmiert, indem er ihm gesagt hat, er habe gehört, dass dieser jetzt der neue Direktor der Bank sei, die Leute sprächen ja so positiv von ihm, alles sei so viel besser als vorher, der Vorgänger sei ja nicht so gut gewesen, alle hätten sich auf ihn gefreut usw.

Ich bin vor Scham fast in den Boden versunken. Dann hat er so ganz beiläufig erwähnt, dass vor kurzem ein kleiner Irrtum mit der Genehmigung der Kreditkarten für das Yogazentrum passiert sei – das ging aber fast am Rande. Zwei Tage später hatten wir die Bestätigung, dass wir künftig Kreditkarten annehmen können. Anstatt also der natürlichen Reaktion nachzugeben, d. h. zu schimpfen, zu drohen, die Bank zu wechseln etc., erreicht man das Gewünschte ganz leicht durch Loben. Trotzdem habe ich dem Anwalt gesagt: Es ist gut, andere zu loben, aber als Yogi sollte man trotzdem bei der Wahrheit bleiben.

Wenn man für andere etwas zum Guten bewirken will, kann man diese Methode durchaus auch benutzen. Es ist sicher besser, jemanden zu loben und zu versuchen, ihn auf diese Weise in eine bessere Richtung zu bringen, als ihn anzubrüllen oder mit Machtkämpfen zum Ziel zu kommen. Aber wir sollten andere nicht manipulieren und wir sollten auch selbst aufpassen, dass uns niemand manipuliert.

Nun gibt es zwei Möglichkeiten: Wir können unser Selbstwertgefühl aufbauen, dann brauchen wir weniger Lob und werden von Tadel unabhängiger. Oder wir können versuchen, uns immer mehr als Instrument Gottes zu fühlen, dann brauchen wir keine Selbstbestätigung von außen mehr. Wir geben uns Gott hin und spüren, nicht ich handle, sondern Gott handelt durch mich. Das macht einen unabhängiger und ist meiner Meinung nach der einfachere Weg. Das ist ein Aspekt von Vikalpah, Wortirrtum oder Einbildung.

Der zweite Aspekt von Vikalpah ist, dass wir nicht nur in der einfachen Dimension von Lob und Tadel sehr stark durch Worte beeinflusst werden, sondern ganz generell durch alles, was Menschen sagen. Dieses Phänomen macht sich auch die Werbung zunutze. Werbung ist ja nicht logisch, sondern suggestiv; zum Beispiel „Der Geschmack von Freiheit und Abenteuer“ in einer Zigarettenwerbung – was für ein Irrsinn! Da wird jemand zum Sklaven eines Glimmstengels, verpestet die Umwelt und seine eigene Luft, ruiniert seine Lungen, macht sich unfähig zu sportlicher Leistung und das Ganze soll Freiheit und Abenteuer sein! Trotzdem assoziieren die Menschen diese Zigarette mit Freiheit und Abenteuer. Eigentlich ist die Zigarette ja ein Pubertätsritual. Nach dem 20. Lebensjahr wird fast niemand mehr süchtig, sondern vorher. Kinder wollen erwachsen werden und ihr Symbol dafür ist die Zigarette. Das Dumme dabei ist nur, dass sie süchtig werden und nicht mehr davon loskommen. Und dann werden sie 60 und sind immer noch an ihrem Pubertätsritual hängen geblieben – das ist sicher ein Aspekt des Rauchens.

Was andere Menschen sagen, beeinflusst uns also. Nicht nur, weil es logisch ist, sondern weil Worte eine Wirkung haben.

Die tiefe Wirkung von Worten habe ich bei einem Schlüsselerlebnis mit Swami Vishnu erfahren, das ich als meine eigentliche Einweihung ansehe. Ich habe zwar auch eine Mantra-Einweihung, eine Brahmacharya- und eine Swami-Einweihung – ich war ja auch einige Jahre ein Swami mit Mönchsgelübde und allem, was dazu gehört; später hat mich Swami Vishnu auf meinen Wunsch davon entbunden – aber dieses Erlebnis war für mein Gefühl meine eigentliche Einweihung.

Es war das zweite Mal, dass ich eine längere Yogalehrer-Ausbildung übersetzt und für die deutsche Gruppe die Asana-Unterrichtstechniken und die Bhagavad Gita unterrichtet hatte. Am Ende des Kurses war es üblich, dass der Lehrer einer Sprachgruppe – meist waren es vier oder fünf, eine englische, französische, deutsche, italienische usw. – mit seiner Gruppe zu Swami Vishnu ging, der dann einige aufbauende, inspirierende Worte zum Abschied sagte.

Irgendwie fühlte ich mich am Ende des Kurses recht ausgelaugt und hatte keine Lust, mit der Gruppe zu Swami Vishnu zu gehen. Ich wollte ihn allein sehen. Also habe ich angefragt, ob ich kommen könne – er hatte dort eine kleine Hütte – und seine Assistentin sagte: „Ja, du kannst runterkommen, er liegt gerade in seiner Hängematte“. Ich dachte: „Oh, was mache ich denn jetzt, wenn er in seiner Hängematte liegt?!“ Jedenfalls ging ich dann langsam hinunter, mein Herz klopfte immer heftiger, denn bis dahin hatte ich eigentlich nur wenig persönliche Worte mit Swami Vishnu gewechselt, obgleich ich ihn schon ein paar Jahre kannte.

Natürlich habe ich ihn ab und zu nach Pranayama-Praktiken und ähnlichem gefragt, aber jetzt hatte ich ja eigentlich keine Frage, ich wollte ihn einfach zum Schluss noch einmal sehen, bevor ich nach Wien abreiste, um dort das Zentrum zu übernehmen. Swami Vishnu sah oder hörte mich kommen, setzte sich auf seine Hängematte und fragte mich, was ich jetzt mache. Ich erzählte ihm, dass ich nach Wien ginge und er antwortete, das sei gut, aber jetzt solle ich mich erst mal dort an den Wasserfall setzen. Es gab dort eine Statue von Swami Sivananda und einen Shiva, aus dessen Kopf heraus ein Wasserfall floß – Swami Vishnu hatte ein großes Faible für Landschaftsarchitektur und Schönheit, daher gab es dort diese Anlage mit den Statuen und dem Wasserfall.

Dorthin sollte ich mich also setzen, um den Segen der Meister zu erbitten. Dabei hatte ich eine meiner tiefsten spirituellen Erfahrungen. Ich weiß nicht, wie lange ich dort saß, aber der Anzahl von Insektenstichen nach muss es ziemlich lange gewesen sein. Schließlich kam ich aus der Meditation heraus und verneigte mich nochmals vor Swami Vishnu. Er legte mir seine Hand auf die Stirn, rezitierte das Om Tryambakam (Heil- und Schutzmantra) und sagte: „And when you come to Vienna teach a lot of classes, make a lot of money and turn Vienna topsyturvy“ („Wenn du nach Wien kommst, gib viele Yogastunden, sorge dafür, dass Geld hereinkommt – denn das Zentrum war hoffnungslos verschuldet und stand eigentlich kurz vor dem Bankrott – und stelle Wien auf den Kopf!“).

Diese Worte haben mich beflügelt und gründlich verändert. Vorher war ich eigentlich ein schüchterner Mensch und habe mich selten getraut, den Mund aufzumachen. Worte von großen Meistern haben natürlich eine besonders starke Wirkung, aber auch Worte von anderen Menschen haben eine Wirkung und unsere eigenen Worte auch. Die westliche Psychologie spricht in diesem Zusammenhang vom sogenannten inneren Dialog. Wie spreche ich mit mir selbst? Manche Menschen sprechen oft und ständig destruktiv zu sich selbst: „Du Esel, was hast du da wieder gemacht? Du taugst ja gar nichts! Du bringst nie etwas fertig!“ Dadurch wird man beeinflusst. Man muss darauf achten, wie man selbst zu sich spricht, wie andere zu einem sprechen und wie man selbst zu anderen spricht. Welche Suggestionen gebe ich den anderen? Worte haben Kraft.

Es gibt eine einfache Technik, die Patanjali im zweiten Kapitel ausführt: Wenn wir merken, dass wir zu uns selbst Worte sprechen, die nicht positiv sind, müssen wir uns gegenteilig programmieren. Denkt man also zum Beispiel: „Das packe ich nie“, muss sofort die Gegensuggestion kommen: „Durch die Gnade Gottes schaffe ich’s!“ oder „Das ist zu viel!“ oder „Wenn Gott mir Aufgaben gibt, wird er mir auch die Kraft geben, sie zu erfüllen.“

Die Gegensuggestionen müssen nicht so überheblich klingen wie: „Ich schaffe alles!“ Dasselbe Prinzip gilt natürlich auch, wenn andere uns negativ beeinflussen. Es hat eine verheerende Wirkung, wenn man sich etwas vornimmt und jemand sagt: „Das schaffst du nie.“ Eine solche negative Suggestion sollte man nie ohne Gegensuggestion lassen, sonst wirkt sie auf unterbewusste Weise. Das heißt nicht, dass wir sofort auftrumpfen und dem anderen sagen müssen: „Dir werde ich’s zeigen, das schaffe ich schon!“ – das wäre höchstens der Beweis für ein gesundes Ego. Die Reaktion eines ungesunden Ego wäre: „Na ja, vielleicht hat er ja recht, ich versuche es besser erst gar nicht“ Viele Menschen werden so künstlich niedergehalten – im geschäftlichen und sozialen Umfeld, oft sogar vom Partner.

Vikalpah (Wortirrtum) heißt also, wir identifizieren uns mit den Worten, auch wenn sie in der Wirklichkeit keine Grundlage haben. Wir müssen auf unsere Gedanken achten, auf die Worte, die wir zu uns sprechen und auf die Worte, die andere zu uns sprechen. Zusätzlich zu Gegensuggestionen auf negative Äußerungen können wir natürlich auch Affirmationen (Bejahung, Bestätigung) sprechen. Es ist zwar nicht so, dass Affirmationen unbedingt alles bewirken können, aber sie haben eine gewisse Wirksamkeit, die wir ausnutzen können.

10. Abhâva–pratyayâlambanâ vrittir nidrâ     Zurück zum ersten Kapitel

abhâva = Abwesenheit; pratyayâ = Inhalt der Psyche; âlambanâ = Stütze, Grundlage; vritti = Gedankenwelle, Modifikation; nidrâ = Schlaf

Die Erscheinungsform (vritti) des Geistes, die Abwesenheit irgendeines Inhalts im Geist umfasst, wird Schlaf genannt.

Auch Schlaf ist eine Vritti, ein gedanklicher Zustand, bei dem sonst kein anderer Gedanke im Geist ist. Aber es ist eine Vritti, eine Gedankenwelle – sonst wären wir im Schlaf selbstverwirklicht!

11. Anubhûta–visayâsampramoshah smritih     Zurück zum ersten Kapitel

anubhûta = (von) Erfahrenem; vishayâ = Gegenstand; asampramoshah = „Nicht–Diebstahl“, nicht loslassen; smritih = Erinnerung

Erinnerung ist das Festhalten an vergangenen Erfahrungen.

Alle vergangenen Erfahrungen kommen im Geist hoch; daher ist auch die Erinnerung eine Vritti, eine der fünf Hauptformen von Gedanken.

12. Abhyâsa–vairâgyâbhyâm tan–nirodhah     Zurück zum ersten Kapitel

abhyâsa = beharrliche Übung; vairâgyâbhyâm = Nichtanhaften, Wunschlosigkeit; tan–nirodhah = Abstellen, Unterdrücken (der Chitta–Vrittis)

Die Kontrolle der Chitta Vrittis, also der Gedanken im Geist, wird durch Übung (abhyâsa) und
Verhaftungslosigkeit (vairâgyâ) herbeigeführt.

Das ist dasselbe, was Krishna im 6. Kapitel der Bhagavad Gita sagt. Er spricht erst davon, was Meditation ist und dass der Yogi Gleichmut entwickeln soll. Wenn er gleichmütig geworden ist gegenüber Lob und Tadel, Hitze und Kälte, Schmerz und Vergnügen, ist er reif für die Ewigkeit. Arjuna sagt darauf sinngemäß: „Oh Krishna, das schaffe ich nie. Es ist leichter, den Wind mit blossen Händen festzuhalten als den Geist zu beherrschen.“ Krishna gibt ihm die gleiche Antwort wie Patanjali: „Ja, Arjuna, wahrlich ist es schwer, den Geist zu beherrschen, aber durch Übung und Verhaftungslosigkeit, durch Abhyasa (Üben) und Vairagya (Verhaftungslosigkeit), ist der Geist unter Kontrolle zu bringen.“

In den nächsten Aphorismen erfahren wir Näheres darüber.

13. Tatra sthitau yatno `bhyâsah     Zurück zum ersten Kapitel

Tatra = von jenen (d. h. von Abhyasa und Vairagya); sthitau = um fest gegründet zu sein; yatnoh = Anstrengung, Bemühung; abhyâsah = Übung

Abhyasa (Übung den Geist unter Kontrolle zu bringen) ist die ständige Bemühung, die Einschränkung der Gedankenwellen fest zu begründen.

Alle Anstrengungen, die wir machen, um unsere Gedanken zu beherrschen, sind Abhyasa. Es gibt nicht nur eine oder zwei bestimmte Übungen und auch nicht nur die hier in den Yoga Sutras aufgeführten, sondern alles, was dazu dient, den Geist zu beherrschen, ist Abhyasa. Hierunter fällt auch die ständige Bemühung – wir haben keine Pause! Die Übung beginnt mit dem Aufwachen am Morgen und hört am Abend mit dem Einschlafen auf. Später geht es sogar rund um die Uhr, 24 Stunden lang. Es beginnt mit dem Aufwachen am Morgen und hört morgens beim Aufwachen auf. Das kann so weit gehen, dass man im Traum Mantras singt, Asanas oder Pranayama macht oder selbstlosen Dienst tut.

Im Schlaf kann unser Geist uns alles Mögliche vorgaukeln, alles Mögliche tun. Manchen, die neu auf dem spirituellen Weg sind, passiert es die ersten Jahre noch, dass der Geist im Traum Dinge hervorbringt, die sie im Wachbewusstsein nie tun oder an die sie nie denken würden. Das ist auch ok, so hat der Geist ein bisschen Spielraum. Schlaf und Träume haben eine ausgleichende Funktion.

Swami Vishnu hat gesagt: Angenommen, es gäbe keinen Schlaf und keine Träume, so dass wir immer die gleiche Person sein müssten, 24 Stunden am Tag, 7 Tage in der Woche, 52 Wochen im Jahr, 80 oder 100 Jahre unseres Lebens – würden wir das aushalten? Im Traum können wir jemand anders sein, im Schlaf vergessen wir alles. Natürlich wäre es etwas anderes, wenn wir statt dessen immer bewusst hier wären und die Selbstverwirklichung erreichen würden! Aber sogar die Selbstverwirklichten schlafen meistens noch zwei oder drei Stunden. Der Schlaf erfüllt seine Funktion. Der Geist braucht einen gewissen Ausgleich. Seien wir deshalb dankbar dafür!

„Ständige Bemühung“ heißt jetzt nicht, dass wir uns dauernd verkrampft anstrengen, sondern wir versuchen, diese Vorstellung Gottes, die Grundhaltung von selbstlosem Dienst und einer positiven Lebenseinstellung den ganzen Tag über aufrechtzuerhalten, ob wir nun Geschirr spülen, meditieren, Asanas machen, spazieren gehen, mit unserem Kind zusammen sind, im Büro arbeiten, ein paar freundliche Worte mit dem Postboten wechseln usw. Wir bemühen uns immer wieder, dieses Bewusstsein des Göttlichen aufrechtzuerhalten oder hervorzurufen und unseren Geist positiv, gleichmütig zu stimmen.

Abhyasa (das Bemühen den Geist unter Kontrolle bringen) heißt nicht, den Geist den ganzen Tag beherrschen zu müssen. Es ist die Bemühung darum. Wir sind viel zu erfolgsorientiert. Das Bemühen ist wichtig, nicht das, was dabei herauskommt. Wir bemühen uns; dann gelingt es manchmal und es gelingt auch manchmal nicht. Viele Menschen haben einen zu großen Perfektionsdrang.

Shanmug, ein langjähriger Yogalehrer, der hier als Gastreferent gelegentlich Seminare gibt, bringt immer einige Elemente aus der Psychologie in seine 20jährige Yogalehrerpraxis ein. Letztes Mal, als er hier war, sprach er darüber, dass es nach den Erkenntnissen der modernen Psychologie einige wenige sinnlose Grundüberzeugungen sind, die viele Menschen unglücklich machen. Eine dieser Grundüberzeugungen ist: „Ich muss alles richtig machen, ich muss vollkommen sein, sonst ist alles schlecht“. Das ist dieser Perfektionismus. Aber kann man wirklich vollkommen sein? Man kann nur vollkommen sein, wenn man seine Ansprüche sehr niedrig ansetzt und nur wenig tut. Dann ist man darin vollkommen. Wenn wir unsere Ansprüche hoch setzen und viel machen wollen, können wir nie vollkommen sein. Unser Ziel ist die Selbstverwirklichung. Bis dahin gibt es unglaublich viel zu tun. Es ist also besser, eher viel zu tun und das weniger perfekt. Das macht auch demütig.

Darin hat uns auch Swami Vishnu geschult. Er hat uns immer mehr Aufgaben gegeben, als wir eigentlich bewältigen konnten. Es war nie möglich, alles zu tun, was er gesagt hat. Es ging einfach nicht. Wir haben uns bemüht und oft ist es auch irgendwie hingekommen, manchmal aber auch nicht. Ich kann mich erinnern, einmal hat er den Auftrag gegeben, in drei Tagen einen Tempel zu bauen. Der Tempel stand dann auch, aber er war weit davon entfernt, perfekt zu sein! Es war kein riesiger kunstfertiger Bau mit Schnitzereien und so, sondern eine einfache Holzhütte, in die eine Krishna-Statue nach einem ausgefeilten alten Ritual hineingestellt wurde und in der eine Einweihungs-Puja gemacht wurde.

Diese Überlegung hilft auch für das Sadhana (spirituelle Praxis). Auch darin können wir nicht vollkommen sein. Trotzdem sollten wir unsere Ideale deswegen nicht senken. Manche Menschen denken: „Ach, ich schaffe die Selbstverwirklichung sowieso nicht. Mir reicht es aus, wenn ich am Tag ein bisschen meditiere, Mantras singe und einigermaßen gesund lebe. Die vollkommene Selbstbeherrschung und die Einheit mit dem Unendlichen – das liegt für mich sowieso nicht im Bereich des Möglichen“. Wenn man sich so programmiert, verliert man das Ziel aus den Augen. Wir können nicht vollkommen sein, aber wir können uns darum bemühen. Die ständige Bemühung, unseren Geist zum Göttlichen zu bringen, ist Abhyasa.

Patanjali sagt in diesem Vers, wir sollen uns bemühen, „die Einschränkung der Gedankenwellen fest zu begründen“. Das muss man sich vor Augen führen. Es heißt also nicht einmal, wir sollen uns ständig bemühen, den Geist zu beherrschen, sondern wir sollen uns ständig bemühen, uns zu bemühen. Er macht es uns in gewisser Hinsicht einfach: Ständige Bemühung, zur Verwirklichung zu kommen, aber ohne Verhaftung. Sich nicht aus der Ruhe bringen lassen. Sich nicht ständig vorwerfen: Das hat nicht geklappt und jenes nicht und was ich da gemacht habe, war auch nicht so gut.

Übrigens, am Rande bemerkt, eine andere Grundüberzeugung vieler Menschen ist die Erwartung, von anderen freundlich behandelt zu werden, sonst fühlen sie sich schlecht. Aber ist es realistisch, dass andere einen immer freundlich behandeln? Manche Menschen werden grundsätzlich und grundlegend aus dem Gleichgewicht gebracht, sowie sie nicht freundlich behandelt werden. Aber in über der Hälfte der Fälle scheint es nur so und der andere meint es eigentlich gut. In der Hälfte der restlichen Fälle hat er es gar nicht böse mit uns gemeint, sondern sich mit etwas ganz anderem beschäftigt. Und in dem Viertel der Fälle, wo er wirklich mit uns ärgerlich war, ist es auch nicht so tragisch. Andere Menschen haben ihre Launen wie wir selbst auch und das alles spielt eigentlich keine so große Rolle. Im Rahmen von Vikalpa, Wortirrtum, haben wir ja schon darüber gesprochen, dass wir uns nicht so abhängig machen sollten von dem, was andere zu uns bzw. über uns sagen oder denken.
Asanas

14. Sa tu dîrgha–kâla–nairantarya–satkârâ sevito dridha–bhûmih     Zurück zum ersten Kapitel

Sah = das; tu = in der Tat; dîrgha = lang; kâla = Zeit; nairantarya = ununterbroche Aufeinanderfolge; satkârâ = Ernst, voller Hingabe; âsevitah = geübt, befolgt, fortgesetzt; dridha = fest; bhûmih = Grund

Die Übung wird fest begründet, wenn sie über lange Zeit hinweg ohne Unterbrechung und mit aufrichtiger Hingabe fortgesetzt wird.

Was heißt lange? – Bis zur Verwirklichung!

Viele Menschen praktizieren jahrelang Yoga, aber nur ab und zu. Wenn man ohne Unterbrechung 20 Jahre lang Yoga praktiziert, dann ist das Bewusstsein des Göttlichen schon etwas weiter entwickelt. Vom Yoga gibt es keine Pause. Der spirituelle Weg ist so, wie wenn man eine Kugel den Berg hochschiebt. Was passiert, wenn wir eine Pause machen und die Kugel loslassen? – Sie rollt den Berg wieder hinunter, zumindest ein Stück. Es gibt natürlich Ausnahmefälle, wo jemand plötzlich die Selbstverwirklichung erreicht, wenn entsprechende Samskaras (Eindrücke im Unterbewusstsein) aus früheren Leben vorhanden sind. Aber im Normalfall müssen wir die Kugel den Berg hochschieben und dürfen sie nicht wieder loslassen. Wir sollten uns auf dem spirituellen Weg nicht eine Weile ausruhen.

Zwischenfrage: „Was ist das überhaupt, die Selbstverwirklichung?“

Yogash Chitta Vritti nirodhah – im Geist sind keine Gedanken mehr, wir ruhen in unserem wahren Wesen und haben die Einheit erreicht mit dem Unendlichen. Dann sind wir befreit. Kaivalya (Freiheit; reines Bewusstsein) ist erreicht. Es gibt keine Notwendigkeit mehr für uns, dass noch etwas geschieht.

Von den Bhumikas, den sieben Stufen der Erkenntnis (1. Subheccha – Gleichgültigkeit gegenüber Sinnesobjekten, 2. Vicharana – Fragestellen, 3. Tanumanasi – Gleichgültigkeit gegenüber Objekten,  4. Sattwapati – wunschlos, 5. Asamsakti – Nichtverhaftung an die Dinge der Welt, 6. Padartha Bhavana – Erkenntnis der Wahrheit, 7. Turiya – Überbewusstheit), wissen wir, wenn wir die Selbstverwirklichung erreicht haben, sind wir erst in Asamshakti („durch nichts berührt“), wo wir noch das Karma abarbeiten müssen, das für diesen Körper vorgesehen ist.

Aber wir wissen, es sind nicht mehr wir, die handeln, sondern Gott handelt durch uns. Wir sind so lange im vollen Bewusstsein, bis das Karma zu Ende ist. Wenn nur noch wenig Karma da ist, dann läuft es auch ab, ohne dass wir etwas dazutun. Es geschieht einfach, das Karma bringt uns dazu, gewisse Sachen zu tun, die nötig sind, das ist dann die Stufe von Padarthab-havani („sieht Brahman überall“) und schließlich erreicht man Turiya (Überbewusstheit), die endgültige Befreiung, als letzte Bhumika. Wir tun nichts mehr, wir verschmelzen mit dem Absoluten, wir existieren nicht mehr als Persönlichkeit, wir sind eins mit Gott, immer Sat-Chit-Ananda, Sein, Wissen und Glückseligkeit. Es wäre auch völlig unmöglich, noch etwas zu tun.

Deshalb hat ein Jivanmukta (befreiter Weiser) auch ein sogenanntes Doppelbewusstsein. Der Jivanmukta ist der lebendig Befreite, der die Selbstverwirklichung erreicht hat. Zum einen hat er das göttliche Bewusstsein hinter allem, zum anderen hat er aber auch noch ein sattwiges (reines) Ego. Er kann also das ganze Universum im allgemeinen spüren und gleichzeitig parallel diesen seinen besonderen Körper und diesen Geist. Der Jivanmukta macht nichts mehr wirklich aus eigenem Willen, sondern weil das Karma es erfordert. Sein Körper und Astralkörper haben noch ein Karma, das ablaufen muss und dazu ist es notwendig, dass er zwischendurch in sein Ego hineingeht.

Und er weiß, das Karma dieses Körpers läuft ab als Teil des göttlichen Willens. Er spürt den Körper, kann auch Emotionen und alles andere empfinden, aber er weiß, dass dies nur ein Teil von ihm ist. So ähnlich wie wir den ganzen Körper und gleichzeitig auch einen Finger als Teil davon spüren können. Wenn es notwendig ist, den Finger zu bewegen, dann bewege ich den Finger. Ich spüre mich zwar immer noch als der ganze Körper, aber ich bewege halt nur den Finger. Gleichzeitig geht aber auch mein Herzschlag noch weiter, ohne dass ich mich darum zu kümmern brauche, der Atem geht weiter, der Magen erfüllt seine Funktion, usw.

Ähnlich ist es beim Jivanmukta. Er weiß, für diesen Körper hat er eine besondere Aufgabe, aber er ist gleichzeitig auch eins mit allem. Alles läuft ab und ist der göttliche Wille. So wie die Funktionen des Körpers ablaufen, ohne dass man eigentlich etwas davon merkt, so läuft der größte Teil des Lebens, des Universums überhaupt ab.

Einiges kann der Jivanmukti zwar auch beeinflussen, wenn er merkt, dass es notwendig ist oder die göttliche Energie will, dass er etwas von einem übergeordneten Standpunkt aus ausführt. Aber ansonsten bewegt er diesen kleinen Körper, diesen kleinen Geist und handelt durch sie, bis sein Karma abgelaufen ist. Ganz zum Schluss oder kurz vor Schluss verschiebt sich sein Doppelbewusstsein mehr in Richtung auf das kosmische Universum. Dann handelt er tatsächlich nicht mehr aus eigenem Antrieb, sondern muss von außen dazu gebracht werden. Wenn man ihm dann nichts zu essen gibt, isst er nichts mehr. Er merkt auch nichts.

Solange das Karma für den Körper noch da ist, wird er auch nicht sterben. Der Körper braucht dann einfach nichts. Er wird auch keine Vorträge geben, es sei denn, man bittet ihn darum. Wenn man ihn um etwas bittet, macht er es auch. Er ist eigentlich ein Spielball von dem, was Menschen oder das Schicksal von außen an ihn herantragen.

Solche Menschen wirken deshalb manchmal auch verrückt, wie in der Geschichte von Jada Bharata.

Es gab einmal einen großen König namens Bharata, den ersten König in der legendären mythologischen Vorzeit, der Indien als erster geeint haben soll. Nach ihm ist das Land auch benannt, denn die Inder nennen sich selbst Bharatas und ihr Land Bharata, das Land des Bharata. Der Begriff „Indien“ entstand durch die Griechen. Er bedeutet das Land, das hinter dem Indusfluss liegt. Der Fluss heißt bei den Indern eigentlich Sindu. Daraus haben die Griechen Indus gemacht, die Menschen, die um das Industal herum wohnten, als Inder bezeichnet und später wurde dann das ganze Land so genannt.

Als König Bharata alt wurde, überließ er seinem Sohn die Herrschaft und zog sich, entsprechend den vier Ashramas, den vier Lebensaltern, in die Einöde zurück. Er ließ sich an einem Fluss nieder und widmete den Rest seines Lebens der Meditation. Eines Tages, als er sein Bad im Fluss nahm, wurde ein Rehkitz heruntergetrieben, dessen Mutter von Jägern getötet worden war. Er rettete es und zog es auf. Und er, der dem ganzen Königreich entsagt hatte, seinen Kindern, seiner Frau, Luxus, Reichtum, Macht, er entwickelte nun eine Verhaftung an dieses Rehkitz. Immer öfter, wenn er meditierte, dachte er an das Rehkitz, fragte sich, wie es ihm wohl gehe. Es kam auch zu ihm, setzte sich auf seinen Schoß oder lenkte ihn sonst ab, wenn er meditierte – und so erreichte er doch nicht ganz die Selbstverwirklichung. Und im letzten Augenblick seines Lebens dachte er an das Rehkitz statt an das Unendliche oder statt sein Mantra zu wiederholen, was man tun sollte, um zu höheren Ebenen oder gar zur Verwirklichung zu kommen.

Statt dessen dachte er: „Was wird denn jetzt aus meinem Reh? Wer kümmert sich um mein Reh?“ – obwohl es schon längst alt genug war, sich um sich selbst zu kümmern! Aber Verhaftung ist nun einmal so. Und weil er so intensiv an das Reh gedacht hatte, wurde er im nächsten Leben als Reh wiedergeboren. – Man muss also aufpassen, was man denkt! Der letzte Gedanke bestimmt das nächste Leben. Natürlich auch das Karma. Letztlich schafft das, was man denkt, auch Karma. Es ist natürlich nicht unbedingt gesagt, dass man in so einem Fall als Reh wiedergeboren wird. Es könnte auch sein, dass man irgendwo im Wald wiedergeboren wird, wo Rehe eine wichtige Rolle spielen. Manche Menschen denken zum Schluss an ihre Aktien. Das heißt nicht, dass sie als Aktienpaket wiedergeboren werden. Aber sie werden in eine Familie hineingeboren werden, wo Aktien eine wichtige Rolle spielen. Und je nach Karma wird das eine Familie mit großem Aktienbesitz sein oder eine, die sich an der Börse verspekuliert und alles verliert.

Das ist einer der Gründe, warum ich kein Haustier habe. Ich würde mich sofort daran verhaften. Ich hatte schon ein Pferd, eine Katze und einen Hund. Zu der Katze, einem Kater, hatte ich eine ganz besondere Beziehung. Er hat alles gemacht, was ich ihm gesagt habe. Wenn ich auf die Schulter geklopft habe, dann ist er hochgelaufen und hat sich auf meine Schulter gesetzt – zum Entsetzen meiner Mutter, denn er musste natürlich mit den Krallen hochgehen und das tat der Kleidung nicht so gut. Er ist sogar mit mir spazieren gegangen. Und irgendwann wurde er von einem Auto überfahren. Das war eine schwere Sache für mich.

Also, der letzte Gedanke bestimmt das nächste Leben und so wurde der König im nächsten Leben als Reh geboren. Da er aber doch ein sehr fortgeschrittener Aspirant gewesen war, der schon höhere Bewusstseinsebenen erreicht hatte, hatte er die Erinnerung an frühere Leben behalten. Und weil er sich daran erinnerte, hielt er sich abseits von den anderen Rehen. Schließlich starb er als Reh und inkarnierte sich wieder als Mensch. Diesmal entschied er sich, den gleichen Fehler nicht nochmals zu machen.

Er wollte keine Verhaftungen mehr eingehen. Und da er vorher schon viel Karma abgearbeitet hatte – schon als König war er sehr spirituell gewesen, hatte alle vorgeschriebenen Rituale und Verhaltensweisen eingehalten und bereits die Vorstufen der Erleuchtung erreicht –, machte er in seinem neuen Leben schon in der Kindheit rasche Fortschritte. Um also Verhaftungen zu vermeiden und die Selbstverwirklichung zu erreichen, entschied er sich, mit niemandem zu sprechen. Seine Eltern fanden das natürlich nicht übermäßig toll. Sie empfanden ihn als eine große Belastung. Alle anderen ihrer Kinder lernten, er lernte nichts. Sie setzten ihn zwar für einfache Arbeiten ein und er machte das, was ihm gesagt wurde, aber nicht mehr. Wenn man ihm nichts sagte, saß er einfach nur da. Das heißt, er meditierte, aber für seine Eltern war er nur ein Verrückter, mit dem man nichts anfangen konnte.

Eines Tages sagten die Eltern zu ihm: „Du willst ja doch immer nur `rumstehen und nichts tun, also geh` aufs Feld, vertreibe die Krähen und sorge dafür, dass sie die Ernte nicht auffressen!“ Er bekam ein Vogelscheuchenkostüm und stellte sich aufs Feld. Als die Vögel kamen, sah er den Sinn seines Auftrages nicht ein. Warum sollte er die Vögel vertreiben, sie hatten doch Hunger! Also stand er ganz leblos da und meditierte über das Absolute. Am Abend kam sein Vater und sah, dass alle Samen aufgefressen waren. Da schlug er ihn mit dem Stock und befahl ihm, zu verschwinden, er wolle nichts mehr mit ihm zu tun haben. Gut, ihm wurde gesagt, er solle verschwinden, also ging er seines Weges.

Nun geschah es, dass auf diesem Weg der König in seiner Sänfte getragen wurde. Er war unterwegs zu seinem Guru, um etwas über Brahman, das Absolute, und die Selbstbefreiung zu hören. Einer der Sänftenträger verknackste sich den Fuß, so dass es nur noch drei Träger waren. Ein König braucht nämlich paradoxerweise eine Sänfte, Sänftenträger und einen Kommandanten vor sich und einen hinter sich, auch wenn er zu seinem Guru geht! So beratschlagten nun die Kommandanten, was zu tun sei. Da sahen sie plötzlich den Jada Bharata, wie er jetzt hieß (jada = verrückt, idiotisch; aber er war nicht wirklich verrückt, er schien nur so, er war eigentlich ein großer Weiser,) den Weg entlang kommen. Der Kommandant rief ihn her und machte ihn zum Sänftenträger.

Während sie nun weitergingen, sprang Jada Bharata plötzlich hoch, weil auf dem Weg eine Schnecke war, die er erst im letzten Moment gesehen hatte, als sein Fuß fast schon unten war. Um sie nicht zu zertreten, machte er schnell einen Sprung. Die Sänfte bewegte sich unsanft, der König bekam eine Beule und rief heraus: „Was ist denn los?“ Der Hauptmann sagte: „Entschuldige, König, aber der neue Sänftenträger ist noch nicht so geübt“. Darauf sagte der König: „Dann soll er sich gefälligst ein bisschen bemühen und achtgeben“. Nach einer Weile führte eine Ameisenstraße über den Weg. Jada Bharata sprang wieder hoch, um die Ameisen nicht zu töten. Der König bekam eine zweite Beule, schaute aus der Sänfte heraus, sah, dass das wieder der neue Träger gewesen war und sagte: „Wenn du das noch einmal machst, schlage ich dir den Kopf ab“. Sie gingen weiter, bis eine Kröte auf dem Weg saß, die sich tot gestellt hatte, so dass Jada Bharata sie erst sehr spät bemerkte und wieder einen Sprung machte. Der König sprang aus seiner Sänfte, nahm sein Schwert und sagte: „Weißt du nicht, wer ich bin? Ich bin der Herr über Leben und Tod und du wagst es, das zu tun?“

Nun öffnete Jada Bharata zum ersten Mal in seinem Leben den Mund und sagte: „Oh großer König, du denkst du bist Herr über Leben und Tod und kannst doch noch nicht einmal deinen eigenen Geist beherrschen. Du kannst vielleicht diesen Körper töten, aber das Selbst kannst du nicht töten.“ Plötzlich durchzuckte es den König, er zitterte am ganzen Körper und erkannte, wie dumm er sich benahm. Er befand sich auf dem Weg, um die Erleuchtung zu erlangen – einer seiner Sänftenträger besaß sie offensichtlich bereits und er war gerade dabei, ihm den Kopf abzuschlagen. Und anschließend wollte er die Selbstverwirklichung erreichen! Der König fiel Jada Bharata zu Füßen und bat ihn um Unterweisung. Jada Bharata erzählte ihm von Brahman, dem Absoluten, und zog anschließend seines Weges. Und nur weil der König ihn danach gefragt hatte, kennen wir die Geschichte von Jada Bharata.

Jada Bharata befand sich in Padarthabhavani („sieht Brahman überall“). Er identifizierte sich eigentlich immer mit allem und machte das, was ihm gesagt wurde, ansonsten tat er nichts.

Aber davor brauchen wir keine Angst zu haben. Das wird uns nicht so schnell passieren!

Einen großen Teil der Zeit befindet sich ein Erleuchteter normalerweise in Asamshakti („durch nichts berührt“), wo er noch mit Bewusstsein handelt. Er weiß noch, dass er handelt und er tut aus einem sattwigen (reinen) Ego heraus, was getan werden muss – aber nicht mehr. Er weiß, dass das Göttliche durch ihn hindurch wirkt, auch konkret durch seinen Körper. Autistische Kinder sind da manchmal sehr ähnlich.

Wir denken immer, alle Menschen müssten so sein wie wir, sonst halten wir sie für komisch oder verrückt.  Umgekehrt stehen wir selbst unter Druck, weil wir glauben, wir müssten gleich sein wie alle anderen Menschen. Aber es gibt verschiedene Arten von Karma und daher auch verschiedene Arten von Menschen.

Abhyasa ist also die Bemühung über lange Zeit ohne Unterbrechung – sowohl am Tag als auch bei Nacht. Sicher wird es am Anfang Unterbrechungen geben, ab und zu denkt man an etwas anderes, manchmal muss man sich auch entspannen –, aber grundsätzlich müssen wir jeden Tag meditieren, unsere Praktiken ausführen, über einen langen Zeitraum, ohne ein paar Wochen oder Monate auszusetzen. Es gibt Zeiten, wo wir die Praktiken intensivieren und es gibt Zeiten, wo man weniger Asanas, Pranayama und Meditation übt, dafür mehr im Rahmen des täglichen Lebens. Aber insgesamt sollte man jeden Tag diese Praktiken durchführen und an den Gedanken, an der Bewusstheit des Göttlichen, arbeiten; das ist wichtig. Dann wird es irgendwann tatsächlich vollkommen ohne Unterbrechung, mit aufrichtiger Hingabe und Begeisterung, Satkara, nicht nur mechanisch.

Ist man schon längere Zeit auf dem spirituellen Weg, besteht die Gefahr, dass die Praxis irgendwann einmal mechanisch wird. Praktiziert man jahrelang jeden Tag die Rishikesh-Reihe, muss man ab einem bestimmten Punkt mit Langeweile kämpfen oder man fängt an, während des Übens andere Gedanken zu spinnen. Dann ist es besonders wichtig, sich immer wieder zu vergegenwärtigen, warum man überhaupt übt, sich zu konzentrieren, bewusst zu atmen, Mantras zu wiederholen, eventuell auch die Praxis etwas zu ändern, damit der Geist wieder neuen Enthusiasmus bekommt. Die Praktik sollte von ganzem Herzen kommen, nicht halbherzig sein.

Bei den meisten Menschen, die regelmäßig üben, gibt es auch Trockenperioden. Und es ist besser, mechanisch zu üben als gar nicht. Es ist besser, nur dazusitzen und in der Meditation über Gott und die Welt nachzudenken – oft mehr über die Welt als über Gott –, als sich gar nicht hinzusetzen. Andere haben Phasen, wo sie in der Meditation zwischendurch einnicken.

Es ist besser, dies durchzustehen als ganz aufzuhören. Man sollte dafür sorgen, dass diese Perioden nicht zu lange dauern. Dazu muss man erst einmal prüfen, ob es einen Grund dafür gibt. Es kann sein, dass man in seinem Eifer den Schlaf zu sehr reduziert hat und man somit einfach mehr Schlaf braucht. Oder man ist aus irgendeinem Grund niedergedrückt. Man kann einen angehenden Diabetes haben, der behandelt werden muss. Unreinheiten können sich im Körper angesammelt haben, so dass man mehr Kriyas (Reinigungsübungen) machen sollte. Es kann aber auch sein, dass der Geist einfach gegen die Monotonie streikt. Wichtig ist, sich immer wieder zu bemühen, sich neu zu motivieren, zu versuchen, neuen Enthusiasmus aufzubringen. Anstelle der normalen Reaktion nachzugeben – die Praxis gefällt einem nicht, also wird aufgehört oder etwas ganz anderes gemacht –, ist es klüger, sich zu überlegen, was man tun könnte, um die Praktiken (wieder) befriedigender zu machen.

Es heißt ja, alle Antworten sind eigentlich in uns. Die Kunst ist, die richtigen Fragen zu stellen, dann kommen die Antworten von selbst. Schon allein dadurch, dass man regelmäßig praktiziert, entsteht im Lauf der Zeit ein immer stärkerer Wunsch danach. Man fühlt sich einfach nicht mehr wohl, wenn man einmal nicht geübt hat. Oft passiert es, dass das Energieniveau sinkt, wenn die Praktiken eine Weile etwas reduziert wurden, weil man einfach weniger Zeit hatte.

Hat man weniger Energie, sinkt auch die Motivation zu praktizieren und so bewegt man sich in einer Abwärtsspirale. Man hat keine Lust, zu praktizieren, sondern eher das Gefühl, sich mal ausruhen und entspannen zu müssen, weil man so hart gearbeitet hat. Gut, das kann man sich auch mal kurze Zeit gönnen. Aber dann muss man Viveka, die Unterscheidungskraft, einschalten und sich klarmachen, dass der Wunsch, weniger zu praktizieren, daher kommt, dass man eine Weile weniger praktiziert hat und infolgedessen das Energieniveau gesunken ist. Und wie bringe ich das Energieniveau wieder hoch? Nicht, indem ich weiterhin nichts mache, sondern indem ich wieder vermehrt praktiziere. Und wenn die eigene Anstrengung nicht ausreicht, sucht man sich eben Hilfe und geht zum Beispiel eine Weile in einen Ashram, an einen Ort, wo die gesamte Energie und Atmosphäre hilfreich unterstützend und aufbauend wirken.

Ich kannte einmal eine Schülerin, die jeden Tag ins Yogazentrum kam, um zu meditieren, eine Yogastunde mitzumachen und auch mitzuhelfen. Aber sie hatte fast eine Stunde Fahrtweg zum Zentrum. Mit der Zeit fand sie es unproduktiv, jeden Tag etwa zwei Stunden mit der Fahrt zur und von der Yogaschule wieder nach Hause zu verbringen. Also beschloss sie, in die Nähe des Zentrums zu ziehen. Sie suchte sich eine Wohnung in der Umgebung, musste die alte Wohnung auflösen und renovieren, die neue herrichten, umziehen usw.; kurz, sie hatte sehr viel zu tun und kam während der ganzen Zeit fast nicht mehr ins Zentrum. Erstaunlicherweise kam sie aber auch nach dem Umzug mehrere Wochen nicht mehr.

Bis sie schließlich doch irgendwann wieder einmal vorbeischaute und da habe ich sie gefragt, ob sie denn jetzt umgezogen sei. Sie sagte, ja, alles sei bestens. Ich fragte: „Was ist denn passiert? Du bist doch umgezogen, um öfter und leichter ins Yogazentrum kommen zu können und jetzt, wo du umgezogen bist, sehe ich dich gar nicht mehr.“ Da sagte sie, ja, irgendwie hätte sie in letzter Zeit das Gefühl, sie bräuchte mal eine Zeit für sich, wo sie etwas zur Ruhe käme und sie hätte da auch etwas anderes entdeckt …. Glücklicherweise war sie offen dafür, was ich ihr anschließend erklärt habe und musste über sich selbst lachen. Von da an ist sie dann auch wieder regelmäßig gekommen. Aber wenn ich ihr das nicht gesagt hätte, wäre ihre starke spirituelle Welle verebbt und sie hätte sich eine ganze Weile mit etwas anderem beschäftigt.

Dieses Phänomen erlebe ich manchmal auch bei Leuten, die sich entschieden haben, ganz in den Ashram zu ziehen. Bevor es soweit ist, müssen sie natürlich eine ganze Menge erledigen, den Haushalt auflösen, Haustiere unterbringen, sich von Menschen verabschieden, usw. Manche denken ein paar Wochen vorher: „ Ich gehe ja sowieso in den Ashram, da macht es jetzt nichts, wenn ich eine Weile lang keine Praktiken mehr mache.“ Sie kommen dann hier an und haben überhaupt keine Lust. Das stundenlange Meditieren und Mantrasingen geht ihnen erst einmal auf den Geist. Aber dann schwingen sie sich trotz allem schnell ein.

Es kann manchmal auch hilfreich sein, wenn man sich sagt: „Jetzt habe ich eine Zeitspanne, wo ich sehr viel Zeit für andere Dinge brauche. Anschließend gehe ich dann in den Ashram, mindestens für ein Wochenende, das gibt mir dann wieder den Anstoß, meine Praktiken zu intensivieren.“ Aber man sollte Patanjalis Worte im Kopf behalten, die Übung sollte nairantarya sein, ohne Unterbrechung.

Swami Sivananda hat  in einem seiner Bücher geschrieben: „Es mag Tage geben im Leben eines Aspiranten, wo er keine Zeit hat zu essen. Es mag Tage geben, wo er keine Zeit hat zu schlafen. Aber es sollte keinen Tag geben, wo er keine Zeit hat zu meditieren. Denn ein Tag ohne Meditation ist wie zwei verlorene Tage.“ Die Kugel, die wir hochschieben, rollt dann ein ganzes Stück wieder hinunter. Yogananda war da noch radikaler. Er sagt, ein Tag ohne Meditation ist eine Woche Rückschritt. Das ist zwar nicht so ganz wörtlich zu nehmen, aber es ist schon sehr wichtig, jeden Tag zu meditieren. Mit den Asanas mal einen Tag auszusetzen, ist nicht ganz so tragisch. Aber die Meditation sollte man wirklich täglich üben – ohne Unterbrechung und mit aufrichtiger Hingabe.

Als Shri Karthikeyan, ein Meister aus dem Sivananda-Ashram in Rishikesh, der uns ein-, zweimal im Jahr besucht und Vorlesungen gibt, das letzte Mal hier war, ist mir nochmals richtig klargeworden, für wie wichtig Satsang, das Zusammensein mit Weisen und anderen spirituellen Menschen, im traditionellen Yoga gehalten wird. Dem Yoga wird oft vorgeworfen, er mache einsam oder sei Nabelschau. Aber im klassischen Yogasystem ist das überhaupt nicht der Fall. Vielen Menschen mit emotionellen und schweren anderen Problemen hat Shri Karthikeyan empfohlen, ein paar Wochen hierher zu kommen. Wenn man eine Weile hier ist, verschwinden die Probleme von selbst. Die Umgebung und der Umgang mit positiven, spirituellen Menschen, in Verbindung mit einem disziplinierten Tagesablauf, heilen sehr stark.

Dabei musste ich daran denken, dass wir hier tatsächlich öfter wirklich verzweifelte Menschen haben. Sie haben eine Trennung oder sonstige psychische Krisen hinter sich bzw. stecken mittendrin, wissen nicht, was sie im Leben wollen oder leiden unter körperlichen oder psychischen Krankheiten. Nach ein paar Wochen kann man dann guten Gewissens sagen, dass sie mit einem ganz neuen Lebensgefühl wieder hinausgehen. Gerade Menschen mit großen psychischen Schwierigkeiten leben in einer spirituellen Umgebung mit positiven Menschen richtig auf.

Auf der psychischen Ebene ist Satsang also etwas sehr Wichtiges. Leider bietet unsere Gesellschaft auf diesem Gebiet nicht sehr viel. Es gibt zwar die stationäre Therapie, aber dort ist die Mehrheit der Menschen psychisch gestört. Alkoholiker sind dann zum Beispiel nur mit Alkoholikern zusammen, so dass es auch eine riesige Rückfallrate gibt. Es ist allein schon nützlich und wohltuend, eine Weile lang aus der gewohnten Umgebung herausgerissen zu werden, um seinen Geist in neue Bahnen zu lenken und zu schulen. Aber eigentlich wäre es gut, wenn es Gemeinschaften von positiven Menschen gäbe, wo Menschen in psychischen und sonstigen Schwierigkeiten einfach dazustoßen und eine Zeitlang mitleben könnten.

Das war früher in Großfamilien durchaus üblich. Wenn es beispielsweise einem Kind nicht gut ging, lebte es ein paar Wochen woanders, vielleicht bei der Großmutter oder wurde von einem anderen Teil der Familie eine Weile aufgenommen, um sich zu erholen und ihm etwas Distanz zu verschaffen. Es wäre schön, wenn es so etwas auch für Erwachsene gäbe – ein positives, erhebendes Umfeld. Das gilt auf der emotionalen und noch mehr auf der spirituellen Ebene. Wenn es einem spirituell nicht so gut geht, sollte man die Gesellschaft anderer spiritueller Menschen suchen. Das erhebt.

15. Drishtânushravika–vishaya–vitrishnasya vashîkâra samjñâ vairâgyam     Zurück zum ersten Kapitel

Drîshta = gesehen, sichtbar; ânushravika = gehört, verheißen, enthüllt; vishaya = Objekte; vitrishna-sya = von dem, der aufgehört hat zu dürsten; vashîkâra–samjñâ = Bewusstsein vollkommener Beherrschung; vairâgyam = Nichtanhaften, Losgelöstsein

Vairagya, Verhaftungslosigkeit, ist der Bewusstseinszustand, in dem das Verlangen nach sichtbaren und unsichtbaren Objekten durch Meisterung des Willens kontrolliert ist.

16. Tat param purusha–khyâter gunavaitrishnyam     Zurück zum ersten Kapitel

Tat = das; param = höchste; purusa–khyâteh = durch Gewahrung des Purusa, des Selbst; guna = Eigenschaft der Natur; gunavaitrishnyam = Freiheit von dem geringsten Wunsche nach den Gunas

Der höchste Zustand der Verhaftungslosigkeit stammt vom Bewusstsein des Purusha (Gottes) her; er entsagt sogar den drei Eigenschaften der Natur.

Vairagya (Wunschlosigkeit) ist eines der vier Mittel zur Befreiung, eines der Charakteristika im Subecha–Zustand (Sehnsucht, Suche nach Wahrheit), der ersten Stufe der sieben Bhumikas. Zu Subecha gehören: Viveka, Unterscheidungskraft, Vairagya, Verhaftungslosigkeit oder Wunsch-, bzw. Leidenschaftslosigkeit, Shatsampat, die sechs edlen Tugenden, und Mumukshutwa, tiefes Verlangen nach Befreiung.

Hier greift Patanjali besonders Vairagya heraus. In den vorherigen Versen hat er gesagt, dass die Kontrolle der Vrittis (Gedanken) durch Abhyasa (Übung) und Vairagya (Wunschlosigkeit) herbeigeführt wird. Eigentlich kann man den 15. und 16. Vers so interpretieren: Vairagya wird auf einer Ebene erreicht durch Meisterung des Willens und zum zweiten auf einer tieferen Ebene als Zustand von Verhaftungslosigkeit, der aus dem Bewusstsein des Purusha kommt.

Purusha ist das eine Selbst Gottes. Wenn man in diesem Bewusstsein ist, entsagt man den drei Eigenschaften der Natur. Das zweite fällt uns etwas leichter, auch wenn wir es nicht gleich in den höchsten Zustand überführen. Wenn wir uns tieferer Schichten unserer selbst bewusst sind, wenn das Göttliche in uns hineinstrahlt oder durchschimmert, dann fallen verschiedene Wünsche von selbst weg. Das kennt ihr vielleicht aus eigener Erfahrung. Irgendwann habt ihr mit Yoga angefangen, vielleicht, um gesund zu werden oder zu bleiben, weil es Spaß gemacht hat, um Spannungen loszuwerden, aus Neugier, um einfach etwas gegen Stress zu unternehmen oder weil ihr einfach das Gefühl hattet, es wäre gut, mal einen Yoga-Kurs zu machen.

Den ersten Yogakurs machen Leute aus den verschiedensten Gründen. Manchmal wird man einfach geführt und weiß nicht warum. Manchmal hat man ein konkretes Problem und manchmal schleppt einen ein Freund oder eine Freundin hin. Anschließend hilft einem das Yoga, etwas mehr zu sich selbst zu kommen. Und plötzlich fallen alle möglichen Sachen ab. Es ist zum Beispiel ein verbreitetes Phänomen, dass etwa drei Viertel der Menschen, die Yoga üben, von selbst aufhören zu rauchen, ohne dass sie sich darum bemühen. Es geschieht einfach. Etwas weniger, aber mindestens auch die Hälfte, werden bei regelmäßiger Yogapraxis zum Vegetarier oder Fast-Vegetarier. Der Wunsch, Fleisch zu essen, hört mehr oder weniger von selbst auf. Es geschieht einfach.

Wenn man regelmäßig meditiert, fallen verschiedene andere Verhaftungen von selbst weg. Wenn wir durch Übungen allmählich Zugang zu unserem wahren Wesen bekommen, fallen eine ganze Reihe von Verhaftungen an die drei Gunas (Reinheit, Ruhelosigkeit, Trägheit), die drei Eigenschaften, die allem Existierenden innewohnen, ab. Und beim vollen Bewusstsein Purushas, bei der vollen Selbstverwirklichung, haben wir überhaupt keine Wünsche mehr. Wir werden dann vollkommen wunschlos. Wir handeln nicht mehr, um etwas zu erreichen, sondern als Instrument in den Händen des Kosmischen.

Viele Menschen erwarten, dass auf dem Yogaweg alles so von selbst geschieht. Das stimmt aber nicht. Wir zäumen öfter das Pferd von hinten auf. Denn Patanjali hat den 15. Vers vorangestellt, wo es heißt, Vairagya (Wunschlosigkeit) kommt durch Meisterung des Willens. Wir müssen schon unsere Willenskraft anwenden. Willenskraft ist eine Manifestation von Buddhi (Vernunft). Wie wir schon gesehen haben, ist Unterscheidungskraft, Viveka, ein Ausdruck von Buddhi. Und die Energie hinter der Unterscheidungskraft kommt aus der Willenskraft. Das ist im Deutschen schwierig zu erklären, da hier Wunsch oder Wille mehr oder weniger gleichgesetzt werden.

Der Wille ist die Kraft, mit der wir das umsetzen, was wir für richtig halten; und zwar sowohl das, was wir aufgrund von Viveka (Unterscheidungskraft) für richtig halten, als auch das, was aus einer tieferen Intuition kommt. Manchmal fühlt man irgendwie intuitiv: Das muss ich tun und das muss ich lassen, das sollte ich nicht mehr tun. Die Intuition kommt mehr vom Bewusstsein des Purusha (durch das Selbst Gottes) her. Wenn man beispielsweise feststellt: „Immer wenn ich etwas Bestimmtes esse, geht es mir anschließend schlecht“, kommt die Viveka und sagt: „Also muss ich aufhören, das zu essen.“, woraus man dann dank der Willenskraft Konsequenzen zieht. Das Verlangen muss zuerst einmal bewusst gemeistert werden. Nicht alles fällt von selbst ab.

Man stellt zum Beispiel fest, immer wenn man eine Tafel Schokolade gegessen hat, fühlt man sich anschließend abgeschlafft. Man merkt, dass es einem  tatsächlich nicht gut tut. Also kommt jetzt die bewusste Entscheidung: „Ich sollte keine Schokolade mehr essen – oder höchstens noch an meinem Geburtstag oder am Geburtstag anderer Leute ein kleines Stückchen.“ Man hat diese Entscheidung getroffen. Was passiert anschließend? Natürlich kommt der Wunsch nach Schokolade. Und oft kommt der Wunsch direkt nachdem wir die Entscheidung getroffen haben.

Normalerweise würde man vielleicht nur einmal am Tag den Wunsch nach Schokolade haben oder einmal im Monat. Aber in dem Moment, wo man den Entschluss gefasst hat, keine mehr zu essen, kommt der Wunsch ständig wieder. Hier müssen wir dann unsere Willenskraft einsetzen und sagen: Nein, ich will und werde diese Schokolade nicht essen. Wenn wir den Entschluss dazu gefasst haben und ihn umsetzen, wird es eine Weile Rebellion geben, aber irgendwann wird der Geist ruhig werden und wird wissen, wer Herr im Hause ist. Und das ist etwas, was auf dem Raja Yoga-Weg von entscheidender Bedeutung ist. Auf dem Bhakti Yoga-Weg geschieht mehr über Hingabe, da ist nicht so viel Willenskraft notwendig. Aber beim Raja Yoga ist es von entscheidender Bedeutung, dass man das, was man sich vorgenommen hat, auch durchführt.

Das ist so ähnlich wie bei der Erziehung von Hunden oder Katzen. Wenn wir wollen, dass die Hauskatzen nicht auf den Tisch springen, müssen wir ganz konsequent sein. Keine Katze darf auch nur einen Moment auf dem Tisch sein. Wenn man die Katze einmal auf den Tisch lässt, vielleicht weil sie einen so durchdringend anschaut, und am nächsten Tag nicht, verunsichert man die Katze damit. Sie wird dadurch nicht glücklich, denn sie weiß nicht mehr, was sie tun soll bzw. darf und was nicht.

Genauso ist es bei einem Hund. Manche Hundehalter spielen immer Tauziehen. Damit ist weder dem Hund noch dem Besitzer gedient. Es ist physiologisch nicht gut für den Hund, wenn er ständig am Halsband ziehen muss. Das schadet seinen Hüften, Knien und Sprunggelenken. Außerdem ist es nicht gut für den Menschen, der den Hund hält, denn es geht ihm ins Genick und in den Hals. Für den Hund ist es ein ständiger Kampf: Wer ist der Chef im Rudel, ich oder er? Der Hund fühlt sich erheblich glücklicher, wenn er weiß: Der Mensch ist der Rudelführer. Sowie er „Fuß“ sagt, muss ich neben ihm gehen und ab und zu darf ich auch mal tun, was ich will. Es liegt in der Natur des Hundes, bei Fuß zu gehen. Der Hund ist ein Rudeltier und im Rudel gibt es eine feste Rangordnung. Wenn wir diese Ordnung schaffen und einhalten, ist der Hund glücklich und zufrieden. Er weiß, da ist jemand, der die Verantwortung hat und er hält sich an dessen Anweisungen.

Ähnlich verhält es sich mit dem menschlichen Geist. Der Geist ist zufrieden, wenn er weiß, da gibt es jemanden, der Herr im Hause ist. Aber das muss er erst lernen, so wie wir einem Hund beibringen müssen, bei Fuß zu gehen. Das geschieht typischerweise durch Lob und Tadel. Tadel geht relativ einfach. Wenn der Hund abhaut, gibt man ihm einen kurzen Ruck mit dem Halsband. Das macht man mehrmals immer dann, wenn er weggeht, obwohl man „Fuß“ gesagt hat. Wenn man das zwei bis drei Tage lang konsequent gemacht hat, geht der Hund immer neben einem, wenn man „Fuß“ sagt. Dann muss man vielleicht noch ab und zu einmal einen Ruck geben und irgendwann braucht man gar keine Leine mehr. Aber man muss konsequent sein. Und das können die wenigsten Menschen. Noch nicht einmal gegenüber ihrem eigenen Hund.

So ist es auch mit unserem Geist. Was wir uns vorgenommen haben, tun wir. Weshalb wir uns auch nicht zu viel vornehmen dürfen. Wenn man dem Hund innerhalb einer Woche Fuß, Platz, Sitz, Pfote geben, auf Kommando Stöckchen holen, beibringen will, wird er rebellieren. Er weiß dann gar nicht mehr, was er überhaupt noch machen soll.

Natürlich muss man ihn auch loben, wenn er es richtig gemacht hat. Und Lob muss nicht immer über´s Essen gehen. Das einfachste Lob ist, ihn zu streicheln und zu sagen: „Ja, guter Hund, das hast du gut gemacht.“ Auf diese Weise müssen wir natürlich auch unser Unterbewusstsein loben. Wenn wir uns beispielsweise entschieden haben, eine Woche oder einen Monat keine Schokolade zu essen, darf es keine Ausnahme davon geben. Lieber erst mal etwas Kleines vornehmen, aber das Unterbewusstsein auf jeden Fall daran gewöhnen: Was auch immer ich mir vornehme, das tue ich auch. Das gilt auch für die spirituelle Praxis.

Besser ist es, sich am Anfang eher wenig vorzunehmen, es aber konsequent auszuführen. Wenn man es gemacht hat, darf man sich ruhig mal auf die Schulter klopfen, geistig oder körperlich. Manche Menschen haben Angst, es würde ihr Ego erhöhen, wenn sie zu sich selbst sagen: „Das hast du gut gemacht.“ Es erhöht das Ego nur, wenn man sich damit identifiziert. Man kann seinen Geist loben, indem man ihm sagt: „Danke, liebes Unterbewusstsein, das hast du gut gemacht, du hast jetzt eine Woche lang auf Schokolade verzichtet oder eine Woche lang täglich Asanas gemacht, ich bin zufrieden mit dir.“ Man muss ihn nicht unbedingt dadurch belohnen, dass man ins beste Restaurant oder ins Kino geht. Meistens reicht es aus, wenn man sich einen Moment Zeit nimmt, vielleicht in der Meditation, sich hinsetzt und sagt: „Ja, liebes Unterbewusstsein, ich bin zufrieden mit dir, das ist gut, was du gemacht hast.“ Manche Menschen erlegen sich zu viel auf, wollen zu schnell immer mehr vom Unterbewusstsein. Das ist nicht gut, irgendwann folgt darauf eine totale Gegenreaktion.

Das ist oft so bei spirituellen Aspiranten. Sie machen etwas und das geht gut. Also nehmen sie sich noch mehr vor. Das klappt auch. Sie nehmen sich noch mehr vor. Klappt auch. Noch mehr Asanas, noch mehr Pranayama, noch mehr Meditation, noch weniger Zeit für dieses, noch weniger Zeit für jenes … Und irgendwann rebelliert das Unterbewusstsein, so dass nichts mehr klappt. Und was macht man, wenn nichts mehr klappt? Man geht ins Café und isst Schokoladenkuchen. Jetzt hat das Unterbewusstsein die Lektion gelernt: Wenn ich alles tue, was mein Herr will, dann werde ich bestraft und muss mehr und mehr machen. Tue ich es dagegen nicht, werde ich belohnt. Also, die Lektion ist ganz klar. Es ist so einfach und weil es so einfach ist, denkt man in den wenigsten Fällen daran.

Wir nehmen uns also etwas vor, tun es eine Weile ganz konsequent und belohnen unser Unterbewusstsein dafür. Aber wir nehmen uns nicht zu viel vor. Wir nehmen uns kleine Dinge vor und schauen, wie es geht.

Ich empfehle oft Anfängern, sich zunächst vorzunehmen, jeden Tag drei Minuten zu meditieren. Wenn man Lust hat, kann man ja länger meditieren. Aber drei Minuten macht man auf jeden Fall jeden Tag. Das ist möglich und wenn man konsequent eine Woche lang jeden Tag drei Minuten meditiert hat, weil man es sich vorgenommen hat, stärkt das den Willen ungemein.

Wenn das Verlangen auf diese Weise allmählich kontrolliert wird, verschwindet es manchmal auch ganz. Den meisten Menschen geht es zum Beispiel so, wenn sie eine Weile lang kein Fleisch mehr gegessen haben. Man hat dann keine Lust mehr darauf, das Verlangen danach verschwindet. Auch wenn man radikal auf Süßigkeiten verzichtet, verschwindet der Wunsch danach. Er mag ab und zu vielleicht noch einmal hochkommen, dann verschwindet er ganz. Es ist nicht so, dass man gar keine Süßigkeiten mehr essen darf. Aber man kann sich beweisen, dass es geht und dass man Herr über den Wunsch ist.

Ich habe mal zwei Jahre lang nichts Süßes gegessen und ich muss sagen, ich hatte auch gar keinen Gedanken mehr daran. Der Anlass war, dass ein Candida-Hefepilz meine Darmflora durcheinandergebracht hatte. Diese Pilze können sich ausbreiten, wenn beispielsweise durch eine Antibiotika-Behandlung die natürliche Darmflora gestört wurde.

Ich konnte mich plötzlich nicht mehr konzentrieren, nicht mehr so gut meditieren, bekam regelmäßig Halsweh, ab und zu Kopfschmerzen, Juckerscheinungen und mein Heuschnupfen, der eigentlich weitgehend weg gewesen war, kehrte zurück. Zuerst wusste ich nicht, worauf diese Symptome zurückzuführen waren. Dann entdeckte ich etwas über diese Pilze in einem Buch und konnte mit der Therapie beginnen. Man muss sich so ernähren, dass einerseits die Candida-Hefepilze abgetötet werden und man gleichzeitig mehr Nährstoffe bekommt, denn wenn der Darm nicht richtig aufnehmen kann, braucht man etwas, um die Kräfte zu stärken.

Der radikalste Teil der Behandlung ist, nichts Süßes zu essen. Kein Honig, keine Feigen, keine Datteln, keine Rosinen, nicht einmal Obst. Das habe ich ein halbes Jahr vollkommen strikt durchgezogen und innerhalb kurzer Zeit war das Verlangen nach Süßigkeiten weg. Am Anfang bedurfte es schon einer Willensanstrengung, denn ich mochte diese Fruchtriegel schon, auch Datteln und solche Sachen. Nach drei Monaten waren alle Symptome verschwunden, nach einem halben Jahr habe ich wieder angefangen, Obst zu essen und danach habe ich auch noch lange auf jeglichen Industriezucker verzichtet.

Das interessante Phänomen dabei ist, dass das Verlangen nach einer Weile verschwindet. Das kannte ich schon von früher. Als ich nämlich vor rund 20 Jahren mit Yoga anfing, habe ich auch radikal aufgehört, Süßigkeiten zu essen und auch damals war das Verlangen weg. Auch nachdem ich ins Yogazentrum eingezogen bin, habe ich noch ein oder zwei Jahre jeglichen Schokoladenversuchungen widerstanden. Aber irgendwann habe ich dann doch mal ein Stückchen gegessen. Das Interessante ist, wenn man radikal dabei bleibt, verschwindet das Verlangen nach einer anfänglichen Rebellion. So kann man ab und zu mal prüfen: „Welche Verhaftungen habe ich und auf welche könnte ich verzichten? Welche Verlangen habe ich und welche könnte ich mir abgewöhnen?“ – Zum einen der Gesundheit zuliebe, aber auch, um sich zu beweisen, dass man Herr über seine Wünsche werden kann. Damit es funktioniert, sollte man sich kleine Dinge vornehmen, nicht übertreiben, konsequent sein und das Lob nicht vergessen. Wenn man sich daran hält, hat man eine ganz wichtige Raja-Yoga-Technik gelernt.

Im zweiten Kapitel kommt Patanjali auf dieses Thema nochmals an zwei Stellen zurück: Einmal bei der Behandlung von Tapas, Askese, und zum anderen, wenn er darüber spricht, dass wir das Verlangen nach sichtbaren und unsichtbaren Objekten durch Meisterung des Willens überwinden. Das spielt im Raja Yoga eine große Rolle.

17. Vitarka–vichârânandâsmitânugamât samprajñâtah     Zurück zum ersten Kapitel

vitarka = urteilen, argumentieren; vichâra = überlegen, nachdenken; ânanda = Glück, Freude; asmitâ = Ich–Sein; Gefühl der Individualität, Gefühl reinen Seins; anugamât = in Verbindung; samprajñâ = Samâdhi mit Prajñâ = Bewusstsein.

Samprajñâta Samâdhi (Samadhi mit Bewusstsein) wird von Denken, Unterscheidung, Wonne und dem Bewusstsein der Individualität begleitet.
Es gibt vier Stufen von Samprajñâta Samâdhi (Samâdhi mit Bewusstsein, „mit Samen“), nämlich Vitarka (urteilen, argumentieren), Vichârana (überlegen, nachdenken), Ânanda (Glück, Freude) und Asmitâ (Ich–Sein).

Das ist eine abstrakte Raja Yoga-Meditationstechnik in vier beziehungsweise sieben Stufen.

Große Meister führt diese Technik sofort zu Samâdhi, aber auch wir können sie ab und zu ausprobieren, selbst wenn wir keine großen Meister sind.

Es gibt verschiedene Interpretationen dieser Samadhi-Zustände (1. Savitarka, 2. Nirvitarka, 3. Savichara, 4. Nirvichara, 5. Sananda,6. Sasmita, 7. Asamprajñâta) und Meditationstechniken. Eine davon, die uns Swami Vishnu erklärt hat, ist:

Samkhya-Philosophie

Vedanta-Philosophie

Asamprajñâta =  reines Sein, ohne Dualität

Nirvikalpa Samâdhi
= ohne Dualität (Selbst&shyverwirklichung)

Sasmita = kosmisches Ego

Isvara = kosmisches Ich + Wonne

Sananda = mit Wonne

Isvara = kosmisches Ich + Wonne

Nirvichara = jenseits aller Veränderungen,
Kosmisches Gemüt als Ganzes

Hiranyagarbha = das kosmische Gemüt

Savichara = Identifikation mit dem kosmischen
Gemüt und seinen Veränderungen

Hiranyagarbha = das kosmische Gemüt

Nirvitarka = Identifikation mit dem physischen
Universum als organisches Ganzes

Viratswarupa = Das ganze Universum ist mein Körper

Savitarka = Identifikation mit dem physischen
Universum in Raum und Zeit

Viratswarupa = Das ganze Universum ist mein Körper

Die unteren sechs Stufen gelten als Samprajnata = mit Bewusstsein

Man wird sich zunächst des Körpers bewusst und des Bewusstseins hinter diesem Körper. Dann geht man dazu über, festzustellen, dass dieser physische Körper nicht im abstrakten Nichts lebt, sondern in ständigem Austausch mit seiner Umwelt. Luft strömt in die Lungen, wird ein Teil des Körpers. Wir atmen Kohlendioxid aus, das in unseren Zellen entsteht. Warum sollten wir uns mit dem Kohlendioxid nur so lange identifizieren können, solange es beispielsweise in unserem Fuß ist? Wir können versuchen, die Luft in uns und draußen zu spüren. Man kann tatsächlich nicht nur den physischen Körper wahrnehmen, sondern auch die Luft darum herum. Ebenso kann man das Zwitschern der Vögel und das Rauschen der Bäume oder des Baches nicht nur hören, sondern sein Bewusstsein darauf ausdehnen.

Die westliche Theorie der Wahrnehmung würde sagen, dass von einem Objekt Klangschwingungen ausgehen, die in die Luft gelangen, sich als Welle bis zum Ohr fortpflanzen und dort die Gehörknöchelchen in Bewegung setzen. Dies führt zu verschiedenen Impulsen, die im Gehirn als Klang interpretiert werden.

Die Samkhya-Theorie sagt, unser Bewusstsein geht zum Objekt hin; dadurch werden wir uns des Objektes bewusst. Auch Sheldrake sagt – ohne sich auf die Samkhya-Philosophie zu beziehen –, dass es bestimmte Phänomene der Wahrnehmung gibt, die wir eigentlich mit unserer normalen westlichen Sichtweise nicht erklären können, sondern damit, dass man sich zu dem Objekt hin ausdehnt. Ich fand es sehr interessant, dass Sheldrake von einer ganz anderen Warte aus zu einer ähnlichen Aussage kommt, nämlich dass es nicht oder nicht allein so ist, dass Klangschwingungen in unser Bewusstsein eindringen, sondern dass unser Bewusstsein mittels der betreffenden Sinneswahrnehmung nach außen geht und wir die Dinge wahrnehmen, weil unser Bewusstsein zu ihnen geht.

Und das können wir ganz gezielt machen: Wir gehen zu den Objekten, die wir sinnlich wahrnehmen: vielleicht die Erde, auf der wir sitzen, die Luft, die wir auf der Haut spüren (besonders wenn sie sehr warm oder kalt ist oder wenn es windig ist) und zu den Dingen, die wir hören. Man kann diese Meditation sogar mit offenen Augen in der Natur machen: sich hinsetzen, Dinge anschauen und versuchen, sie zu spüren, ihr Wesen zu erfassen, in sie hineinzugehen.

Schließlich geht Savitarka (Samadhi-Zustand 1) so weit, dass wir das ganze Universum spüren. Wir spüren, ich bin das ganze Universum und das Unendliche hinter dem Universum.

Der nächste Schritt, Nirvitarka (Samadhi-Zustand 2), ist schwer zu erklären. Nirvitarka ist Identifikation mit dem Universum jenseits von Raum und Zeit, das Erfassen des Prinzips des Körpers beziehungsweise des Universums an sich. Wir identifizieren uns mit dem Bewusstsein hinter der Gesamtheit des Universums.

In Savitarka versuchen wir zwar auch, das physische Universum als organisches Ganzes wahrzunehmen, aber wir nehmen auch seine Veränderungen wahr. Wir konzentrieren uns darauf, das Universum mit allen seinen Veränderungen als ein organisches Ganzes bewusst zu spüren. Bezogen auf den eigenen Körper könnte man sagen, in Savitarka nimmt man seinen eigenen Körper mit all seinen Veränderungen wahr, in Nirvitarka stellt man fest, der Körper ist doch ein Ganzes, jenseits aller Veränderungen.

Diese beiden bewusststeinszustände, Savitarka und Nirvitarka, lassen sich auch in der Vedanta-Philosophie ausdrücken. Die Identifikation mit dem physischen Universum als Ganzes ist Viratswarupa. „Das ganze Universum ist mein Körper“ – das ist die Erfahrung dieser Meditation, darin mündet sie.

Die gleiche Unterscheidung gibt es bei den nächsten beiden Stufen, Savichara (Samadhi-Zustand 3) und Nirvichara (Samadhi-Zustand 4). Savichara, mit Nachdenken, heißt, wir identifizieren uns mit dem Prinzip des Nachdenkens im Universum, also mit dem kosmischen Gemüt.

Nirvichara bedeutet, dass wir jenseits aller Bindungen gehen. Wir spüren das kosmische Gemüt an sich als eine allumfassende Wirklichkeit, die irgendwie eine Einheit bildet.

Der Erfahrung von Savichara und Nirvichara entspricht Hiranyagarbha in der Vedanta, der kosmische Geist („cosmic mind“, nicht das, was man englisch mit „spirit“ bezeichnen würde; die Unterscheidung im Deutschen ist schwierig, da es für beides nur ein Wort gibt, im Sinne von kosmisches Gemüt.

Wenn man den Körper wahrnimmt, nimmt man auch Emotionen und Gedanken wahr. Wir können das eigene Gemüt, das kosmische Gemüt oder die Psyche einschließlich Gedanken und Emotionen wahrnehmen und dabei feststellen, dass unsere Emotionen und Gefühle nicht unabhängig von anderen Emotionen und Gefühlen sind. Dann können wir versuchen, andere Wesen und Objekte zu erfühlen, nicht mehr ihren Körper, sondern ihre Gedanken und Emotionen. Dann gehen wir noch einen Schritt weiter und fühlen: „Ich bin das Bewusstsein hinter allen Gedanken und Gefühlen“. Hinter dem gesamten Universum gibt es nicht nur einen abstrakten Geist, sondern auch ein Gemüt auf der Gefühls- und Prana-Ebene. Dieses Gemüt versuchen wir als Ganzes zu fühlen. Das ist dann der Savichara-Zustand, die Identifikation mit dem kosmischen Gemüt. Wir dehnen unser Bewusstsein aus und fühlen das gesamte Gemüt hinter der Schöpfung. Wir fühlen die kosmischen Gedanken und Emotionen, die kosmische Energie in allen ihren Veränderungen. Wir können nicht jede einzelne Veränderung spüren, aber wir merken: Da ist Veränderung, da ist Rhythmus.

Die nächste Stufe, Sananda (mit Wonne) (Samadhi-Zustand 5), ist eigentlich die Konsequenz aus dem vorhergehenden. Hier gibt es nun kein entsprechendes Begriffspaar wie etwa „Nirwananda“, „ohne Wonne“, sondern es bleibt bei Sananda, mit Wonne. Wenn es uns gelingt, uns als das Gemüt hinter allem, was geschieht, zu fühlen, ist das mit Wonne  und Liebe verbunden. Ananda, Wonne, schließt immer Prema, Liebe, ein und umgekehrt ist Liebe immer auch Wonne. Manchmal fragt man sich bei der abstrakten Vedanta-Philosophie, wo die Liebe hinter dem Ganzen bleibt. Die Liebe ist in Ananda enthalten. Wenn wir uns auf der körperlichen, geistigen und emotionalen Ebene eins fühlen mit allen Wesen, dann entsteht ganz natürlicherweise eine umfassende Liebe und Wonne, ähnlich, wie auch Jesus gesagt hat: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.“ Mein Selbst ist in mir wie auch im Nächsten.

Auf dieser Stufe der Meditation hört man auf, das ganze Wesen, das kosmische Gemüt, zu spüren. Stattdessen nimmt man einfach diese allumfassende Liebe und Wonne wahr.

Das führt zum nächsten Schritt, Sasmita (Samadhi-Zustand 6), der Identifikation mit dem kosmischen „Ich bin“.

Asmitâ (Ich-Sein) werden wir noch im Rahmen des zweiten Kapitels als individuelles Ego kennen lernen. Dort gilt es als Teil der Kleshas, der Ursachen des Leidens.

Aber hier ist Asmitâ nicht als individuelles Ego gemeint, sondern als kosmisches Ego, als das kosmische Gefühl „Ich bin“. Dieses kosmische „Ich bin“-Gefühl mündet schließlich in den letzten Teil, in Asamprajñâta (Samadhi-Zustand 7).

Die unteren sechs Stufen gelten als Samprajnata = mit Bewusstsein. Prajna heißt Erkenntnis, Samprajñâ = mit Erkenntnis. Dabei machen wir konkrete Erkenntnisse.

Asamprajnata heißt ohne Erkenntnisse, ohne Bewusstsein. Wir sind einfach: die Erfahrung reinen Seins. Dies schließt auch weiter Wonne ein, schließt auch weiter das kosmische Ich ein, das reine Selbst, Atman, transzendiert sie aber alle. Das ist der Nirodhah-Zustand oder, wie man im Jnana Yoga in der Vedanta-Philosophie sagen würde, der Zustand von Nirvikalpa Samadhi, die Selbstverwirklichung.

Selbst wenn wir noch keine spirituellen Meister sind, können wir diese Meditationstechnik üben und andeutungsweise ihre Stufen erfühlen, auch wenn sie nicht sofort zu echtem Asamprajnata Samadhi führt. Es ist uns vielleicht möglich, das Bewusstsein auszudehnen, zu merken: „Ich bin das Bewusstsein hinter dem physischen Universum, ich bin das Bewusstsein hinter dem kosmischen Gemüt.“ Vielleicht gelingt es uns nicht gleich auf der ganzen kosmischen Ebene, aber doch so, dass wir mindestens unsere Umgebung und deren Emotionen, Gedanken, Gefühle, Prana erfühlen können. Das können wir immer weiter ausdehnen, bis wir Sananda, die Liebe und Wonne dahinter spüren. Vielleicht gelingt es uns, Sasmita, das Bewusstsein, das „Ich bin“-Gefühl, zu erleben und einen Moment lang im reinen Sein zu verharren.

All diese Schritte sind zunächst nur das Bemühen um Konzentration, Dharana. Es kann uns gelingen, auf jeder Ebene voll zu verschmelzen in Dhyana (Kontemplation) und schließlich wird es wirklich Samadhi (überbewusster Zustand).

Es gibt also die vier Stufen von Samprajnata Samadhi: Vitarka, Vicharana, Ananda, Sasmita, die später noch weiter unterteilt werden in Savitarka und Nirvitarka sowie Savichara und Nirvichara.

Statt sie nun auf dieser kosmischen Ebene zu betrachten, kann man diese Stufen auch als konkrete Meditationsthemen auffassen:

· Vitarka in diesem Sinne ist Meditation über Gegenstände, die wir aus dem physischen Universum kennen, zum Beispiel eine Kerzenflamme, das Meer, einen Klang, also Elemente in Raum und Zeit.

· Vichara ist Meditation über Elemente außerhalb des physischen Universums. Dazu gehören beispielsweise Mantras oder Chakras oder Götter. Shiva zum Beispiel ist eine Gestalt, die es nicht auf der physischen, sondern nur auf der astralen und gedanklichen Ebene gibt.

· Sananda und Sasmita sind dann noch subtiler. Meditationsgegenstand auf der Sananda-Ebene ist Liebe, reine Liebe zu Gott, und Sasmita bedeutet, ganz in das umfassende Gefühl des „Ich bin“ hineinzugehen.

Wir können die Einteilung auch nach Koshas, den Körperhüllen, vornehmen:

· Die Vitarka-Meditation dreht sich um die Annamaya Kosha (Nahrungshülle) und spielt sich auf der Ebene des Physischen ab.

· In der Vichara-Meditation sind es Objekte in der Pranamaya Kosha (vitale Hülle, Lebensenergie), Manomaya Kosha (Geisthülle) und Vijnanamaya Kosha (Intellektuelle Hülle). Dazu gehören beispielsweise die Eigenschaftsmeditation, die Energiemeditation oder auch Reflexion, Nachdenken.

· In Sananda und Sasmita befindet sich die Meditation auf der Anandamaya Kosha-Ebene (Wonnehülle) und ist sehr abstrakt. Dann sind wir in diesem transzendentalen Gefühl von Wonne und reinem Sein. Trotzdem verbleibt dort immer noch ein Rest von „Ich bin“: Ich fühle Wonne, ich fühle Liebe.“ Das heißt, es besteht noch Dualität, Getrenntheit, Zweiheit. Deshalb gehört es noch zu Samprajnata.

Asamprajñâta Samadhi tritt ein, wenn alle geistigen Aktivitäten aufhören. Es gibt kein Gefühl mehr von “Ich“, „Du“ oder „Ich erfahre“. Es bleibt nur reines Sein.

Dies beschreibt Patanjali im 18. Vers.

18. Virâma–pratyayâbhyâsa–pûrvah samskâra–shesh–o`nyah     Zurück zum ersten Kapitel

virâma = aufhören, fallen lassen; pratyaya = Inhalt des Verstandes (der „Keim“ von Samprajñâta Samâdhi); abhyâsa = Übung; pûrvah = vorausgegangen; samskâra = Eindrücke; sheshah = geblieben; anyah = das andere

Asamprajnata Samadhi ist erreicht, wenn alle geistigen Aktivitäten aufhören und nur unmanifestierte Eindrücke im Geist verbleiben.

Asamprajnata Samadhi ist die Selbstverwirklichung. Es gibt keinen Gedanken mehr.

Wenn wir das wieder auf die sieben Bhumikas beziehen (1. Subheccha – Gleichgültigkeit gegenüber Sinnesobjekten, 2. Vicharana – Fragestellen, 3. Tanumanasi – Gleichgültigkeit gegenüber Objekten,  4. Sattwapati – wunschlos, 5. Asamshakti – Nichtverhaftung an die Dinge der Welt, 6. Padartha Bhavana – Erkenntnis der Wahrheit, 7. Turiya – Überbewusstheit), dann ist der verwirklichte Asamshakti („durch nichts berührt“), er ist ein Jivanmukta (ein lebendig Befreiter). In Asamshakti erreicht der Mensch Asamprajnata Samadhi. Im Padarthabhavana-Zustand („sieht Brahman überall“) handelt er fast nicht mehr und in Turiya (endgültige Befreiung) hört er ganz damit auf.

19. Bhava–pratyayo videha–prakrtilayânâm     Zurück zum ersten Kapitel

bhava = Geburt; pratyayah = verursacht; videha = die „Körperlosen“; prakrtilayânâm = von den „in Prakriti Verschmolzenen“

Asamprajnata Samadhi durch Geburt kann von denen erreicht werden, die früher Körperlosigkeit oder Verschmelzung mit Prakriti (Natur, Schöpfung) erlangt haben.

Es gibt Menschen, die praktisch mit einem solchen Bewusstsein geboren werden und relativ schnell in diesem Leben ohne größere Anstrengung die Verwirklichung erreichen. Und zwar deshalb, weil sie früher schon sogenannte Körperlosigkeit oder Verschmelzung mit Prakriti erreicht hatten.

Wenn sich ein Mensch auf der vierten Stufe des Wissens befindet, auf Sattwapatti (Reinheit des Geistes), ist er in Samprajnata Samadhi (Selbstverwirklichung mit Bewusstsein). Von dort gelangt er weiter zu Asamshakti („durch nichts berührt“) und erreicht als Jivanmukta (lebendig Befreiter) die Selbstverwirklichung. Oder es besteht die Möglichkeit, nach dem Tod in Videhamukti einzugehen, in den befreiten, körperlosen Zustand. Dann erfährt man die letzten Stufen des Bewusstseins nach dem Tode.

Nun gibt es auch noch eine andere Möglichkeit. Wenn man diese Stufe von Sasmita Samadhi erreicht hat, wo man sich als das Ich hinter dem ganzen Universum identifiziert, kann man sich mit der gesamten Prakriti (Schöpfung) identifizieren, anstatt direkt weiter zu Purusha, zum eigentlichen Selbst, zu gehen. Man fühlt sich als das Bewusstsein hinter dem ganzen Universum und gleichzeitig als das ganze Universum an sich. Dann erreicht man die Selbstverwirklichung in dem Moment, wo das ganze Universum aufhört zu bestehen, am Ende des Schöpfungszyklus. Bis dahin fühlt man sich eins mit dem Universum und hört erst dann auf zu existieren, wenn das Universum aufhört zu bestehen. Es kann aber auch sein, dass man sich eine Weile mit dem ganzen Universum identifiziert, dann aber erkennt, dass man doch lieber die Verwirklichung erreichen will. In diesem Fall nimmt man nochmals einen Körper an, weil das schneller geht als zu warten, bis das Universum aufhört.

Das heißt also, wenn wir in einem früheren Leben schon sehr weit gekommen sind, kann es sein, dass wir die Verwirklichung schrittweise nach dem Tod erreichen, was allerdings sehr lange dauert. Eine andere Möglichkeit ist, dass wir diese höheren Stufen von Körperlosigkeit, Videha oder Prakriti layana, die Verschmelzung mit Prakriti, erreicht haben und uns entscheiden, nochmals auf diese Welt zurückzukehren. Dann erreichen wir die Befreiung relativ zügig.

Der Weise Ramana Maharshi zum Beispiel kam sehr schnell in diesen Zustand. Er war um die sechzehn, als er plötzlich das Gefühl hatte zu sterben. Seine Beine, Arme und Hände wurden gefühllos, sein Atem hörte auf, das Herz stand still. Und trotzdem merkte er, dass er immer noch lebte. Zwar war sein Körper tot, er spürte ihn nicht mehr, aber es waren immer noch Gedanken da. Er dachte: „Wenn ich schon sterbe, dann sterbe ich auch richtig und höre auf zu denken.“

Er brachte die Gedanken zum Stillstand und hatte sofort die Erfahrung von Samadhi. Nach diesem Erlebnis kam er doch wieder ins Leben zurück. Anschließend lief er von zu Hause weg und begab sich in eine Höhle. In der Höhle haben die Ratten ihn angefressen, bis er von jemandem gefunden wurde, der ihn gepflegt hat. Er war sich all dessen nicht bewusst. Schließlich entstand um ihn herum ein Ashram. Manchmal sprach er ein paar Worte, aber nur sehr wenige. Die meisten Schüler, die zu ihm kamen und Fragen hatten, setzten sich einfach zu ihm und ihre Fragen erledigten sich von selbst. Aber Ramana Maharshi hat kein systematisches gründliches Sadhana (spirituelle Praxis) gemacht, um seine Natur zu transformieren, sondern es kam bei ihm ganz spontan und natürlich.

Er war ein mittelmäßiger Schüler, der seine Studien nicht gerade ernst nahm. Aber er war ein gesunder und kräftiger Junge. Seine Schulkameraden und andere Gefährten hatten Angst vor seiner Stärke. Wenn manche von ihnen Streitigkeiten mit ihm hatten, trauten sie sich nur dann, ihm einen Streich zu spielen, wenn er schlief. Was das betraf, war er eher ungewöhnlich: Er wusste von nichts, was mit ihm während des Schlafes geschah. Man trug ihn fort oder schlug ihn sogar, ohne dass er dabei aufwachte.

Den Menschen, die zu ihm kamen, half Ramana Maharshi nicht nur durch sein persönliches Beispiel und durch seine Unterweisungen, sondern schon allein durch sein Schweigen. Er sagte dazu: „Ein Verwirklichter sendet Wellen spiritueller Kraft aus, die viele Menschen anziehen. Er mag dabei in einer Höhle sitzen und schweigen. Wir können uns lange Vorträge über die Wahrheit anhören und doch kaum etwas begreifen; doch wenn wir in Verbindung mit einem Verwirklichten kommen, werden wir sofort begreifen, obgleich er nichts sagt.“ Selbst diejenigen, die seinem Weg nicht folgten, beeindruckte er durch seine innere Stille, seine Einfachheit und Bescheidenheit. Manchmal stellte einer von ihnen Fragen, und manchmal antwortete er ihnen. Es war eine großartige Erfahrung, vor ihm zu sitzen und in seine strahlenden Augen zu schauen. Viele spürten, wie die Zeit zum Stillstand kam und erfuhren eine Stille und einen Frieden jenseits jeder Beschreibung.

Der Engländer F. H. Humphrys beschrieb Ramana Maharshi 1911 in einem Artikel in der Zeitung International Psychic Gazette wie folgt: „Nachdem wir die Höhle erreicht hatten, saßen wir vor ihm, zu seinen Füßen, und sagten nichts. Wir saßen so eine lange Zeit, und ich fühlte mich aus meinem Körper herausgehoben. Eine halbe Stunde lang sah ich in die Augen des Maharshis, welche nie ihren Ausdruck von tiefer Kontemplation veränderten…. Der Maharshi ist ein Mensch jenseits von Beschreibung in seinem Ausdruck von Würde, Güte, Selbstkontrolle und ruhiger Überzeugungsstärke.“ Weiter schrieb er : „Du kannst dir nichts Schöneres vorstellen als sein Lächeln.“ Und wieder: „Es ist seltsam, was es für eine Veränderung in einem bewirkt, wenn man in seiner Gegenwart war!“

Im Jahre 1947 begann seine Gesundheit nachzulassen. Er war noch keine siebzig, doch er sah viel älter aus. Gegen Ende des Jahres 1948 zeigte sich ein kleiner Knoten unter dem Ellenbogen seines linken Armes. Als er wuchs, schnitt ihn der Arzt, der für die Ashram-Apotheke zuständig war, heraus. Aber innerhalb eines Monats kehrte der Knoten zurück. Es wurden Chirurgen aus Madras geholt, und sie operierten. Die Wunde heilte nicht, und der Tumor kam wieder. Bei weiteren Untersuchungen wurde diagnostiziert, dass es sich um ein Sarkom handelte. Die Ärzte empfahlen, den Arm über dem betroffenen Teil zu amputieren.

Ramana erwiderte mit einem Lächeln: „Es besteht kein Grund zur Beunruhigung. Der Körper selbst ist eine Krankheit. Soll er sein natürliches Ende haben. Warum ihn verstümmeln? Einfaches Verbinden der betroffenen Stelle reicht aus.“ Zwei weitere Operationen mussten durchgeführt werden, aber der Tumor kehrte zurück. Man versuchte es mit einheimischen Medizinsystemen und auch mit Homöopathie. Die Krankheit fügte sich nicht der Behandlung.

Der Weise war ganz uninteressiert, und völlig gleichgültig gegenüber dem Leiden. Er war wie ein Zuschauer, der beobachtet, wie die Krankheit den Körper verzehrt. Aber seine Augen leuchteten so hell wie immer, und seine Gnade floß allen Wesen zu. Die Menschen kamen in großer Anzahl. Ramana bestand darauf, dass ihnen erlaubt wird, seinen Darsana (Anblick des Guru, der nach Ansicht der Hindus Glück bringt) zu haben. Devotees (Verehrer) wünschten sich von ganzem Herzen, dass er seinen Körper durch Anwendung von übernatürlichen Kräften heilen würde. Ramana hatte Mitleid mit denen, die über sein Leiden trauerten, und er versuchte sie zu trösten, indem er sie an die Wahrheit erinnerte, dass Bhagavan nicht der Körper ist.

Das Ende kam am 14. April 1950. An diesem Abend gab der Weise den Devotees, die kamen, Darsana. Alle, die im Ashram waren, wussten, dass das Ende nahte. Sie saßen und sangen Ramanas Hymne an Arunachala mit dem Refrain Arunachala-Siva. Der Weise bat seine Betreuer, ihn hinzusetzen. Er öffnete seine leuchtenden und gnädigen Augen für einen kurzen Moment, ein Lächeln, eine Träne der Seligkeit tropfte aus seinen äußeren Augenwinkeln, und um 8.47 Uhr hörte er auf zu atmen. Es gab keinen Kampf, keinen Anfall, keines der Todeszeichen.

So auch bei Anandamayi Ma, von der es heißt, sie sei schon als Selbstverwirklichte auf die Welt gekommen. Sie musste sich nur noch ein bisschen weiterentwickeln und ihr Karma abarbeiten.

20. Shraddhâ–vîrya–smriti–samâdhi–prajnâpûrvaka itareshâm     Zurück zum ersten Kapitel

shraddhâ = Glaube; vîrya = fester Wille oder Energie; smriti =Gedächtnis; samâdhi–prajñâ = „hohes Wissen“, scharfer Intellekt, wesentlich für Samadhi; pûrvaka = dem vorangeht; itaresâm = für andere

Andere erlangen Asamprajnata Samadhi durch Glauben, Energie, Erinnerung und klares Bewusstsein.

Um zu Asamprajnata Samadhi zu kommen sind also vier Dinge nötig.

Das erste ist Glaube. Wir müssen Vertrauen haben. Zwar brauchen wir zu Anfang des Weges eine gesunde Skepsis, aber immerzu an allem zu zweifeln führt uns auch nicht weiter. Wir müssen prüfen: Macht das Ganze Sinn? Beruht es auf alten Schriften? Dann müssen wir uns bis zu einem gewissen Grad darauf einlassen, glauben oder auch um Glauben bitten. Anschließend machen wir dann eigene Erfahrungen.

Als zweites müssen wir natürlich Energie hineinstecken. Von nichts kommt nichts, wie es so schön heißt. Alles, was wir an Energie in unsere spirituelle Praxis investieren, bekommen wir vielfach zurück. Es ist also ein „Engelskreis“ – im Unterschied zum „Teufelskreis“. Wir strengen uns beispielsweise an, unser Leben sattwig zu gestalten. Dabei stoßen wir auf Widerstände unterschiedlicher Art: innere Widerstände, eigenes Tamas (Trägheit), das eigene Unterbewusstsein und äußere Widerstände. Man hat wenig Zeit, andere Menschen erwarten etwas anderes. Aber wir tun es trotzdem. Und weil wir es machen, bekommen wir mehr Energie. Und weil wir mehr Energie haben, können wir noch mehr Energie hineinstecken, usw.

Und wir müssen uns immer wieder daran erinnern, wozu wir das alles machen. Es geht so schnell, zu vergessen, was eigentlich unser Ziel im Leben ist. Man vergißt es im Laufe des Tages, wenn man seine Arbeiten erledigt, wenn man sich mit Menschen auseinandersetzt, wenn man schläft. Wir müssen uns immer wieder daran erinnern, unser Sadhana (spirituelle Praxis) regelmäßig zu machen und auch daran, wozu wir das Ganze tun. Wir müssen uns daran erinnern, das Mantra auch zwischendurch zu wiederholen. Wir müssen uns erinnern, uns an Gott zu erinnern.

Und natürlich brauchen wir klares Bewusstsein. Wir müssen bewusst durch die Welt gehen, die Gegenwart bewusst erfahren.

Wir brauchen Glauben, müssen Energie hineinstecken, uns erinnern und bewusst durch die Welt gehen. Wenn wir bewusst leben, bewusst Asanas und Pranayama machen, bewusst mit Menschen sprechen, bewusst die Lektionen des täglichen Lebens lernen, können wir sehr schnelle Fortschritte machen.

Man kann diesen Vers auch auf die vier Hauptwege des Yoga beziehen:
· Glauben ist Bhakti Yoga.
· Energie ist Karma Yoga, denn wir müssen ins tägliche Leben Energie hineinstecken.
· Erinnerung gehört zum Raja Yoga, denn im Raja Yoga sind diese Techniken erläutert, an die wir uns immer wieder erinnern müssen.
· Klares Bewusstsein brauchen wir im Jnana Yoga, wo wir versuchen, bewusst durchs Leben zu gehen, unsere Viveka, die Unterscheidungskraft, und Intuition zu schulen.

21. Tîvra–samvegânâm âsannah     Zurück zum ersten Kapitel

Tîvra–samvegânâm = von jenen, deren Wunsch von intensiver Stärke ist; âsannah = „nahe sitzend“, nahe

Es (Samadhi, die Befreiung) wird schnell erreicht, wenn der Wunsch danach intensiv ist.

22. Mridu–madhyâdhimâtratvât tato’pi visheshah     Zurück zum ersten Kapitel

Mridu = mild, sanft; madhya = mittelmäßig; adhimâtratvât = intensiv, mächtig; tatah = von ihm, nach dem; api = auch, sogar; visheshah = Abstufung, Unterscheidung

Der Wunsch nach Befreiung kann mäßig, mittelmäßig oder intensiv sein.

Wir sollten zwar allen Wünschen entsagen, aber es gibt einen, den wir verstärken sollten und das ist der Wunsch nach Befreiung. Viele Menschen wollen die Befreiung, aber gleichzeitig auch noch so viele andere Dinge. Man kann sich einmal grundsätzlich überlegen: Was will ich im Leben noch erreichen und worauf wäre ich bereit zu verzichten – wirklich zu verzichten? Der Grad der Priorität des Wunsches nach Befreiung bestimmt, wie schnell es mit der Verwirklichung geht. Nur wenn der Wunsch nach Befreiung mindestens 50 % unseres Strebens ausmacht, wird die Befreiung schnell kommen. Ist der Wunsch nach Befreiung niedriger als 50 %, ist er uns weniger wichtig als all die anderen Sachen. Ist er uns hingegen wichtiger als alle anderen Dinge, dann ist der Weg zur Befreiung da. Denn wenn er mehr als 50 % unseres gesamten Strebens ausmacht, dann fließt dieser Wunsch in alle unsere Entscheidungen, in unser tägliches Leben, unser ständiges Denken und Fühlen ein.

Den Wunsch nach Befreiung kann man auch kultivieren.

Eine Möglichkeit dafür ist das Zusammensein mit anderen auf dem Weg (Satsang), vorzugsweise mit selbstverwirklichten Meistern. In der Gegenwart von selbstverwirklichten Meistern entsteht der Wunsch: So möchte ich auch sein. Es gibt auch den sogenannten negativen Satsang, wobei negativ hier nicht im Sinne von schlecht zu verstehen ist, sondern in Abwesenheit von Meistern. Das heißt, Bücher von oder über selbstverwirklichte Meister zu lesen oder ein Video anzuschauen, wie zum Beispiel das von Ramana Maharshi oder Anandamayi Ma oder auch das englische Video von Swami Sivananda, „The Man and his Vision“. Das inspiriert und erhebt. Wenn man nicht physisch mit einem Meister zusammen sein kann, dann kann man es über Bücher, Videos oder Kassetten tun. Satsang ist sehr wichtig, eine Quelle der Inspiration. Auch hierher in den Ashram zu kommen und hier zu üben, hilft, den Wunsch nach Befreiung zu erhöhen.

Eine zweite Weise, den Wunsch nach Befreiung zu verstärken ist, Unterscheidung zu üben, das Leben zu studieren. „Look into the defects of material life“ („Studiere die Unzulänglichkeiten des äußerlichen Lebens“, wie Swami Sivananda sagt. Das ist zwar ein unpopulärer Aspekt des Yoga. Lieber ist uns die Betrachtungsweise, dass Yoga das Leben befriedigend macht, unserem Leben Erfüllung gibt. Viveka (Unterscheidungskraft) üben heißt letztlich, zu erkennen, dass das Leben mit dem Tod endet. Was ist wirklich sinnvoll vor dem Hintergrund, dass die äußere Welt mit dem Tod aufhört? Alles, was wir auf der physischen Ebene aufbauen, werden wir irgendwann verlieren. Die Manu Smriti – eine alte Schrift von einem Meister namens Manu – sagt: Es gibt drei Dinge:

1. Die materiellen Dinge, ohne die der Mensch kommt, die er im Leben anhäuft und ohne die er wieder geht. Wir kommen nackt und wir gehen nackt. Wir nehmen nichts mit. Noch nicht mal einen Pfennig oder Aktien und auch kein Gold, das angeblich krisensicher sein soll, auch wenn es in den letzten 20 Jahre beständig an Wert verloren hat. Nichts an materiellen Werten ist sicher. Aber es ist ganz sicher, dass wir auf der materiellen Ebene alles verlieren werden. Vieles verliert man sogar noch im Leben. Viele Menschen, die Geschäfte aufgebaut haben, sind gescheitert. Häuser, die Menschen sich gebaut haben, sind eingestürzt. In Kriegsgebieten oder bei Naturkatastrophen verlieren die Menschen alles. Wer sagt, dass uns das nicht auch so gehen kann? Wir denken immer, uns passiert das nicht. Es kann aber schnell passieren und sei es nur durch eine Wirtschaftskrise, wie unlängst in Ostasien. In der Volkswirtschaftslehre ist es sehr wohl bekannt, dass unsere Wirtschaft innerhalb von zwei Jahren zusammenbrechen kann, wenn ungünstige Umstände zusammenkommen. Deshalb sollten wir uns überlegen, ob es sich wirklich lohnt, auf dieser Ebene so viel Energie, Zeit, Gedanken und Gefühle zu investieren.

2. Dann gibt es etwas, mit dem kommen wir, das verändert sich im Laufe des Lebens und wenn wir gehen, nehmen wir es anders mit. Das ist unser Charakter und unser Karma. Wir kommen mit einem bestimmten Charakter und unserem Karma auf die Welt. Schon Babies haben ihre eigene Persönlichkeit. Bei der gleichen Mutter und dem gleichen Vater, in gleichen Lebensumständen sind Kleinkinder deutlich unterschiedlich. Und hoffentlich entwickeln wir unseren Charakter auf positive Weise.

Wenn wir schon die Selbstverwirklichung nicht erreichen, sind wir mindestens am Ende unseres Lebens eine positivere, liebevollere, willensstärkere Persönlichkeit. Und hoffentlich haben wir viel Gutes getan, wenn es uns schon nicht gelungen ist, das ganze Leben nur Nishkama Karma Yoga auszuführen, also vollkommen wunsch- und verhaftungslos zu handeln. Und wir haben hoffentlich wenigstens etwas getan, um positives Karma zu erzeugen. Das Ziel des Yogis ist es natürlich, gar kein Karma zu erzeugen, auch kein positives. Aber wenn wir schon Karma erzeugen, weil es uns nicht gelingt, unser Ego ganz zurückzunehmen, dann wollen wir wenigstens gutes Karma erzeugen. Swami Vishnu hat manchmal im Scherz gesagt: „Die beste Investition sind Spenden und gute Werke, denn das bekommt man ganz sicher wieder zurück, sogar mit Zinsen. Was wir in den Aktienmarkt investieren, verlieren wir ganz sicher, totsicher, nämlich spätestens mit dem Tod.“

3. Wir kommen mit etwas, das sich nicht verändert und wir gehen auch damit. Das ist unser Selbst. Das Selbst, mit dem wir kommen und gehen ist ewig, ohne Anfang und Ende, unberührt und unveränderlich.

Das sollten wir uns öfter vor Augen führen, vor allem dann, wenn wir wieder im Begriff sind zu glauben, dass wir irgendetwas unbedingt brauchen. Wir sollten uns fragen: „Macht mich das wirklich glücklich?“ Und schrittweise werden wir erkennen: „So glücklich macht es mich gar nicht.“ Vielleicht tun wir es trotzdem, weil unser Unterbewusstsein nicht ausreichend davon überzeugt ist. Manche Wünsche muss man einfach erfüllen. Aber nachher, wenn man es erreicht hat und feststellt, dass es einen wirklich nicht glücklich gemacht hat, kann man seinem Geist sagen: „Siehst du, ich hab’s dir ja gesagt“. Vor allen Dingen verlieren wir so die Besessenheit, mit der Menschen ihren Ideen folgen. Viele brauchen unbedingt dies oder jenes, um glücklich zu sein. Aber in Wirklichkeit braucht man keine konkreten äußeren Objekte. Natürlich ist es gut, ein Dach über dem Kopf und etwas zu essen zu haben, zu wissen, man ist auch am nächsten Tag noch seines Lebens sicher. Aber über diese existentiellen Grundbedürfnisse hinaus ist alles andere nicht so wichtig.

Durch solche Reflexion gewinnt man eine große innere Sicherheit. Und als nächstes führt sie einen zu der Überlegung: „Wonach lohnt es sich wirklich zu streben? Was macht mich wirklich glücklich?“ – Und das ist nur der Wunsch nach Befreiung, nach Selbstverwirklichung, Gottesverwirklichung, Erfahrung der Liebe Gottes, wie auch immer wir es ausdrücken wollen. Das ist es, was glücklich macht. Indem wir also Viveka, Unterscheidungskraft, entwickeln und gleichzeitig auch Vairagya, Wunschlosigkeit, können wir den Wunsch nach Befreiung kultivieren.

Und wir können ihn erhöhen, indem wir darum beten: „Oh Gott, ich habe so viele Wünsche. Bitte erhöhe in mir den Wunsch nach Befreiung“.

Als vierter Weg gilt Karma Yoga. Es heißt, wenn wir gutes Karma, gute Handlungen ausführen, ohne etwas zu erwarten, dann ist das Resultat ein gesteigerter Wunsch nach Befreiung. Wenn wir jemandem etwas Gutes tun mit der Vorstellung, dafür belohnt zu werden, erhalten wir tatsächlich irgendwann irgendeine Art von Belohnung. Aber darüber hinaus hat es keinen größeren Nutzen. Wenn wir dagegen jemandem helfen, weil es einfach nötig war, weil es die Situation erforderte und wir gerade da waren, also im Sinn einer wirklichen Karma-Yoga-Handlung, dann manifestiert sich das in einem gesteigerten Wunsch nach Befreiung.

Dasselbe gilt für Bhakti-Yoga-Aufgaben. Wenn wir Pujas (Verehrungsrituale) ausführen, Mantras singen, innere Hingabe und Demut üben, zieht das die Gnade Gottes an, die sich dann als gestärkter Wunsch nach Befreiung äußert.

23. Îshwara–pranidhânâd vâ     Zurück zum ersten Kapitel

Îshwara = Gott; pranidhânât = durch fromme Hingabe, Selbstaufgabe, Ergebung; vâ = oder

Erfolg wird von denen schnell erlangt, die Ishwara (Gott) hingegeben sind.

Hier erscheint erstmals das Konzept von Ishwara, Gott. Patanjali erläutert nicht weiter, wer oder was Gott ist. Denn das Raja-Yoga-System beruht auf der Samkhya-Philosophie, einem der sechs klassischen Philosophiesysteme. Samkhya ist eigentlich ein atheistisches System; es wird zwar nicht gesagt, dass es keinen Gott gibt, aber das Thema wird auch nicht erwähnt.

Patanjali als Praktiker hat nun aber beobachtet, dass Menschen, die einen starken Glauben an Gott haben, Gott verehren und Gott hingegeben sind, die Selbstverwirklichung sehr schnell erreichen. Hingabe zu Gott ist eine der schnellsten Weisen zur Selbstverwirklichung. Und er hat auch festgestellt, dass längst nicht alle Menschen, die Gott verehren, zur Befreiung kommen, sondern dass es einer bestimmten Einstellung dazu bedarf. Es gab immer schon auch in Indien Menschen, deren Glauben eher fanatisch oder nur rein äußerlich war. Allerdings wurden Religionszwistigkeiten in der Regel über Diskussionen ausgetragen. Bis zum Einfall der Moslems waren Religionskriege in Indien relativ unbekannt. Aber fanatischer oder nicht-verinnerlichter Glaube führt eben nicht zur Befreiung.

Deshalb hat Patanjali beobachtet und definiert, wie die Gottesverehrung beschaffen sein muss, bei der man die Befreiung erreicht:

24. Klesha-karma-vipâsakâshayair aparâmrishtah purusha-vishesha Îshwarah     Zurück zum ersten Kapitel

klesha = Leid, Elend, Ursache des Elendes; karma = Taten, Handlungen; vipâka = Vollendung, Erfüllung; âshayaih = Samenkeime, in denen Wünsche schlummern; aparâmristah = unberührt; purusha = Seele, eine individuelle Einheit oder ein Zentrum göttlichen Bewusstseins; vishesha = besonders; Ishwarah = Gottheit

Ishwara ist das besondere Zentrum göttlichen Bewusstseins, das unberührt ist von Leid, Karma oder Wünschen.

Die Vorstellung, Gott könne leiden, ist irrig und führt nicht zur Befreiung.

Die Christen stellen sich Jesus als Leidenden vor. Die Passionsgeschichte ist ein zentraler Aspekt der christlichen Lehre. Aber Jesus war eben eine Manifestation Gottes, er war nicht Gott selbst. Es hat also nicht Gott selbst gelitten, sondern Jesus als seine Manifestation. Aber schließlich hat Jesus auch triumphiert und leidet jetzt nicht mehr.

Die Vorstellung, dass Gott leidet oder es uns übel nimmt, wenn wir ihn nicht verehren, führt uns nicht zur Befreiung. Gott braucht keine Verehrung und auch keine Opfergaben. Gott will nicht, dass alle Menschen Christen oder Moslems oder Hindus werden. Gott erwartet auch nicht von uns, dass wir dieses oder jenes tun und wenn wir es nicht tun, ist er uns nicht böse. Natürlich gibt es das Gesetz des Karmas. Aber es ist nicht so, dass Gott Wünsche oder Vorlieben hätte. Gott ist frei von Leiden, frei von Karma und frei von Wünschen. Gott bevorzugt weder Hindus noch Moslems noch Christen. Gott hat kein Interesse daran, ob mehr Menschen Yoga praktizieren oder nicht.

Es heißt zwar, dass Gott uns sucht und wenn wir einen Schritt zu Gott hin machen, er hundert Schritte auf uns zugeht. Aber das ist nicht ein Wunsch, den er hat, sondern es liegt in der Natur Gottes, in seiner allumfassenden, bedingungslosen Liebe.

Mehr Worte verliert Patanjali eigentlich nicht darüber, was Ishwara ist. Ob er weiblich oder männlich, persönlich oder unpersönlich, Schöpfer der Welt ist oder nicht, bleibt dahingestellt. Wir können ihn uns auf verschiedene Weisen vorstellen.

Patanjali gibt noch drei weitere Aphorismen über Ishwara:

25. Tatra niratishayam Sarvajna–bîjam     Zurück zum ersten Kapitel

tatra = in Ihm; niratishayam = das Höchste, Unübertroffene; sarvajna = der Allwissende; bîjam = der Same, das Prinzip

In ihm liegt der Same der Allwissenheit.

Wir können alles Wissen erfahren, wenn wir uns auf Ishwara beziehen. Wir können entweder zum höchsten Wissen kommen, indem wir meditieren und in uns selbst hineingehen, denn in uns selbst ist alles Wissen. Oder wir können zu Gott beten. Wenn wir zu Gott beten, wird er uns führen und uns alles Wissen bringen.

26. Sa pûrveshâm api guruh kâlenânavacchedât     Zurück zum ersten Kapitel

sa = Er; pûrveshâm = von den Alten, von den Vorherigen; guruh = Lehrer; kâlena = durch die Zeit; anavacchedât = da er nicht begrenzt oder bedingt ist

Unbegrenzt durch Zeit ist Er, von den ältesten Zeiten her, der Lehrer aller Lehrer.

Ishwara selbst ist der ursprüngliche Guru (Lehrer). Unsere Guru Parampara (Schüler-Lehrer-Tradition) beginnt bei Narayana. Narayana ist Vishnu, also eine Manifestation von Ishwara. Die Hatha Yoga Guru Parampara fängt bei Shiva an. Alle Guru Paramparas in Indien fangen letztendlich mit Gott an, indem ursprünglich ein Lehrer die Weisheit direkt von Gott empfangen hat. So ist Gott der Lehrer aller Lehrer.

Unabhängig davon können wir direkten Zugang zu Gott und göttliche Führung erhalten, indem wir zu Gott beten.

Wenn wir vor wichtigen Entscheidungen stehen, haben wir drei Möglichkeiten:

Wir können uns zum einen an unser Unterbewusstsein richten. Das Unterbewusstsein verfügt über bestimmte Erfahrungen und ein gewisses Wissen.

Noch besser wäre es, sich an das höhere Selbst zu wenden, aber oft ist beides schwierig, wenn wir etwas verzweifelt sind.

Den meisten fällt es dann leichter, sich an Ishwara, an Gott, zu erinnern oder auch an den Guru. Und wenn wir tief genug von Herzen beten, bekommen wir unweigerlich, in jeder Situation, überall, Führung. Sei es in Form einer inneren Gewissheit oder sogar als Vision.

27. Tasya vâchakah pranavah     Zurück zum ersten Kapitel

tasya = Sein; vâchakah = Bezeichner, Anzeiger; pranavah = OM, ausgesprochen als AUM

Er manifestiert sich in dem Wort Om.

Eine weitere Weise, zu Gott zu kommen, ist die Mantrawiederholung. Patanjali nennt hier besonders Om als grundlegendes Mantra.

28. Tajjapas tad–artha–bhâvanam     Zurück zum ersten Kapitel

Tat-japa = seine ständige Wiederholung; tat-artha = seine Bedeutung; bhâvanam = mit Gefühl, Hingabe, Versenkung

Ständige Wiederholung von OM und Meditation über seine Bedeutung (führt zu Ishwara bzw. Samadhi).

Wenn wir Om wiederholen, über OM meditieren, führt uns das zu Gott und zu Samadhi.

Das ist die dritte Meditationstechnik, die Patanjali anbietet.

Die erste war die siebenstufige abstrakte Meditation, die für sehr fortgeschrittene Schüler hilfreich ist und auch für weniger fortgeschrittene ab und zu. Als ausschließliche Meditationstechnik ist sie aber für die Mehrheit nicht geeignet, weil sie zu abstrakt ist.

Eine zweite Möglichkeit ist, einfach Gott zu verehren, abstrakt an Gott zu denken, über ihn zu meditieren, zu ihm zu beten.

Und die dritte, die er hier erwähnt, ist über Om zu meditieren, und zwar mit Gefühl und Gewahrwerden der Bedeutung. Das gilt natürlich nicht nur für Om, sondern für die Meditation über jedes Mantra.

Jetzt sagt er noch etwas Interessantes:

29. Tatah pratyak–chetanâdhigamo ’py antarâyâ–bhâvash cha     Zurück zum ersten Kapitel

tatah = von ihr (dieser Übung); pratyak = Nachinnenwenden; chetanâ = Bewusstsein; adhigamo = Erreichen; api = auch; antarâyâ = Hindernisse; abhâva = Abwesenheit, Verschwinden; cha = und

Durch die Wiederholung von OM ergeben sich erleuchtete Innenschau und die Beseitigung aller Hindernisse.

Wenn wir normalerweise über etwas nachdenken, versinken wir meist schnell im Sumpf unserer Gedanken. Ist unser Allgemeinbefinden beim Nachdenken gerade gut, dann ist es schön. Wenn es uns aber nicht so gut geht und wir nachdenken, dann kreisen die Gedanken beständig und wir sacken immer mehr in den Sumpf hinein. Währenddessen, wenn wir meditieren – damit ist gemeint, sich ruhig hinzusetzen und sein Mantra zu wiederholen –, wird der Geist klarer. Wenn wir dann mit diesem durch Meditation erhobenen Geist nachdenken, kann die Antwort leichter kommen. Das bedeutet erleuchtete Innenschau.

Und Patanjali verspricht uns auch noch die Beseitigung aller Hindernisse. Wir brauchen nur OM zu wiederholen und alle Hindernisse sind beseitigt. Das klingt gut – ob es wohl ausreicht ….?

Nach der indischen Unabhängigkeit kam einmal ein Politiker zu Swami Sivananda in den Ashram und zeichnete ihm ein vollständiges Bild aller Schwierigkeiten, vor denen Indien damals stand: Die Flüchtlinge, die aus Pakistan nach Indien geflohen waren. Die Moslems, die Angst hatten, dass die Hindus sich jetzt an ihnen rächen würden. Da waren die verschiedenen kleinen Staaten innerhalb Indiens, die es vorher gegeben hatte und die zum Teil britische Protektorate, in Bezug auf die Innenpolitik aber weitestgehend unabhängig gewesen waren und die in den indischen Gesamtstaat integriert werden sollten. Die hohen Schulden und der Aufbau der Verwaltung: Die Engländer hatten Indien mehr oder weniger überstürzt verlassen, alle hohen Posten in der Verwaltung waren von Engländern besetzt gewesen und niemand war darauf vorbereitet. Die ganze Verwaltung war zusammengebrochen. Wie kann die Wirtschaft wieder auf die Beine kommen? Wie kommt man der Korruption bei? Die Gefahr eines Krieges mit Pakistan drohte usw. Insgesamt ein riesiger Berg von Schwierigkeiten, vor dem das Land stand.

Swami Sivananda hörte sich das alles aufmerksam und geduldig an und als der Politiker ihn fragte, was die Lösung für all diese Probleme sein könnte, sagte Swami Sivananda im Brustton der Überzeugung: „Repeat the name of God that is the only solution“ – „Wiederholen Sie den Namen Gottes, das ist die einzige Lösung“. Der andere war erst mal wie vor den Kopf geschlagen. Er hatte erwartet, Swami Sivananda würde ihm großartige Ratschläge zu den einzelnen Problemen geben. Aber er sagte tatsächlich nur: „Wiederhole den Namen Gottes …“

Wenn die Probleme so groß sind, dass wir sie nicht lösen können, dann kann sie nur Gott lösen. Indem wir den Namen Gottes wiederholen, bekommen wir Zugang zu ihm. Dann kommt die Gnade Gottes, so dass wir fähig werden, das auszuführen, was nötig ist und was innerhalb unserer Möglichkeiten liegt. Außerdem befreit es uns von dem Gefühl, dass wir die Verantwortung für alles haben, dass wir alles ändern und tun müssen. Wir haben ohne Zweifel Aufgaben und wir versuchen, sie so gut wie möglich zu erfüllen. Aber es ist Gottes Aufgabe, sich um diese Welt zu kümmern. Wir sind das Instrument dafür und wir müssen offen sein, damit Gottes Gnade durch uns fließen kann, so dass wir auch in unübersichtlichen Situationen richtig handeln.

Auch auf vielen anderen Ebenen gibt es Hindernisse, die wir durch Mantrawiederholung überwinden können. Es ist immer wieder erstaunlich, wenn man das über eine gewisse Zeit ausprobiert: Konzentriert man sich auf das Mantra und wiederholt es in schwierigen Situation etwas länger, dann verschwinden die Hindernisse. Es ist wirklich verblüffend, aber es ist tatsächlich so.

Und obwohl ich jetzt schon 19 Jahre lang Mantras wiederhole, weiß ich bis heute nicht, wie sie eigentlich wirken, sondern nur, dass sie wirken. Ich gebe zwar großartige Vorträge über die Wirksamkeit von Mantras, aber ihre Wirkungsweise an sich ist ein Mysterium.

Das sagt auch Shri Karthikeyan immer wieder, wenn er hier ist: „The longer i live the more i see that the whole world is a mystery. Life is a mystery. Mind is a mistery. God is a mystery. Mantra is a mystery. How everything works, nobody knows“ – „Je länger ich lebe, desto mehr erkenne ich, die ganze Welt ist ein Mysterium. Das Leben ist ein Mysterium. Der Geist ist ein Mysterium.  Gott ist ein Mysterium. Mantras sind ein Mysterium. Niemand weiß, wie alles funktioniert.“ Dass es wirkt, wissen wir; wie genau, darüber haben wir zwar verschiedene Theorien, zum Beispiel Klangschwingungen, Resonanz usw., aber die Wirkung ist tiefer, als man logisch erfassen kann.

Und jetzt zählt uns Patanjali die Hindernisse auf, die es auf dem Weg gibt:

30. yâdhi–styâna–samshaya pramâdâlasyâ–virati–bhrânti–darshanâ–labdhabhûmi–katvânavasthitatvâni chitta–vikshepâs te `ntarâyâh     Zurück zum ersten Kapitel

vyâdhi = Krankheit; styâna = Stumpfsinn, Teilnahmslosigkeit; samshaya = Zweifel; pramâdâ = Achtlosigkeit; âlasya = Trägheit; avirati = Haften an Dingen; bhrânti–darshana = Täuschung, irrtümliche Ansicht; alabdha–bhûmikatva = Nichterreichen einer Stufe, Unfähigkeit, einen Halt zu finden; ana-vasthitatvâni = Unstetigkeit, Unbeständigkeit; chitta = Verstand; vikshepas = Zerstreuungen; te = sie; antarâyâh = Hindernisse

Die Hindernisse für die Verwirklichung sind Krankheit, geistige Trägheit, Zweifel, Gleichgültigkeit, Faulheit, Verlangen nach Vergnügen, Täuschung, die Unfähigkeit zur Konzentration und Ruhelosigkeit des Geistes durch Ablenkungen.

Hier erwähnt Patanjali ein paar ganz typische Hindernisse, mit denen man sich auseinandersetzen muss. Wenn Menschen mir von ihrem Problem erzählen, reicht es oft aus, wenn ich ihnen sage, dass andere das auch haben. Wenn sie wissen, das ist normal, andere haben das auch, können sie beruhigter damit umgehen.

Krankheit ist ein Hindernis aus verschiedenen Gründen.

Zum einen natürlich, weil Krankheit uns schwächt. Wenn wir müde oder erkältet sind oder ein Bein gebrochen haben, ist es etwas schwer, sich zur Meditation hinzusetzen.

Zum zweiten führt Krankheit aber auch oft zu Zweifeln am Yogaweg. Es gibt diese eigenartige Vorstellung, dass man nicht mehr krank wird, wenn man Yoga übt. Das wird bestärkt durch die teilweise etwas übertriebene Darstellung von Wirkungen der Yogaübungen in Yogabüchern – auch in denen von Swami Sivananda und Swami Vishnu Devananda. Im Kapitel über Gesundheit im Buch „Göttliche Wonne“ von Swami Sivananda heißt es: „Gesundheit ist das Geburtsrecht des Menschen und gesund sind wir dann, wenn wir die Gesetze der Natur beachten.“ Das ist der typisch indische Stil der Übertreibung.

Es stimmt, dass wir weniger krank werden, wenn wir Yoga üben. In Amerika wurde eine Studie durchgeführt, die belegt, dass Menschen, die regelmäßig Yoga üben, nur ein Viertel der Krankheitskosten im Vergleich zum Durchschnitt verursachen. Das ist viel. Man könnte also die Gesundheitsvorsorgekosten auf ein Viertel reduzieren, wenn alle Yoga üben würden. Nur –  Menschen, die Yoga üben, werden im Schnitt auch mindestens zehn Jahre älter als andere, so dass die Renten länger beansprucht werden. Folglich müssten die Krankenkassenbeiträge gesenkt und die Rentensätze erhöht werden. Es kann als gesichert gelten, dass Üben von Yoga in all seinen Aspekten – richtige Ernährung, Körperübungen, Entspannungstechniken, Atmung, positives Denken, gesunde Lebenseinstellung, Gottvertrauen, Sinn im Leben, gesunde Einstellung zum Schicksal und zum Stress – den Menschen erheblich gesünder macht und ihn älter werden lässt.

Manche Krankheiten haben den Sinn, uns bestimmte Erfahrungen machen zu lassen, an denen wir wachsen. Diese Krankheiten suchen uns auch dann heim, wenn wir alles richtig machen im Leben.

Und manche Krankheiten kommen aus karmischen Gründen, weil wir in früheren Leben jemand anderem Krankheiten zugefügt haben oder ähnliches. Dann müssen wir uns mit der Krankheit abfinden.

Und wieder andere kommen einfach deshalb, weil sie unseren Fortschritt beschleunigen.

Die Frage stellt sich, wenn man liest oder hört, dass Swami Sivananda in seinen letzten Lebensjahren viele Krankheiten hatte. Warum litt er als selbstverwirklichter Meister unter all diesen Krankheiten? Der Grund liegt im restlichen Karma, das noch da war und aufgearbeitet werden musste.

Auch Swami Vishnu hatte zum Schluss einige Krankheiten und ist relativ früh gestorben. Allerdings muss man dazusagen, dass er seinen Körper auch nie geschont hat. Keiner konnte mit ihm Schritt halten. Er ist mehrmals im Jahr um die Welt gereist. Es wird viel von den Reisen des Papstes gesprochen. Swami Vishnu ist in einem Jahr so viel gereist wie der Papst in drei Jahren und hat sich daneben um die Administration in den Zentren gekümmert, Bücher geschrieben, Yogakurse und Lehrerausbildungen gegeben, Tausende von Mantraeinweihungen vorgenommen – er hat sich ganz gegeben. So hat er sehr schnell spirituellen Fortschritt gemacht, aber er hat seinen Körper vielleicht auch etwas überfordert. Natürlich hat er ihn nicht etwa misshandelt, sondern im Gegenteil regelmäßig Asanas und Pranayama praktiziert, auf gesunde Ernährung geachtet usw.

Yogis achten auf ihren Körper, aber es kommt nicht auf die physische Langlebigkeit an, sondern darauf, wie viel Erfahrungen wir machen, wie viel wir lernen. Swami Vishnu hat auch über die Krankheit zum Schluss noch einige Lektionen gelernt und ist dadurch zum reinen Bhakta (Yogi der Gottesliebe) geworden.

In der Krankheit kann also durchaus eine Lektion liegen. Aber weil man dadurch oft träge wird und einem die spirituellen Praktiken wie Asanas, Pranayama und Meditation schwer fallen oder ganz unmöglich werden, kommen viele Menschen dadurch ins Zweifeln am ganzen Weg. Deshalb sind Krankheiten in erster Linie Hindernisse und wir bemühen uns im Yoga, unseren Körper gesund zu halten.

Das nächste Hindernis ist Trägheit. Patanjali erwähnt gleich drei Aspekte davon, nämlich geistige Trägheit, Gleichgültigkeit und Faulheit. Von den neun Hindernissen, die er aufzählt, sind drei letztlich Tamas. Wir müssen Tamas überwinden. Das geschieht durch regelmäßige spirituelle Praxis.

Als nächstes Hindernis folgt Zweifel.

Der Mensch hat ständig Zweifel. Es heißt, es gibt nur zwei Arten von Menschen, die nie Zweifel haben: Die einen sind die Fanatiker und die anderen die Selbstverwirklichten. Bis zur Verwirklichung schlagen wir uns immer wieder mit vielen kleinen Zweifeln herum und ab und zu auch mit einem grundsätzlichen, größeren. Zum Beispiel stellt man plötzlich in Frage, dass es so etwas wie Selbstverwirklichung überhaupt gibt oder dass man es selbst tatsächlich erreichen kann. Oder man fragt sich: „Befinde ich mich auf dem richtigen Weg dorthin? Ist der Mensch oder der Guru, dessen Tradition ich folge, der Richtige? Kann er mich richtig führen? Und ist das, was ich jetzt gerade praktiziere, überhaupt das Richtige?“ Das passiert manchen Menschen auch noch nach Jahren der Praxis.

Wir müssen über Selbstverwirklichung lesen und hören und über Menschen, die sie wirklich selbst erreicht haben. Mit Menschen zu sprechen, die selbstverwirklichte Meister erlebt haben oder vielleicht sogar persönlich einen zu treffen verhilft uns zu der Gewissheit: Ja, es gibt tatsächlich Selbstverwirklichung. Auch die Überzeugung, mit der alle diese Meister sagen, dass es jeder erreichen kann, hilft uns. Wenn nicht in diesem Leben, dann im nächsten – aber wir können es erreichen!

Wir müssen uns zuerst gründlich Gedanken machen über den Weg, den wir gehen. Wir müssen überlegen, ob das der richtige Weg und der richtige Lehrer ist oder wir spüren es einfach. Und wenn wir merken, im letzten halben Jahr oder in den letzten zwei Jahren habe ich diese und jene Fortschritte gemacht, dann wird es sicher auch weitergehen. Sehr nützlich dabei ist ein Tagebuch, in dem man seine Erfahrungen und Schwierigkeiten aufschreibt. Wenn man dann nämlich ein paar Jahre später sein Tagebuch liest und sieht, was für Schwierigkeiten man damals hatte, dann lächelt man und weiß: Ich bin doch erheblich gewachsen. Ohne Tagebuch vergisst man gern, mit welchen Problemen man sich vorher herumgeschlagen hat.

Und ab und zu müssen wir auch mal unserem Geist sagen, er soll aufhören mit seinen Zweifeln. Wenn wir einmal einen Entschluss gefasst haben, dann führen wir ihn aus. Hin und wieder können wir die Angelegenheit vielleicht nochmals gründlich überdenken, aber nicht ständig zweifeln. Es gibt Menschen, die sich ständig in Selbstzweifeln suhlen. Man muss einfach auch mal einen Entschluss fassen und sich notfalls sagen: „Ein halbes Jahr übe ich jetzt mal so; danach schaue ich: War es der richtige Weg? Habe ich Fortschritte gemacht?“ Und dann soll man dieses halbe Jahr auch durchhalten, ohne seinen Entschluss dazwischen ständig in Frage zu stellen. Wenn ein halbes Jahr zu lange ist, nimmt man sich halt nur einen Monat vor oder eine Woche, aber es ist wichtig, dass man einen Entschluss fasst und von Etappe zu Etappe geht.

Auch wenn es darum geht, eine Entscheidung zu treffen, kann man sich einen Zeitrahmen setzen und sich vornehmen: „Ich gebe mir bis dahin Zeit, dann treffe ich eine Entscheidung und halte mich auch daran.“ Notfalls muss man den Entschluss fassen, auch wenn man sich nicht ganz sicher ist. Dann kann man sich sagen: „Das erscheint mir als das Richtige. Wenn sich nicht bis dann und dann etwas Erhebliches ändert, sehe ich das als Gottesbeweis an und bleibe bei dieser Entscheidung.“

Gleichgültigkeit ist das nächste Hindernis. Diese „Es ist ja alles egal“-Mentalität und Wurstigkeit darf sich nicht einschleichen. Gleichmut ist etwas anders als Gleichgültigkeit. Gleichgültig ist tamasig, gleichmütig ist sattwig.

Faulheit ist ebenfalls noch ein großes Hindernis.

Verlangen nach Vergnügen taucht manchmal einfach so auf. Als spiritueller Aspirant überlegt man manchmal: Gibt es nicht doch zu vieles, worauf ich verzichtet habe?

Ich selbst meditiere seit meinem 16. Lebensjahr. Ich bin noch nie in meinem Leben betrunken gewesen, habe noch nie ausgelassen auf einer Feier mitgemacht, – außer bei spirituellen Festen und die waren wahrscheinlich harmonischer und schöner. Manchmal sagen Leute zu mir: „Wie kannst du überhaupt wissen, was du da verpasst hast?“ Gut, mir geht es jetzt nicht so, dass ich Angst habe, etwas zu verpassen oder etwas verpasst zu haben. Schon damals hat mir das nichts bedeutet. Ich habe die Menschen beobachtet, die das alles gemacht haben und kam in relativ jungen Jahren zu dem Schluss, dass sie nicht wirklich glücklich sind.

Ich kann mich erinnern, wie mich meine Cousine einmal in eine Disko mitgeschleppt hat. Kurz vorher hatte ich den „Steppenwolf“ von Hermann Hesse gelesen, wo etwas über Tanzen vorkam, und so dachte ich, Ekstase über Tanzen zu erreichen, das müsste ja auch ganz schön sein. Dann habe ich das also etwas ausprobiert … Nun gut, von einem Diskobesuch allein klappt das wahrscheinlich auch noch nicht. Aber ich habe auch die anderen beobachtet und es kam mir zu hohl vor. Vielleicht funktioniert es heute besser mit dieser Rave-Ecstasy-Welle, wahrscheinlich hat man da tatsächlich ekstatische Erlebnisse. Aber sie halten nicht an. Und wenn Ekstase durch Drogen induziert ist, wenn man Drogen oder Alkohol dazu braucht, ist es keine wertvolle Erfahrung und führt überdies anschließend nur zu einem Kater. Man hat zwar bis vor kurzem angenommen, Ecstasy sei harmlos, aber es scheint so zu sein, dass man davon schwere Schädigungen im Gehirn davontragen und langfristig depressiv werden kann.

Aber manche Menschen auf dem spirituellen Weg haben doch manchmal das Gefühl, etwas zu verpassen. Eine Seminarteilnehmerin hat mir neulich erzählt, sie mache jetzt zwar auch täglich Asanas, Pranayama und Meditation, aber einmal in der Woche würde sie schon mit ihrem Freund in ein sehr gutes Restaurant gehen und der Rotwein gehöre dort einfach dazu. Sie hat das Gefühl, ohne dem Glas Rotwein würde ihr ein großes Stück Lebensqualität entgehen. Gut, ich habe ihr jetzt auch nicht geraten, darauf zu verzichten sondern gemeint, einmal in der Woche ein Glas Rotwein wird nicht so tragisch sein, wenn es ihr so wichtig ist. Aber wenn wir eine Weile auf dem Weg sind, dann stellen wir fest: Es ist es nicht wert, mit einem Glas Rotwein vielleicht 30 % der Wirkung unserer Pranayama-Praxis zu vernichten. Und letztlich ist es kein so großes Vergnügen.

Täuschung ist ein Hindernis.

Wir können uns oft täuschen, indem wir Dinge falsch verstehen oder falsch sehen oder indem wir den niederen Geist für die innere Stimme der Intuition halten. Swami Vishnu hat gern gesagt: „Never trust your mind“ – „Traue nie deinem Geist“. Aber wem kann man sonst trauen?

Wenn man einen Guru hat, kann man ihn fragen. Aber die Antwort ist meistens nicht eindeutig.

Ich habe Swami Vishnu oft Dinge gefragt.

Bei technischen Fragen wie: „Wer kann Kapalabhati auch wechselseitig ausführen?“ oder „Sollte man bei Kapalabhati den Brustkorb erheben oder unten halten?“ „Sollte man nach Bhastrika rechts einatmen oder links?“ – denn das steht unterschiedlich in den Büchern –, hat er mir klare Antworten gegeben.

Aber als ich ihn gefragt habe, ob ich mein Studium aufgeben oder ob ich weitermachen soll, da kam keine klare Antwort. Oder als ich ihn mal etwas anderes gefragt habe, hat er mir auch nicht gesagt, was ich machen soll. In solchen Fällen gibt ein Meister nur Kriterien an, an denen man sich orientieren und nach denen man selbst entscheiden kann. Ein Guru macht seine Schüler nicht abhängig. Er nimmt ihnen die Entscheidungen nicht ab. So wie Krishna am Ende der Bhagavad Gita zu Arjuna sagt: „Und jetzt mache, was du willst“. Am Anfang sagt er, er solle kämpfen, weil Arjuna das so heftig abgelehnt hat. Aber später, nachdem er ihm die Yogawege erklärt hat, überlässt er ihm die Entscheidung – und so ist auch ein Guru. Aber der Guru hilft einem, aus der Täuschung herauszukommen und die Antwort von selbst zu finden.

Die Unfähigkeit zur Konzentration kann eine Schwierigkeit sein.

Vielen Menschen fällt es am Anfang schwer zu meditieren. Manchmal kommt auch nach einer Weile eine Unreinheit im Geist hoch. Und obgleich man vielleicht ein Jahr oder länger sehr schöne Meditationen hatte, kann man plötzlich nicht mehr meditieren. Das passiert manchen auch während der Yogalehrer–Ausbildung. Dann denken sie: Jetzt mache ich so viel Yoga und kann nicht mehr meditieren! Vorher habe ich weniger gemacht und es ging viel besser! Die Ursache ist eben eine stärkere Unreinheit, die sich löst, so dass man eine Weile von der Meditation wie abgeschnitten ist. Das muss man aushalten und trotzdem die Unterscheidungskraft behalten. Glücklicherweise geht es nicht allen so. Die meisten können hier besser meditieren als zu Hause.

Und schließlich ist Ruhelosigkeit des Geistes durch Ablenkungen ein Hindernis.

Äußere Dinge lenken uns ab und machen den Geist unruhig. Wir sollten uns nicht ablenken lassen.

31. Duhkha-daurmanasyângamejayatva-shvâsa-prashvâsâ vikshepa-sahabhuvah     Zurück zum ersten Kapitel

duhkha = Schmerz; daurmanasya = Verzweiflung, Depression; angamejayatva = Erschütterung des Körpers, Nervosität; shvasa–prasvasah = Ein-und Ausatmung, schweres Atmen; vikshepa = Zerstreuung; sahabhuvah = begleitende Symptome

Geistiger Schmerz, Depression, physische Nervosität und unregelmäßige Atmung sind die Symptome eines verwirrten Geisteszustandes.

Das sind die Folgen, die Symptome, an denen man die oben erwähnten Hindernisse erkennen kann. Manchmal ist man sich dieser Hindernisse nämlich gar nicht bewusst. Der menschliche Geist begründet ja oft alles Mögliche rational. So kann es passieren, dass wir gar nicht erkennen, dass wir momentan einem Hindernis begegnen, sondern denken, wir hätten irgendeine sehr kluge Ansicht. Und hier gibt uns Patanjali vier Tipps, wie wir herausfinden können, ob wir uns gerade auf dem Holzweg befinden.

Geistiger Schmerz und Depression sind beides nicht sehr positive Gemütszustände. Geistiger Schmerz meint Zerrissenheit, ein manifestes Leiden. Depression bedeutet Niedergeschlagenheit, sich kaputt fühlen.

Physische Nervosität kann man mit dem Test herausfinden, ob die Hand ruhig ist oder nicht. Wenn man den ganzen Tag gearbeitet hat und die Hand abends etwas unruhig ist, dann liegt es natürlich an etwas anderem!

Physische Unruhe und unregelmäßige Atmung kann man bei sich selbst und bei anderen beobachten. Wenn man es zum Beispiel mit einem Menschen zu tun hat, der ganz unruhig und nur im oberen Brustbereich atmet, dann kann man diesem Menschen zunächst mit Logik nicht beikommen. Er wird in dem Moment nicht logisch mit einem sprechen können. Man muss versuchen, ihn erst zu beruhigen – es kommt natürlich auf die Situation an. Wenn möglich, versucht man, ihn zu trösten, zu verstehen, Liebe zu zeigen. Wenn das wegen der Art der Beziehung nicht möglich ist, dann fasst man ihn eher mit Samthandschuhen an, ist freundlich, schickt positive Gedanken und beachtet es nicht zu sehr, wenn er irgendwelche komischen Geschichten erzählt. Denn er ist, um mit Patanjali zu sprechen, momentan in einem verwirrten Geisteszustand, vikshepa sahabhuvah.

Wenn wir eines dieser Symptome bei uns feststellen, wissen wir, wir stehen irgendwo an einem Hindernis. Dann können wir die Schwierigkeiten dahinter suchen und anschließend etwas tun, um sie  zu beseitigen.

Patanjali gibt im nächsten Vers eine Technik an, wie man diese Hindernisse beseitigen kann. Im 2. Kapitel kommt er auf weitere Techniken zurück.

32. Tat–pratishedhârtham eka–tattvâbhyâsah     Zurück zum ersten Kapitel

tat = das; pratishedhartam = zur Beseitigung, zur Kontrolle; eka = einem; tattva = Prinzip, Wahrheit; abhyasah = Übung

Um diese Hindernisse zu beseitigen, sollte man über einen Aspekt der Wahrheit meditieren.

Er empfiehlt hier eigentlich die Ablenkung. Wenn wir erkennen, es sind Hindernisse und ein verwirrter Geisteszustand da, sollen wir nicht versuchen, zu analysieren und die Ursache herauszufinden, sondern stattdessen unsere Konzentration auf einen Aspekt der Wahrheit richten.

Aber er empfiehlt nicht die Ablenkung auf irgendetwas, also zum Beispiel, ins Kino oder in ein Restaurant zu gehen, Achterbahn zu fahren, Bier zu trinken oder den Fernseher einzuschalten. Sondern er empfiehlt uns, über einen Aspekt der Wahrheit zu meditieren. So erheben wir den Geist wieder.

Wir haben schon darüber gesprochen, was Krishna in der Bhagavad Gita mit Arjuna macht. Arjuna ist in großer Verzweiflung. Er weiß nicht, was er machen soll und zeigt alle Symptome eines verwirrten Geisteszustandes: geistigen Schmerz, Depression, er ist nervös und wirft die Waffen weg. Gut, über seine Atmung wird nichts ausgesagt, aber es ist anzunehmen, dass sie auch nicht ruhig und tief war. Arjuna ist in vollkommener Verzweiflung und paradoxerweise erzählt Krishna ihm als erstes von der Unsterblichkeit der Seele! Aber das ist notwendig und hilfreich. Und natürlich bleibt es nicht dabei, sondern anschließend erklärt er ihm alles Mögliche.

Damit kann man natürlich nicht jedem kommen. Wenn ihr beispielsweise einen alten Bekannten von früher trefft, dem es schlecht geht, wird er wenig damit anfangen können, wenn ihr ihm sagt: „Mach dir nichts draus, dein wahres Selbst ist unberührt und überhaupt bist du Sein, Wissen und Glückseligkeit.“ Aber generalisieren kann man das auch nicht. Gerade als ich das so behauptet habe, hat mir eine Psychotherapeutin unter den Seminarteilnehmern erzählt, sie hätte Menschen, die mit Yoga gar nichts zu tun haben, auch schon den Rat gegeben: „Egal, was passiert, irgendetwas in dir bleibt doch gleich, versuch das mal zu spüren. Diesen stillen Pol in dir gibt es und er gibt dir Kraft. Versuch mal, zu diesem ruhenden Pol zu kommen, den es in aller Verzweiflung und in allen Emotionen gibt.“ Das kann helfen, dass Menschen dann besser zurechtkommen.

Wenn wir über einen Aspekt der Wahrheit meditieren, erheben wir den Geist. Ist der Geist erhoben, kann man anders arbeiten und die Probleme sind leichter zu lösen.

Im 2. Kapitel zählt Patanjali als Methoden noch Kriya Yoga (yogische Reinigungstechniken), Tapas (Askese), Swadhyaya (Selbststudium), Ishwara pranidhana (Hingabe an Gott), Karma (Handlung), Sinn des Lebens, die Einstellung, die wir zum Leben haben können, sowie die acht Stufen des Raja Yoga auf. Aber zuerst meditieren wir über einen Aspekt der Wahrheit und erheben so unseren Geist. Erst dann ist wirklich etwas mit uns anzustellen.

Patanjali will sich mit niemandem abgeben, der nicht meditiert. Meditation ist die Voraussetzung, dass man sich ein bisschen erheben und die Probleme anders angehen kann. Wenn jemand nicht meditiert, kann man mit dem Problem nicht umgehen. Er hat ja schon vorher gesagt, die Wiederholung eines Mantras bringe erleuchtete Innenschau und überwinde alle Hindernisse. Auf diese Weise ist er überhaupt auf die Hindernisse gekommen. Erst wenn wir meditieren, ein Mantra wiederholen, wird die Introspektion (Analyse des eigenen Erlebens) erfolgreich. Ansonsten kommen wir aus unserem eigenen Tümpel nicht heraus. Wenn wir ein Mantra wiederholen, erhebt uns die Kraft des Mantras, wir kommen zu einer erleuchteten Innenschau und überwinden die Hindernisse. Dem Sutra-Stil folgend, erklärt Patanjali dann die Hindernisse, die Symptome für die Hindernisse und vorher hat er die Mantrameditation als Heilmittel erwähnt. Hier sagt er, wir können über einen Aspekt der Wahrheit meditieren und damit schließt sich der Kreis.

Von Vers 33 bis 39 gibt er uns verschiedene Techniken, wie wir meditieren können.

33. Maitrî–karunâ–muditopeksânam sukha–duhkha–punyâpunya–vishayânâm bhâvanâtash chitta prasâdanam     Zurück zum ersten Kapitel

maitri = Freundlichkeit; karuna = Mitgefühl; mudita = Frohsinn; upektsanam = Gleichgültigkeit; sukha = Freude, Glück; duhkha = Leid, Elend; punya = Tugend; apunya = Laster; visayanam = Ziele; bhavanatah = durch Kultivierung von Haltungen, durch Verweilen in Gedanken; chitta = Verstand; Prasadanam = Klärung, Läuterung

Der Geist wird durch die Entwicklung von Freundlichkeit, Wohlwollen, Zufriedenheit und Gleichmut klar gegenüber Glück, Laster und Tugend.

Wir können über Freundlichkeit, Wohlwollen, Zufriedenheit und Gleichmut meditieren. Dafür eignet sich zum Beispiel die Eigenschaftsmeditation. Das ist eine konkrete Meditationstechnik, um eine bestimmte Eigenschaft zu entwickeln oder zu verstärken, in dem wir über Affirmationen (Bejahung, Bestätigung), Visualisierung, Nachdenken, Fühlen und abschließender nochmaliger Affirmation eine Weile lang jeden Tag üben. Dadurch wird diese Eigenschaft sehr stark.

Als geeignete Eigenschaften empfiehlt Patanjali Freundlichkeit, Wohlwollen, Zufriedenheit und Gleichmut.

34. Pracchardana–vidharanabyam va pranasya     Zurück zum ersten Kapitel

Pracchardana = Ausstoßen, Ausatmen; vidharanabhyam = Zurückhalten, Bewahren; va = oder; prana-sya = Atem

Dies wird auch durch das Ausstoßen und das Zurückhalten des Atems erreicht.

Also Pranayama, Atemübungen, helfen auch, den Geist zu erheben. Richtige Atmung im täglichen Leben kann sehr viel bewirken.

Der beste Ratschlag, den man nervösen oder unruhigen Menschen geben kann, ist, die Hand auf den Bauch zu legen und ein paar Mal tief mit dem Bauch ein- und auszuatmen. Das hilft enorm, Stärke, Festigkeit und Gleichmut zu entwickeln. Zwischen Atmung und Gemütsverfassung besteht eine direkte Korrelation (Zusammenhang). Ihr könnt mal bewusst darauf achten, wie ein Mensch atmet, der leicht die Fassung verliert und wie jemand atmet, der eher Gleichmut ausstrahlt. Ich bin immer wieder erstaunt, wie viele Yogalehrer ganz flach in der Brust atmen, während sie ihren Schülern die tiefe Bauchatmung beibringen!

Manche Menschen werden noch ärgerlicher oder nervöser, wenn sie total verärgert sind und dann auch noch über Wohlwollen meditieren sollen. Wir hatten hier einmal einen Schüler mit größeren psychisch–geistigen Problemen. Er hat mir erzählt, immer wenn ich am Anfang der Meditation sagte: „Beim Ausatmen stelle dir vor, du schickst Licht und Liebe zu allen Wesen“ sei er richtig aggressiv geworden. Er fühlte sich von verschiedenen Menschen psychisch misshandelt und empfand es als Zumutung, ihnen jetzt auch noch Licht und Liebe zu schicken ….!

Ich habe ihm geraten, er soll stattdessen denken: „Ich schicke Licht und Liebe in alle Richtungen“. Das konnte er dann. Und ich leite jetzt Meditationen auch eher mit dieser Formel ein, da es Menschen gibt, die aus irgendwelchen Gründen – tatsächlicher oder eingebildeter seelischer, körperlicher, geistiger Missbrauch – Aggressionen haben, die geweckt werden, wenn man sie bittet, Wohlwollen auszusenden. Aber mit der Zeit sollte es für jeden möglich sein, allen Menschen Wohlwollen zu schicken, selbst wenn einem das Furchtbarste angetan wurde, und zwar aus der Erkenntnis des Karmas heraus, dass ein Mensch, der einem etwas angetan hat, nur Erfüllungsgehilfe des Karmas war. Nur, nicht jeder kann das in jeder Situation anwenden und manchmal kann man es selbst auch nicht in jeder Situation – meinen mindestens einige. Aber ich kann es eigentlich schon immer und habe nie Probleme damit, allen Wesen Wohlwollen zu schicken.

Wem das also schwer fällt, der kann wenigstens den Atem beherrschen. Das kann jeder. Das ist der indirekte Weg des Hatha Yoga wie auch des Kundalini Yoga. Geist und Prana (Lebensenergie) hängen zusammen. Verändern wir das Prana, ändert sich der Geist. Verändern wir die Atmung, verändert sich das Prana. Atemübungen sind etwas ganz Tolles. Sie können einen aus allen möglichen Depressionen, Stimmungen und falschen Vorstellungen herausreißen. Früher war ich ein sehr schüchterner Mensch. Vor einem Vortrag oder einer Yogastunde musste ich immer unbedingt eine halbe Stunde Pranayama machen. Und vor meinem ersten Meditationskurs musste ich ein paar Runden Bhastrika (spezielle Atemübung) machen, sonst wäre es nicht gegangen, denn ich hatte großes Lampenfieber und war sehr unruhig. Aber wenn ich vorher eine Weile Pranayama geübt hatte, waren das Prana, die Ruhe und die Stärke des Geistes da.

Manchmal kann es hilfreich sein, sich zusätzlich zum regelmäßigen Pranayama einmal am Tag zwischendurch ein paar Minuten lang hinzusetzen und Wechselatmung zu üben, wenn man unruhig ist oder viel Energie braucht. Mir haben schon etliche Leute erzählt, dass sie das während der Arbeit manchmal machen – zum Beispiel auf der Toilette – und dass sie dann wieder Ruhe und Kraft haben. Eine Yogalehrerin hat erzählt, irgendwie sei das bei ihr mal auffällig geworden und ihre Kollegen hätten sie gefragt, was denn ihr Geheimnis wäre, was sie denn auf der Toilette mache. Das Ergebnis war dann die Gründung einer Yogagruppe!

35. Visayavati va pravrttir utpanna manasah sthiti-nibandhani     Zurück zum ersten Kapitel

Visayavati = die Sinne betreffend; va = oder; pravrttih = Funktion, Tätigkeit; utpanna = entstanden, geboren; manasah = des Gemütes; sthiti = Beharrlichkeit; nibandhani = Bildung von, hilfreich bei der Herstellung von

Festigkeit des Geistes wird leicht begründet, wenn die höheren Sinne wirksam werden.

Wenn wir meditieren, können auch höhere Sinne aktiv werden. Ein Beispiel dafür sind die Anahata–Klänge, innere Klänge im linken oder rechten Ohr. Bei den meisten sind sie in einem Ohr stärker. Bei mir sind sie ziemlich gleichmäßig in beiden Ohren. Auf diese Klänge kann man sich konzentrieren, entweder, indem man einfach ganz bewusst diese schönen Klänge wahrnimmt oder man versucht, den nächst subtileren Klang in diesem Klang herauszuhören. Dieser subtilere Klang wird dann langsam stärker. Dann versucht man wieder, den nächst höheren Klang herauszuhören und so werden die Klänge immer subtiler, erhabener und schöner, und das kann den Geist ganz wunderbar konzentrieren.

Als Yogalehrer muss man wissen, dass es diese Anahata-Klänge gibt und dass es Tinnitus gibt, eine Gehörkrankheit. Manche Menschen hören Anahata-Klänge und halten sie für Tinnitus. Tinnitus ist ein sehr unangenehmes, lautes Ohrenrauschen, Ohrensausen – manche beschreiben das Geräusch wie eine Dampflokomotive oder wie eine hochfrequentierte Autobahn –, das seine Ursache höchstwahrscheinlich darin hat, dass die Menschen zu lauten Geräuschen ausgesetzt waren. Die Generation der Diskobesucher, die sich den Kopf mit lauter Musik vollgedröhnt hat, ist jetzt langsam im Alter zwischen 30 bis 50. Durch die Vorschädigungen des Ohres kann es im Alltagsstress geschehen, dass die Gefäße ganz geschädigt werden oder irgendetwas anderes passiert, das diese Tinnitusgeräusche auslöst.

Die genaue Ursache kennt man nicht. Manche behaupten auch, dieses Phänomen gebe es schon länger, zum Beispiel bei Leuten, die von jung auf ohne Gehörschutz Traktor gefahren sind. Tinnitus-Geräusche werden unter Stress stärker. Anahata-Klänge hingegen sind eher sanft. Am meisten verbreitet ist wahrscheinlich ein ganz hoher Klang, ähnlich wie er früher beim Testbild für‘s Fernsehen zu hören war. Er wird umso stärker, je ruhiger der Mensch ist, zum Beispiel in einer sehr ruhigen Meditation, in einer spirituellen Umgebung, in einer Kirche oder wenn man mit einem Menschen ein spirituelles Gespräch führt. Für manche Menschen ist das ein Hinweis auf eine echte Herzenskommunikation. Wenn die Herzenskommunikation da ist und man nicht nur Worte austauscht, kommt dieser wunderbare Klang und man spürt, das gegenseitige Prana tauscht sich aus beziehungsweise die beiden Pranas verbinden sich mit dem göttlichen Prana. Bei ein paar Menschen, mit denen ich gesprochen habe, sind über dem Versuch, im Tinnitus-Geräusch den Anahata-Klang herauszuhören, die Tinnitus-Geräusche schön geworden. Und ich kenne eine ganze Reihe von Menschen, die Anahata-Klänge gehört und sie für Tinnitus gehalten haben.

Entspannungstechniken, Yoga und Meditation sind im allgemeinen bei Tinnitus hilfreich. Ich kenne sogar einige, die damit die Tinnitusgeräusche gänzlich losgeworden sind.

Es gibt auch das höhere Sehen. Man sieht bei geschlossenen Augen Bilder oder ein Licht im dritten Auge, worauf man sich konzentrieren und so den Geist festigen kann. Auf gleichmäßige, schöne, nach oben ziehende, wonnevolle innere Lichter kann man sich konzentrieren. Konkreten Bildern, Szenen aus einem Leben oder Fantasiebildern würde man nicht folgen, denn das ist kein höherer Sinn, sondern die Fantasie, Luftschlösser, was auch immer. Natürlich könnte man auch solche Bilder verfolgen, aber das führt nicht in eine so tiefe Meditation.

Ich dachte zuerst immer, ich sehe keine Lichter, bis mir jemand gesagt hat: „Schließe mal die Augen und schaue, was Du siehst“. Da ist mir aufgefallen, dass ich bei geschlossenen Augen eigentlich immer irgendwelche Lichter sehe! Ich habe das nur nie für etwas Besonderes gehalten. Recht viele Menschen sehen Lichter, wenn sie die Augen schließen. Aber auch wiederum nicht alle. Wenn man keine Klänge hört oder keine Lichter sieht, ist das auch nicht etwa ein Zeichen mangelnden spirituellen Fortschritts. Es bedeutet einfach nur, dass dieser Sinn nicht aktiv ist. Aber wenn man will, kann man es auch trainieren.

Eine Richtung der Sikhs – die Sikhs sind eine der indischen Religionsgemeinschaften – praktiziert ganz besonders diese Meditation auf innere Klänge und inneres Licht, um sich so in den kosmischen Strom einschwingen zu können.

Seltener, aber auch das gibt es, ist es, dass Menschen subtile Gerüche riechen, zum Beispiel wie wunderbare Räucherstäbchen. Ein Nektargeschmack im Mund ist ebenfalls möglich.

Häufiger wiederum kommt es vor, dass man ein wunderschönes Gefühl hat. Man spürt zum Beispiel das Ajna Chakra (Stirnchakra) oder das Herz, man spürt, dass von oben Energie oder Licht in einen hineinströmt. Auch auf solche Gefühle können wir uns konzentrieren.

Viele Menschen erleben eines dieser vier Phänomene. Manche Menschen sind insgesamt mehr auf’s Fühlen ausgerichtet; sie fühlen dann auch eher die Chakras. Manche sind mehr über das Hören orientiert und hören eher innere Klänge. Und wer mehr über das Sehen orientiert ist, sieht vielleicht auch schneller innere Bilder oder ein inneres Licht.

Wenn diese höheren Sinne aktiv werden, dann wird die Festigkeit des Geistes leicht begründet.

Es ist eine leichte Technik, sich darauf zu konzentrieren und zum anderen ist es auch eine gute Hilfe gegen Zweifel, weil man eben erkennt und erfährt, dass es tatsächlich höhere, sehr angenehme Formen der Wahrnehmung gibt. Und wenn die Wahrnehmung noch weiter geht, sich zu einer Intuition entfaltet und man tatsächlich Dinge wahrnimmt, die an einem anderen Ort und zu einer anderen Zeit, in der Zukunft oder in der Vergangenheit, geschehen, dann weiß man einfach: Es gibt solche übersinnlichen Dinge. Oder wenn man in der Meditation den physischen Körper verlassen hat, dann weiß man ganz sicher, ich bin nicht der physische Körper, egal, was die Wissenschaftler über das Gehirn und sonstige Sachen erzählen. Man hat den Körper von oben gesehen. Da gibt es dann nichts mehr zu diskutieren.

Dazu fällt mir gerade ein Witz ein: Es war einmal ein Großvater, der im schulischen Sinn relativ ungebildet war. Sein Enkel studierte Philosophie und Dialektik an der Universität. Eines Tages kam der Student zu seinem Großvater zu Besuch und dieser fragte seinen Enkel: „Was ist eigentlich Dialektik?“ „Dialektik ist die Kunst, alles zu beweisen“, antwortete der Student. „Was heißt das? Könntest du mir zum Beispiel beweisen, dass ich keinen Spazierstock habe?“ fragte der Großvater und fuchtelte mit seinem Stock herum. „Ja, das kann ich dir beweisen“, sagte der Enkel und wollte gerade anfangen, es zu erklären. Da nahm der Großvater seinen Spazierstock , schlug den Enkel damit fest auf den Fuß und sagte zu ihm: „Siehst du, jetzt habe ich dir bewiesen, dass es den Spazierstock gibt!“

Vom absoluten Standpunkt aus gibt es natürlich weder Stock noch Fuß noch Schmerz, weder den astralen noch physischen Körper, alles ist eine Illusion, Jagan mithya, die ganze Welt ist unwirklich. Aber vom relativen Standpunkt aus können wir in der Meditation erfahren, dass es eine astrale Welt gibt, eine subtile Wirklichkeit, unabhängig davon, was andere Menschen uns erzählen und wie unser eigener Geist rational argumentieren will. Deshalb hilft auch das zu einer Festigkeit des Geistes. Aber man muss auch nicht enttäuscht sein, wenn man bisher noch keine höheren Sinne gespürt hat. Es ist nur eine von vielen Techniken, die Patanjali erwähnt.

36. Vishokâ vâ jyotishmatî     Zurück zum ersten Kapitel

Vishoka = leidlos, heiter; va = oder, auch; jyotishmati = leuchtend; jyoti = Licht

Oder durch Konzentration auf den inneren Zustand des Lichtes, der jenseits von Leid ist.

Wir können uns ein höheres Licht vorstellen oder eines in uns selbst, das unberührt ist von Leid.

Das ist dieselbe Technik, die ich eingangs schon erwähnt habe, die vielen Menschen hilft, sich in das eigene Selbst, in ihren eigenen Ruhepol, der sich niemals verändert, zu versenken und darauf zu konzentrieren. Diesen Pol kann man sich einfach nur als Stille oder eben als Licht vorstellen. Wenn man einen Zugang dazu hat, weiß man, es gibt etwas in mir, das unberührt bleibt, egal ob ich jetzt leide oder mich freue, ob der Körper gesund oder krank ist. Auch das kann zu einer großartigen Erfahrung werden.

37. Vîta-râga-vishayam vâ chittam     Zurück zum ersten Kapitel

Vîta-râga = ein Mensch, der menschliche Leidenschaften oder Anhaften überwunden hat; vishayam = Gegenstand; vâ = oder, auch; chittam = der Verstand

Oder durch Fixieren des Geistes auf jemanden, der menschliche Leidenschaften und Verhaftungen transzendiert hat.

Ein großer Meister, eine große Meisterin inspirieren einen immer.

Mit Chitta, dem Verstand, können wir darüber meditieren, welche menschlichen Leidenschaften und Versuchungen der Meister transzendiert hat. Oder wir können uns selbst in der Situation dieses Meisters vorstellen, indem wir überlegen: Wie wäre ich, wenn ich vollkommen wäre? Wie würde ich denken, fühlen und handeln?

Krishna zählt in der Bhagavad Gita mehrfach die Eigenschaften eines Vollkommenen auf. Er wiederholt sich auch ständig, so dass manche sich fragen, warum sagt er das wieder und wieder. Diese Wiederholung dient zum einen dazu, dass wir uns wirklich jemanden vorstellen können, der so vollkommen ist und zum zweiten dazu, dass wir uns selbst in diese Idealrolle hineinversetzen können.

Wir Menschen im Westen sind es nicht gewöhnt, uns vorzustellen, dass wir selbst vollkommen sein könnten. Wir streben zwar nach spiritueller Vollkommenheit, aber wir können sie uns bei uns selbst gar nicht vorstellen. Wir gehören einer Tradition an, wo Demut in der Spiritualität eine sehr große Rolle spielt und auch der höchste Heilige noch von sich sagt: „Ich bin der größte Sünder.“ Je mehr man das betont, als umso heiliger gilt man. Das ist in unserer Kultur so. In Indien haben zwar die meisten auch eine gewisse Demut, aber sie haben auch keine Hemmungen, festzustellen: „Ich habe das selbst verwirklicht, ich habe die Erleuchtung erreicht.“ Andererseits laufen sie natürlich auch nicht ständig herum und erzählen es jedem. Wenn sie das tun, ist es auch nicht echt, denn dann haben sie es nötig, es zu erzählen!

Aber nehmen wir zum Beispiel einen Vivekananda, der zu Ramakrishna gekommen ist und ihn gefragt hat: „Hast du Gott gesehen?“
Ramakrishna schaute ihm in die Augen und antwortete: „Ja.“
Daraufhin fragte Vivekananda: „Wann siehst du ihn?“
„Immer. Ich sehe ihn so, wie ich dich sehe, nur immer und deutlicher.“
„Kann ich ihn auch sehen?“
„Ja. Willst du sehen?“
„Ja.“
„Sicher?“
„Ja!“
„Streck‘ deinen Fuß aus!“
Und Ramakrishna berührte (küsste) den Fuß von Vivekananda, worauf Vivekananda eine Gotteserfahrung hatte – diese verwirrte ihn aber so sehr, dass er nachher darum bat, so schnell nicht wieder eine zu haben.

Swami Vivekananda
Swami Vivekananda

Auch Arjuna bittet Krishna, ihm die Vision der kosmischen Gestalt zu geben. Krishna fragt: „Willst du es wirklich sehen?“ Arjuna bejaht, Krishna gibt ihm die Vision, Arjuna ist ganz überwältigt und am Ende des 11. Kapitels bittet er Krishna, sich ihm wieder so zu zeigen wie vorher – die Vision ist ihm zu gewaltig. Krishna ist auch freundlich und zeigt ihm die Welt wieder wie vorher. Dieses Erlebnis verändert natürlich die ganze Sichtweise von Arjuna. Er hat das Göttliche erfahren. Aber Krishna zum Beispiel hat auch keine Hemmungen, von sich zu sagen, dass er alle seine früheren Geburten kennt und dass er ursprünglich der Lehrer aller anderen war. Wie auch Jesus sagt: „Ich bin das Licht und das Leben und die Wahrheit.“ oder „Ich und mein Vater sind eins.“ oder „Wenn der Jünger vollkommen ist, ist er wie sein Meister.“

Also, wir dürfen ruhig etwas Mut aufbringen und uns vorstellen, wie wir sein würden, wenn wir vollkommen wären. Ganz klar ist mir das neulich bei einem Workshop von Shanmug, einem unserer externen Seminarleiter, geworden. Er hat die Teilnehmer gebeten, auf einem Blatt alle ihre Fehler aufzuschreiben. Und die Menschen haben geschrieben und geschrieben und geschrieben. Als zweite Übung sollten sie dann ihre positiven Eigenschaften auflisten. Dabei sind die wenigsten über zwei, drei Zeilen hinausgekommen.

Ich muss zugeben, das hat mich doch etwas verblüfft. Und dann sollten alle an Menschen denken, die sie besonders schätzen und deren positive Eigenschaften notieren. Da haben alle wieder sehr viel geschrieben. Anschließend sollte sich jeder überlegen, ob er nicht die positiven Eigenschaften, die er in anderen sieht, selbst auch hat. Da mussten einige dann doch lachen, denn was sie an positiven Eigenschaften in anderen gesehen haben, waren tatsächlich ihre ureigenen Stärken. Es scheint für Menschen in unserem Kulturkreis leichter zu sein, bei anderen etwas Positives zu sehen als bei sich selbst. Das muss nicht bei allen so sein, aber bei der Mehrheit scheint es der Fall zu sein. Das ist wohl der Grund, weshalb dieser Vers im allgemeinen nicht in dieser Weise interpretiert wird.

Man könnte sich stattdessen auch abstrakt vorstellen, wie ein Geist beschaffen sein müsste, der vollkommen und jenseits von Verhaftungen und Leidenschaften wäre. Am leichtesten fällt es, sich einen Meister vorzustellen. Das ist greifbar, über ihn gibt es Bücher, Videos, oder es gibt Menschen, die über ihre Erfahrungen mit ihm berichten. Man kann sich sein Foto aufstellen, auf ihn meditieren, zu ihm beten, seine Gegenwart fühlen, über sein Leben und seine Vollkommenheit nachdenken. Das erhebt einen. Es erhebt einen deshalb, weil die gleiche Vollkommenheit, die dieser Meister hat, in uns selbst vorhanden ist. Weil sie in uns ist, erhebt es uns, wenn wir darüber nachdenken. Es inspiriert uns. Wir bekommen selbst eine kleine Ahnung, wie es sein könnte, wenn wir so wären.

38. Svapna-nidrâ-jnânâlambanam vâ     Zurück zum ersten Kapitel

svapna = Traumzustand; nidrâ = traumloser Schlaf; jnânâ = Wissen; –âlambanam = Unterstützung, das, worauf etwas beruht; vâ = auch

Oder durch Meditation über Wissen, das im Traum oder Tiefschlaf gewonnen wurde.

Manche Psychoanalytiker interpretieren diesen Vers dahingehend, dass Patanjali Traumdeutung betrieben habe und empfehlen, Träume aufzuschreiben und über sie zu meditieren. Es gibt auch ein Buch über Traumyoga von Sivananda Radha, in dem Traumarbeit als Teil des spirituellen Weges behandelt wird.

Eine zweite Interpretation wäre, dass manchmal während des Schlafes das Überbewusste enthüllt wird.

Man kann Träume haben von seinem Lehrer, seinem Guru. Mir geschieht es gelegentlich, dass ich einen Traum habe von Swami Vishnu Devananda oder Swami Sivananda. Zum Beispiel habe ich in den letzten Jahren im Traum ab und zu ein Mantra von Swami Vishnu erzählt bekommen, so dass ich endlich wusste, wie man es richtig ausspricht – beispielsweise das „Shri Rama Rama Rameti“-Mantra. Als ich noch in den Sivananda–Zentren war, wurde dieses Mantra dort nie gesungen. Aber ich hatte davon gehört und hätte immer gern gewusst, wie es richtig ausgesprochen wird. Irgendwann ist Swami Vishnu mir im Traum erschienen und hat das Mantra sehr klar gesungen. Kurz danach habe ich eine Kassette bekommen, auf der das Mantra ganz genau so gesungen wurde, wie ich es im Traum gehört hatte. Wenn man ein solches Mantra im Traum bekommt, kann man es zusätzlich zu seinem eigenen Mantra in der Meditation wiederholen.

Oder ich kenne Menschen, die ihr Mantra und ihre Mantraeinweihung tatsächlich im Traum bekommen haben und mich dann im nachhinein gefragt haben, ob es dieses Mantra gibt. Neben solchen, die ein authentisches Sanskrit-Mantra im Traum bekommen haben, waren darunter allerdings auch welche, die mit Sanskrit gar nichts zu tun hatten.

Und ich kenne Menschen, die beispielsweise Swami Sivananda im Traum gesehen haben, ohne dass sie jemals vorher ein Bild von ihm zu Gesicht bekamen. Vor kurzem war eine Frau als Gast hier im Ashram. Als sie das Bild von Sivananda sah, fragte sie: „Wer ist dieser Mann?“ Ich sagte: „Warum? Das ist Swami Sivananda.“ Und da fragte sie: „Den gibt es wirklich?“ In verschiedenen verzweifelten Momenten sei dieser Mann ihr im Traum erschienen und habe sie beschützt. Und sie finde es ganz wunderbar, dass es hier ein Haus gebe, das sein Haus sei.

Aber nicht alles, was wir im Traum sehen, hat eine Entsprechung in der Realität. Die Mehrheit dessen, was wir im Traum sehen, ist einfach nur eine Manifestation des Unterbewusstseins, irgendwelche Fantasien. Wir brauchen kein schlechtes Gewissen zu haben, wenn wir im Traum jemanden umgebracht haben. Es kann sein, dass unsere Aggression noch nicht ganz transzendiert ist und wir sie deshalb auf diese Art ausleben. Auch wenn wir sexuelle Träume haben oder von andere Dingen träumen, die wir im Normalfall in dieser Art nicht erleben oder denken, brauchen wir uns deswegen keine Sorgen zu machen. Das Unterbewusstsein nimmt sich das, was es zum Ausgleich braucht und das ist ok.

In dem Maße, in dem wir spirituelle Praktiken machen, werden unsere Träume weniger und inhaltlich spiritueller. Aber diese Entwicklung hinkt oft ein paar Jahre hinterher. Wenn man viel meditiert und in einer reinen Umgebung lebt, braucht das Unterbewusstsein oftmals nicht so viel Zeit, um die Ereignisse des Tages zu verarbeiten und einzubauen, so dass man tiefer und mit weniger Träumen schläft.

Auch wie man fortgeschrittene Asanas macht, habe ich im Traum gelernt. Ich war früher sehr steif. Als ich seinerzeit meine Yogalehrer-Ausbildung bei Yogi Hari gemacht habe, hat er uns in der zweiten Kurshälfte ständig die fortgeschrittenen Stellungen vorgeführt. Vier oder fünf der Teilnehmer waren in der Lage, diese auch zu üben.

Daneben gab es einige, die sich bemüht haben, und mit mir zusammen gab es weitere fünf oder sechs, die gedacht haben, es gäbe vielleicht doch einen sinnvolleren Zeitvertreib als den anderen zuzuschauen, was die für tolle Übungen machen… – Gut, ganz so schlimm war es auch wieder nicht. Jedenfalls zu einem späteren Zeitpunkt – in der Zwischenzeit hatte ich viel geübt und auch Fortschritte gemacht – gab es niemanden, der mir die ganz fortgeschrittenen Übungen hätte zeigen können. Und die sind mir dann im Traum gekommen. Im Traum war ich auch wahnsinnig flexibel – ich war immer ganz erstaunt! In der Vorwärtsbeuge zum Beispiel kam das Kinn vor die Zehen und ich habe überlegt, ob das anatomisch überhaupt möglich ist … Im Traum ging das alles. Aber trotzdem habe ich dabei auch die Tricks gelernt, wie man dahin kommt. So kann man im Schlaf und im Traum durchaus einiges lernen. Und natürlich kann man über diese Trauminhalte auch meditieren.

Das ist das Lieblingsthema von Shri Karthikeyan, dem Meister aus dem Sivananda Ashram in Rishikesh, der zweimal im Jahr Vorträge bei uns hält. Er spricht häufig über die drei Haupt-Bewusstseinszustände: Wachzustand, Traumzustand und Tiefschlaf. Daran kann man eben die Relativität der Welt erkennen. Die physische Welt verschwindet im Traum. Im Traum ist nur die Traumwelt da. Im Tiefschlaf gibt es gar keine Welt. Wenn wir darüber meditieren, hilft es uns, diese physische Welt als sehr relativ anzusehen, zu erkennen, sie ist eigentlich nur eine Illusion, sie ist genauso unwirklich wie die Traumwirklichkeit. Wenn wir ganz aufwachen aus dieser Welt und im überbewussten Zustand sind, dann schauen wir zurück und erkennen, in was für einem Traum wir die ganze Zeit gefangen waren und wie furchtbar ernst wir ihn genommen haben, obwohl im Grunde genommen alles nur ein Spiel war. Auch darüber kann man meditieren.
Raja-Yoga- Yoga Asana

39. Yathâbhimata–dhyânâd vâ     Zurück zum ersten Kapitel

yatha = wie; âbhimata = gewünscht, angenehm; dhyânâd = durch Meditation; vâ = oder

Oder durch Meditation über das, was einem zusagt.

Das ist ein Generalvers, der aussagt, dass man im Grunde genommen über alles meditieren kann. Aber es sollte schon über etwas Sattwiges (Reines) sein – nicht über Schnitzel mit Pommes frites oder Abfalleimer!

Wir sollten uns an eine hauptsächliche Meditationstechnik halten, die wir mit anderen kombinieren können und gelegentlich können wir auch andere Techniken ausprobieren. Wer eine Mantra-Einweihung hat, wird typischerweise als Hauptmethode die Mantra-Meditation benutzen. Wenn man zweimal täglich meditiert, kann man einmal mit dem Mantra meditieren – damit die Energie des Mantras immer stärker wird, ist es notwendig, dass man es jeden Tag mindestens 20 Minuten lang wiederholt – und das zweite Mal kann man mit einer anderen Technik üben. Oder man kann die Meditation mit einer anderen Technik einleiten, wenn man merkt, dass es dem Geist zu monoton wird. Auch mit der Mantratechnik selbst gibt es verschiedene Möglichkeiten.

Man kann eigentlich alles mit dem Mantra verbinden. Swami Sivananda schreibt, wenn man über ein Mantra meditiert, soll man es verbinden mit der Bedeutung des Mantras, den Eigenschaften des Mantras. Wenn man also zum Beispiel „Om Namah Shivaya“ wiederholt, kann man dabei an reines Licht oder an Freundlichkeit, Wohlwollen und ähnliches denken. Oder man kann das Mantra in verschiedenster Art mit dem Atem verbinden. Man kann das Mantra entweder mit der Ein- und Ausatmung wiederholen, den Atem dabei fließen lassen, wie er von selbst will oder das Mantra verbinden mit Kevala Kumbhaka (natürliches Atemanhalten), wobei man sehr wenig Luft ein- und ausatmet. Wir können es verbinden mit innerem Klang und innerem Licht, dem wir mit dem Mantra folgen. Wir können das Mantra verbinden mit der Vorstellung des inneren Zustandes des Lichtes, welches jenseits von Leid ist oder wir können beim Rezitieren (auswendig hersagen) unseren Meister visualisieren. Und wenn wir gerade eine erhabene Intuition im Schlaf hatten, können wir natürlich auch darüber meditieren in Verbindung mit unserem Mantra.

Frage: Manchmal geht die Konzentration während der Meditation automatisch woanders hin als zum gewohnten Konzentrationspunkt. Soll man dann die Konzentration dort lassen oder zum Konzentrationspunkt zurückbringen?

Wenn die Konzentration automatisch woanders hingeht, kann man dabei bleiben, wenn dieser Punkt höher liegt als das Manipura Chakra (Nabelzentrum). Man muss nicht immer die exakt gleiche Meditation haben. Es sollte eine Grundtechnik geben, das ist typischerweise die Mantra-Meditation. Und wenn nichts Besonderes passiert, konzentriert man sich auf seinen üblichen Konzentrationspunkt im Ajna (Stirn, drittes Auge) oder Anahata Chakra (Herz). Wenn jetzt aber eine Meditation anders verläuft und die Konzentration sehr stark zu etwas anderem hinstrebt, dann lässt man es geschehen. Auch wenn man in der Mantrameditation ist und sich plötzlich ein erhabener Gemütszustand einstellt, so dass das Mantra von selbst wegfällt, lässt man das geschehen. Sollte die Konzentration von selbst in die untere Wirbelsäule gehen, kann man auch das zulassen. Man muss aber zum Schluss die Konzentration zu einem Punkt bringen, der höher ist als das Manipura Chakra (Nabel), so dass wir am Ende der Meditation nicht die ganze Energie in den niedrigen Chakras halten, sondern sie zum Anahata (Herz) oder Ajna Chakra (Stirn) bringen.

40. Paramânu-parama-mahattvânto `sya vashikârah     Zurück zum ersten Kapitel

parama = letztes, kleinstes; anu = Atom; parma = letztes, höchstes, größtes; mahattva = Größe, Unendlichkeit (maha = groß; tvânto = Sache); antaha = endend, sich erstreckend; asya = Sein eines Yogi; vashikârah = Meisterung, Meisterschaft

So dehnt sich die Meisterschaft eines Yogi vom kleinsten Atom bis zur Unendlichkeit aus.

Wenn wir meditieren, dann kommen wir zur Meisterschaft vom Kleinsten bis zum Größten, von der kleinsten Sache in unserem Leben bis zur größten im ganzen Kosmos. Das Kleinste ist unser Geist, das Größte ist das Universum.

Das ist ein relativ großer Sprung vom 39. zum 40. Vers, denn Patanjali geht jetzt wirklich wieder zurück zu Samadhi. Er hat ja eigentlich schon über Samadhi gesprochen. Dann hat er erzählt, was es für Hindernisse gibt und wie man sie überwindet. Wenn man das geschafft hat, kommt man zu Samadhi und damit zur Meisterschaft vom Kleinsten bis zum Größten.

Die nächsten Verse sind etwas kompliziert und technisch.

41. Kshîna-vritter abhijâtasyeva maner grahîtri-grahana-grâhyeshu tatstha-tadanjanatâ samâpattih     
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Kshîna-vritteh = von dem, dessen Gedankenwellen/Modifikationen der Psyche fast ganz vernichtet sind; abhijâtasya = transparent; iva = wie; maneh = Juwel, Kristall; grahîtri = der Erkennende, das Subjekt; grahana = Erkenntnis, Subjekt-Objekt-Beziehung; grâhyeshu = erkannte Objekte; tatstha = auf dem es ruht; tadanjanatâ = das Annehmen der Form oder Farbe von etwas anderem; samâpattih = Erfüllung, Verschmelzung

Für einen Menschen, der die Vrittis (Gedanken) durch Meditation kontrolliert hat, verschmelzen der Wahrnehmende, das Wahrgenommene und die Wahrnehmung, so wie ein Kristall die Farbe des Hintergrundes annimmt.

Darüber werden wir im Rahmen des 3. Kapitels mehr erfahren.

In höheren Zuständen des Bewusstseins ist unsere Wahrnehmung nicht mehr so stark durch den Geist gefiltert. Normalerweise, im normalen Bewusstsein, ist es so, dass man, wenn man etwas sieht, es wahrnimmt und anschließend darüber nachdenkt. Wahrnehmung ist dann ein Wechselspiel zwischen den äußeren Objekten und dem eigenen Geist. Den einen Menschen mag man, den anderen mag man nicht. Man sieht den Gesichtsausdruck eines Menschen und deutet ihn. Diese Deutung muss mit dem, was der Mensch eigentlich denkt und meint, gar nichts zu tun haben.

Wenn wir nun allerdings meditieren und die Vrittis kontrolliert sind, können wir zur höheren direkten Wahrnehmung kommen.

Unser Geist nimmt die Farbe des Hintergrundes an. Ein ganz reiner Kristall lässt die Farbe durchscheinen, wenn man ihn vor einen bestimmten Hintergrund stellt. Ein Rosenquarz dagegen wird dessen Farbe nicht rein wiedergeben. Und wieder andere Steine, zum Beispiel Malachit, der ganz grün ist, spiegeln den Hintergrund überhaupt nicht wieder, sie bleiben immer gleich in ihrer Farbe. So ist auch der Geist mancher Menschen sehr stark gefärbt. Egal was sie sehen, sie sehen eigentlich immer nur eine Projektion von sich selbst. Bei manchen ist der Geist etwas durchlässiger und nimmt eine Mischung aus der eigenen Vorstellung und dem Äußeren wahr. Wenn die Vrittis kontrolliert sind, können wir objektiver wahrnehmen.

Die Medienwissenschaft sagt, es gibt kein objektives Denken. Und das stimmt, es gibt kein objektives Denken. Aber nach Patanjali gibt es objektive Wahrnehmung. Das ist die direkte Wahrnehmung ohne Intellekt, ohne Vrittis (Gedanken), ohne Indriyas (Sinne). Wir können die Wirklichkeit unmittelbar wahrnehmen.

42. Tatra shabdârtha-jnâna-vikalpaih samkîrnâ savitarkâ     Zurück zum ersten Kapitel

tatra = da, in ihm; shabda = Wort; artha = wirkliche Bedeutung, wahres Wissen vom Objekt; jnâna = gewöhnliches Wissen aufgrund von Sinneswahrnehmung und Überlegung; vikalpaih = Zerstreutheit, Wechsel; samkîrna = verworren; savitarkâ = Samadhi mit Dualität

Savitarka Samadhi ist jener Zustand, in dem der Geist zwischen auf Worten beruhendem Wissen, wahrem Wissen und Wissen, das auf Sinneswahrnehmung oder Denken gegründet ist, abwechselt.

Wir hatten vorher bereits von Savitarka Samadhi als der Wahrnehmung der physischen Welt als Ganzes gesprochen. Und diese Wahrnehmung der physischen Welt als Ganzes geschieht abwechselnd und sich ergänzend durch Wissen, das auf Worten beruht, durch Sinneswahrnehmung, durch Denken, und zwischendurch auch durch wahres, intuitives, direktes Wissen. Eigentlich ist es noch nicht Samadhi, sondern nur der Savitarka-Zustand, den Patanjali hier beschreibt.

43. Smriti-parishuddhau svarûpa-shûnyevârtha-mâtra-nirbhâsâ nirvitarkâ     Zurück zum ersten Kapitel

smriti = Gedächtnis; parishuddhau = bei Klärung; svarûpa = eigene Natur; shûnya = ohne; iva = als ob; artha = Objekt; wahres Wissen über das Objekt; mâtra = nur; nirbhâsâ = erscheinend, erstrahlend; nirvitarkâ = Samadhi (überbewusster Zustand) ohne Dualität, Bewusstsein der Einheit

Nirvitarka Samadhi ist der Zustand, in dem die Erinnerung geläutert wird und der Geist, bar der Subjektivität, wahres Wissen reflektiert.

Nirvitarka ist der Zustand, wo wir über die Ganzheit der Schöpfung meditieren. Das geht nur, wenn es keine Worte und kein Nachdenken mehr gibt, keine kompetente Zeugenaussage – es gibt einfach nur die direkte Wahrnehmung und damit kommt wahres Wissen.

Der Übergang von Savitarka zu Nirvitarka geschieht also dann, wenn wir aufhören zu denken und tatsächlich die ganze Welt als eine Einheit wahrnehmen.

44. Etayaiva savichârâ nirvichârâ cha sûkshmavishayâ vyâkhyâtâ     Zurück zum ersten Kapitel

etayâ = durch dieses; eva = sogar; savichârâ = Samadhi (überbewusster Zustand) mit Dualität, mit Unterscheidung und Nachdenken; nirvichârâ = Samadhi ohne Dualität, Einheitsbewusstsein; cha = und; sukshmavishayâ = überbewusster Zustand, der noch subtilere Gegenstände einbezieht; vyâkhyâtâ = beschrieben, erklärt.

Durch dies, was in den vorhergehenden zwei Sutras erklärt wurde, ist Samadhi mit Fragestellung, Samadhi ohne Fragestellung und das, was noch subtiler ist, erklärt.

Savichara ist die Meditation über das kosmische Gemüt, solange sie noch mit bewusstem Nachdenken und diesem Wechsel zwischen auf Worten beruhendem Wissen, wahrem Wissen und auf Sinneswahrnehmung und Denken gegründetem Wissen verbunden ist. Solange diese Wahrnehmungszustände abwechseln, befinden wir uns in Savichara.

Wenn das aufhört und wir tatsächlich das kosmische Gemüt als Ganzes unmittelbar wahrnehmen, dann ist es Nirvichara.

Und dann gibt es natürlich noch zwei subtilere Zustände, Sananda und Sasmita.

45. Sûkshma-vishayatvam châlinga-paryavasânam     Zurück zum ersten Kapitel

Sûkshma-vishayatvam = der Samadhi-Zustand, der sich mit subtileren Objekten befasst; cha = und; alinga = das letzte Stadium der Gunas, der drei Eigenschaften der Natur; paryavasânam = sich erstreckend

Der Zustand des Samadhi, der sich mit subtilen (zarten, feinen; spitzfindigen, scharfsinnigen) Objekten beschäftigt, dehnt sich so weit aus wie der unmanifestierte (unsichtbare, nicht wahrnehmbare) Zustand.

Mit subtileren Objekten, sûkshma-vishayatvam, können wir in die höheren Samadhi-Stufen Sananda und Sasmita gelangen. Unser Geist dehnt sich dann so weit aus wie der unmanifestierte Zustand, und wir erleben das unmanifestierte Ego, das unendlich ist.

46. Tâ eva sabîjah samâdhih     Zurück zum ersten Kapitel

tâ = jene; eva = nur; saîjah = mit „Samen“ oder mit Objekt; samâdhih = Samadhi, überbewusster Zustand

Alle diese bilden Meditation mit Samen.

Das ist noch nicht die letztliche Befreiung.

47. Nirvichâra–vaishâradye ’dhyâtma–prasâdah     Zurück zum ersten Kapitel

Nirvichâra = Samadhi ohne Fragestellung; vaishâradye = durch Verfeinerung, durch Erlangen höchster Reinheit; adhyâtma = geistig; prasâdah = Helligkeit, Klarheit

Erreicht man äußerste Reinheit im Samadhi ohne Fragestellung, dämmert Erleuchtung.

Wenn wir so weit sind, dass wir zu Nirvichara kommen, dämmert die Erleuchtung. Es ist noch nicht die vollständige Erleuchtung, aber sie beginnt in diesem Stadium allmählich.

48. Ritambharâ tatra prajnâ     Zurück zum ersten Kapitel

Ritambharâ = das Wahre, Rechte bergend; tatra = da; prajnâ = höheres Bewusstseinsstadium

Das Wissen, das in diesem Zustand erlangt wird, ist absolute Wahrheit.

In Nirvichara, wo wir in die subtilste (zart, fein, scharfsinnig) Essenz des Universums hineingehen und damit verschmelzen, nehmen wir tatsächlich direkte Wahrheit, prajna, wahr. Es ist keine relative Wahrheit mehr, sondern direktes Bewusstwerden der Wahrheit. Trotzdem ist es noch nicht das Unendliche.

49. Shrutânumâna-prajnâbhyâm anya-vishayâ visheshârthatvât     Zurück zum ersten Kapitel

shruta = Gehörtes, Enthüllung; anumâna = Schlussfolgerung; prajnâbhyâm = von zwei Zuständen des höheren Bewusstseins; anya-vishayâ = einen anderen Inhalt habend; visheshârthatvât = weil es ein besonderes Objekt hat

Wissen, das aus Folgerung und Zeugnis erlangt wurde, ist dem Wissen, das in höheren Zuständen des Bewusstseins erlangt wurde nicht gleich, denn es ist auf ein bestimmtes Objekt gerichtet.

Wie bereits erwähnt, gibt es drei Ursachen des Wissens, nämlich direkte Wahrnehmung, kompetente Zeugenaussage und logische Schlussfolgerung.

Hier sagt Patanjali, die höchste direkte Wahrnehmung geschieht in Nirvichara Samadhi. Wenn wir Nirvichara Samadhi erreichen, erlangen wir Wissen über alles. Das Wissen dagegen, das wir aus Schlussfolgerung und Zeugnis haben, ist nur auf ein bestimmtes Objekt gerichtet und außerdem irrtumbehaftet.

50.  Taj-jah samskâro ’nya-samskâra-prati-bandhî     Zurück zum ersten Kapitel

Taj-jah = aus ihm geboren; samskârah = Eindruck; anya = von anderen; samskâra = Eindrücke; prati-bandhî = Verhinderer; das, was im Weg steht

Das Resultat dieses Wissens ist, dass diese Samskaras (Eindrücke, Fähigkeiten, Begabungen) alle anderen ersetzen.

Manche Eindrücke im Unterbewusstsein beziehen sich auf bestimmte Fähigkeiten und Möglichkeiten. Manche Menschen sind musikalisch, andere haben eine besondere handwerkliche, mathematische oder schriftstellerische Begabung, natürliche Menschenkenntnis oder Führungsfähigkeiten, mit denen sie schon auf die Welt gekommen sind, also angeborene Samskaras.

Andererseits sind Samskaras auch Wünsche und Neigungen. Oft ergänzen sich Fähigkeiten und Neigungen, aber nicht immer. Manche Kinder mögen zum Beispiel von klein auf eine Farbe mehr als andere, manche mögen dieses, andere jenes lieber. Manche Menschen können etwas ganz gut, haben aber keine Lust dazu, sondern wollen gerne etwas anderes machen.

Es gibt auch Menschen mit alten Yoga-Samskaras. Sie fangen aus irgendwelchen eigenartigen Gründen an, einen Yogakurs zu machen – weil ein Freund, eine Freundin sie mitschleppt, weil sie zufällig ein Buch darüber sehen, weil sie sich gestreßt fühlen oder Rückenschmerzen haben, weil sie einfach mal etwas Neues ausprobieren möchten oder jemand ihnen erzählt hat, wie toll Yoga ist – und dann gefällt es ihnen so gut, sie wollen einfach mehr machen. Swami Vishnu hat gesagt: Wer in diesem Eisernen Zeitalter ein spirituelles Leben wirklich konsequent leben kann, der muss schon tiefe spirituelle Samskaras haben, der muss schon in einigen Leben vorher ab und zu mal Yoga geübt haben! Und wenn die Zeit reif ist, drücken sich diese Samskaras von selbst aus.

Nun kann man natürlich fragen: Wenn das so ist, warum passiert es mir dann erst jetzt mit 35 oder 40 Jahren oder noch später, dass ich anfange, Yoga zu üben? – Das kommt daher, dass man aus früheren Leben auch noch irgendwelche anderen Samskaras hat, Wünsche oder Neigungen, die man nicht ausgelebt und daher bedauert hat. Vielleicht hat man in seinem früheren Leben gedacht: „Jetzt habe ich 20 Jahre oder mehr geübt, aber ein paar andere Sachen habe ich verpasst.“ Wenn man diese Vorstellung hatte, dann wird man eben im gegenwärtigen Leben erst all diese Sachen ausleben und vielleicht erst mit 40, 50, 60 Jahren oder sogar noch später zum Yoga kommen. Aber dann geht es in der Regel recht schnell und konsequent, das Leben wird sich recht zügig umwandeln, eben wegen dieser bereits vorhandenen Eindrücke.

Natürlich sind unsere Samskaras nicht nur vom letzten Leben abhängig, sondern sie werden auch in diesem Leben weitergeprägt – durch unsere Erziehung, unsere Eltern, unsere Klassenkameraden, unsere Lehrer und durch das, was wir bewusst im Leben tun.

Wir können unsere Samskaras ändern. Ein großer Teil des spirituellen Fortschritts besteht darin, seine Samskaras Schritt für Schritt zu verändern. Das ist einer der Gründe, warum das spirituelle Wachstum so lange dauert. In unserem Unterbewusstsein ist so viel gespeichert – Ärger, Eifersucht, Angst, Selbstsucht, Gier, Zorn, Neid, Hass – all das müssen wir Schritt für Schritt umwandeln. Das geht nicht von heute auf morgen, sondern dauert seine Zeit. Yoga gibt uns Techniken, wie wir bewusst daran arbeiten können. Wir müssen positive Denkgewohnheiten schaffen, unser Unterbewusstsein Schritt für Schritt transformieren.

Auch die ganzen Wünsche, die wir noch haben, prägen uns und unser Leben. Es heißt, dass jeder Wunsch auf irgendeine Art und Weise erfüllt werden muss. Wenn der Wunsch klein ist, kann er auch manchmal im Traum erfüllt werden. Andere können in der Zeit zwischen zwei Leben erfüllt werden. Und wieder andere müssen sich auf der physischen Ebene manifestieren. Es ist also wichtig, aufzupassen, welche Wünsche man kultiviert, welche man in sich stark werden lässt. All das hält uns ab, zur Wahrheit zu kommen.

Man kann sagen, es gibt drei Dinge, die unseren spirituellen Fortschritt verlangsamen:

Das eine sind Samskaras (Eindrücke, Wünsche, Verhaftungen), das zweite ist Karma (negative Eigenschaften, negative Geschehnisse aus dem jetzigen Leben) und das dritte ist Mangel an Ojas, spiritueller Energie.

Unseren Geist auf eine höhere Ebene zu bringen, zu Samadhi (überbewusster Zustand), braucht sehr viel Ojas, das wir durch systematische spirituelle Praxis und Sublimierung (Umwandlung, Läuterung) aller anderen Energien erst ansammeln müssen.

Da sind erst einmal die Grundenergien Prana (Lebensenergie), Apana (der nach innen kommenden Atem, die nach unten gehende Energie), Samana (Verdauung), Udana (Energiezentrum in der Kehle), Vyana (verantwortlich für den Blutkreislauf) als Manifestationen des Pranas. Durch systematische Praktiken sublimieren wir diese.

Aber auch Wünsche können wir durch Nichterfüllung sublimieren. Und auch andere Impulse und Emotionen können wir sublimieren in spirituelle Energie umwandeln, indem wir ihnen nicht nachgeben.

Und dann natürlich Karma. Wir haben verschiedene Sachen auszuarbeiten, verschiedene Lektionen zu lernen. Solange wir noch sehr viel Karma haben, wird auch die Selbstverwirklichung auf sich warten lassen. Trotzdem heißt es:  Wenn es uns trotz allen Karmas doch irgendwie gelingt, zu Samadhi zu kommen, dann werden die Eindrücke von Samadhi so stark sein, dass sie alle anderen Eindrücke ersetzen. Eine tiefe spirituelle Erfahrung wird dann so stark, dass vieles andere abgeschwächt wird und keine so große Rolle mehr spielt.

Wenn man eine große Vision, eine tiefe Meditationserfahrung hat und sich dabei dem Unendlichen, Gott, dem Meister sehr nahe oder verbunden fühlt, dann wird das mit einem Schlag stärker als alles andere. Natürlich können anschließend die anderen Wünsche und Samskaras (Eindrücke) auch wieder wachsen, wenn wir sie füttern oder sie können noch kleiner werden, wenn wir uns bewusst mehr spirituell orientieren. Wir müssen also auch nach einer solchen Erfahrung wachsam sein und unsere spirituelle Praxis diszipliniert weiterführen.

Deshalb kann man sagen, der spirituelle Weg ist eine Mischung aus schrittweiser Arbeit und plötzlicher Gnade.

Wir arbeiten ganz langsam, ändern, ersetzen einen negativen Gedanken durch einen positiven, eine negative Eigenschaft durch eine positive, alles Schritt für Schritt. Es gibt Rückfälle, wir fallen in alte Gewohnheiten zurück, müssen uns täglich neu motivieren und überwinden. Und plötzlich gibt es eines Tages eine wunderschöne Meditation oder ein tiefgehendes Pranayama und mit einem Schlag sind all die Schwierigkeiten erst einmal verschwunden.

Das Resultat von höheren Bewusstseinszuständen ist, dass sie die Samskaras ersetzen. Und das ist auch ein Kriterium, um zu beurteilen, ob eine Erfahrung wirklich Samadhi war oder nicht. War es Samadhi, dann ändert dieses Erleben etwas Grundlegendes in uns. Wir sind nicht mehr so wie vorher, unser Denken, Fühlen, Wollen, Mögen und Wünschen ist ein anderes.

51. Tasyâpi nirodhe sarva-nirodhân nirbîjah samâdhih     Zurück zum ersten Kapitel

tasya = von dem; api = auch; nirodhe = bei Unterdrückung, Unterlassung; sarva = (von) allen; ni-rodhât = durch Unterdrückung; nirbîjah = samenlos, subjektiv; samâdhih = überbewusster Zustand

Wird auch dieses gezügelt, tritt man in den samenlosen Zustand des Samadhi ein.

Werden die bewusststeinszustände von Nirvichara, Sananda und Sasmita Samadhi überwunden, werden auch sie zu Nirodha, dann hört alles auf (sarva–nirodhân) und wir kommen zu Nirbijah Samadhi, zum Samadhi ohne Samen. Das ist das gleiche wie Asamprajnata Samadhi. Und dann sind wir selbstverwirklicht.

Eigentlich könnte man hier aufhören. Das erste Kapitel enthält auf gewisse Weise schon alles.

Um es nochmals zusammenzufassen:

Patanjali beginnt im ersten Kapitel damit, zu erklären, was Yoga ist.

Yoga ist das Zur-Ruhe-Kommen der Gedanken im Geist. Dann ruht man in seinem wahren Wesen.

Wenn wir nicht in unserem wahren Wesen sind, identifizieren wir uns mit den Vrittis (Gedankenwellen).

Es gibt fünf Arten von Vrittis (1. korrektes Wissen, 2. irriges Verstehen, 3. Wortirrtum, 4. Schlaf und 5. Erinnerung). Einige sind schmerzhaft, andere nicht. Dann zählt er die Arten von Vrittis auf. Anschließend erklärt er uns, wie wir sie beherrschen können, nämlich durch Abhyasa (Übung) und Vairagya (Leidenschaftslosigkeit).

Wenn wir unsere Vrittis beherrschen, kommen wir zu Samadhi. Und er fährt fort, indem er zunächst definiert, was Samadhi überhaupt ist und erklärt dann die verschiedenen Arten und Stufen.

Manche Menschen erreichen die Befreiung recht zügig, weil sie in einem früheren Leben schon sehr weit waren oder weil sie schon in früheren Leben hohe Samadhi-Stufen erreicht haben, die Verschmelzung mit Prakriti (Natur, Substanz, Universum) oder den körperlosen Zustand. Andere hingegen bemühen sich in diesem Leben durch verschiedene Praktiken.

Es gibt mehrere Voraussetzungen, die auf dem spirituellen Weg notwendig sind. Wir müssen Energie hineinstecken, brauchen also Energie. Wir brauchen Glauben, Vertrauen, ein waches Bewusstsein und wir müssen uns immer wieder die spirituellen Wahrheiten und Techniken in Erinnerung rufen.

Die Verwirklichung kommt schnell, wenn der Wunsch danach stark ist. Der Wunsch nach Befreiung kann stark, mittel oder schwach sein.

Der Erfolg kommt auch schnell für jene, die Ishwara (Gott) hingegeben sind. Verehrung Gottes, Bhakti Yoga (Hingabe an Gott), führt sehr schnell zur Verwirklichung.

Dann gibt Patanjali eine allgemeine Beschreibung, wie wir uns Ishwara vorstellen müssen, damit wir befreit werden. Ishwara ist das spezifische Zentrum von Bewusstsein, welches frei ist von Karma, von Wünschen und von Leid. Ishwara ist der Lehrer aller Lehrer. Er enthüllt sich in dem Wort „Om“.

„Om“ gibt uns eine erleuchtete Innenschau und beseitigt alle Hindernisse.

Darauf folgt eine Aufzählung aller Hindernisse und anschließend nennt er die Techniken, diese Hindernisse zu beseitigen.

Dann spricht er nochmals über die einzelnen Samadhi-Formen und zum Schluss sind wir bei Nirbijah Samadhi. Irgendwann kommen wir alle zu Nirbijah Samadhi, aber es ist nicht gesagt, dass wir es in diesem Leben erreichen.

Im engeren Kreis seiner Schüler hat Swami Vishnu uns manchmal gesagt, wir sollen nicht die Illusion haben, dass der spirituelle Weg im fortgeschrittenen Stadium leichter wird. Wenn man auf den ersten Stufen steht und fällt, dann ist es nicht so schlimm. Wenn man auf einer Leiter die untersten Sprossen erklommen hat und dann herunterfällt, macht es nichts. Aber wenn man auf einer langen Leiter ganz oben ist, ausrutscht und stürzt, dann ist es unschön. Je höher wir kommen, desto größer sind die Versuchungen und desto größer sind die Aufgaben. Natürlich ist auch die Wonne, die wir in der Meditation und im Leben erfahren, umso größer. Aber es wird nicht leichter.

Für sehr fortgeschrittene Aspiranten reicht das erste Kapitel aus, denn es enthält im Kern alles. Es ist sehr anspruchsvoll. Die Hälfte handelt von Samadhi, die andere Hälfte davon, wie die Hindernisse dorthin zu beseitigen sind.

Andere Aspiranten, zu denen wir alle gehören, müssen auch noch die restlichen Kapitel behandeln. Dort wird es nämlich sehr viel leichter. Das zweite Kapitel ist einfacher, konkreter und daher für den normalen Durchschnittsaspiranten geeigneter.

Frage: Wie sieht das aus, wenn jemand in Samadhi ist?

Antwort: Wir dürfen das nicht zu sehr an Äußerlichkeiten festmachen. Typischerweise beurteilen wir alles nach dem äußeren Anschein.

Arjuna fragt Krishna ja auch im 2. Kapitel der Bhagavad Gita: „Wie sieht ein Mensch aus, der die Verwirklichung erreicht hat? Wie geht er, wie ist er, wie steht er, wie spricht er?“ Krishna geht darauf überhaupt nicht ein. Er sagt stattdessen nur: Ein Selbstverwirklichter ist gleichmütig in Erfolg und Misserfolg. Er empfindet Liebe zu allen Wesen. Er ist in der Gegenwart des Höchsten. Äußere Kennzeichen gibt Krishna gar nicht an.

Aber ich kann euch etwas aus meiner persönlichen Erfahrung mit Swami Vishnu erzählen. Wenn er öffentlich meditiert hat, hat er sich bemüht, nicht in Samadhi zu fallen. Er hat dann auch nur kurz meditiert, bis zu einer halben Stunde. Denn in Samadhi ist man zu sehr von der Außenwelt weg. Normalerweise hat er zwischen drei und fünf Uhr morgens meditiert und dann war er allein. Aber wenn man in der Nähe von ihm war, hat man das gemerkt. Als ich einmal eine Weile in demselben Häuschen wohnte, in dem er auch war, bin ich immer um drei Uhr aufgewacht und konnte gar nicht anders als zu meditieren. Oder wenn man im selben Zimmer war wie er, merkte man die starke Schwingung, die von ihm ausging.

Ich kann mich an ein Ereignis während unserer fortgeschrittenen Lehrerausbildung erinnern. Es war, glaube ich, an Swami Sivanandas Geburtstag. Aus diesem Anlass haben wir ein Schauspiel aufgeführt, wo wir ein paar Szenen aus dem Leben von Swami Sivananda gespielt haben. Swami Vishnu hat zuerst zugeschaut, uns immer wieder gelobt, wie gut die Szenen seien und plötzlich hat er nichts mehr gesagt. Er saß nur einfach da, vollkommen bewegungslos. Nichts hat sich bewegt, nur ein Lächeln lag über seinem Gesichtsausdruck und so blieb er. Wir wussten erst nicht, wie wir uns jetzt verhalten sollten.

Schließlich haben wir das Stück einfach weitergespielt – er hat sich davon auch nicht weiter stören lassen. Als das Stück zu Ende war, haben wir gemeinsam Om gesagt. Wer schlafen gehen wollte, ist gegangen und ein paar sind noch eine Weile bei Swami Vishnu geblieben. Die Schwingung ist zwar gleich hoch geblieben, aber irgendwann wurde der Geist trotzdem müde; außerdem ging es am nächsten Morgen recht früh wieder weiter, so dass irgendwann einer nach dem anderen ging und dann saß er halt alleine da. So ist Samadhi.

Samadhi selbst kann man nicht beschreiben. Es ist Sat-Chit-Ananda, reines Sein, Wissen und Glückseligkeit.

Die niederen Samadhi-Stufen sind noch verbunden mit irgendwelchen Wahrnehmungen, konkreten Gefühlen, aber in den höheren Stufen gibt es nichts mehr, was man auch nur andeutungsweise beschreiben kann.

Die Kundalini entwickelt sich parallel damit. Wenn man in Samadhi ist, ist auch das Prana sehr hoch, aber man ist sich dessen nicht mehr bewusst. Die Gehirnwellen sind in einem spezifischen Zustand, aber man ist sich keiner Gehirnwellen bewusst. Der Herzschlag setzt fast aus, aber man ist sich keines Herzschlages bewusst. Der Körper wird vollkommen bewegungslos, aber man spürt keinen Körper.

Es gibt also Korrelationen auf der physischen und energetischen Ebene, aber das Bewusstsein ist davon abgehoben. Das Bewusstsein ist eben nicht mehr im individuellen Körper und in der individuellen Energie. Auch individuelle Emotionen, Gefühle, Wahrnehmungen, Sichtweisen sind nicht mehr da, weil das Bewusstsein in dieser Form von vollständigem Samadhi, wo wir uns auf das Kosmische als Ganzes konzentrieren, nichts Individuelles mehr erfasst.

Wie wir noch sehen werden, gibt Patanjali uns im 3. Kapitel Formen von Samadhi an, bei denen wir uns auf eine konkrete Sache konzentrieren.

Frage: Wenn man Videos sieht von Heiligen, Selbstverwirklichten, dann hat man den Eindruck, dass sie sich oft in einem entrückten Zustand befinden. Man hat das Gefühl, sie sind nur halb hier. Was ist das für ein Zustand oder was ist der Grund dafür? Auch wenn sie durch die Gegend gehen und dabei die Augen offen haben, schweben sie irgendwie in den Wolken.

Es gibt auch bei uns Mitarbeiter, die teilweise in den Wolken schweben. Aber es gibt einen Unterschied zwischen ihnen und großen Meistern. Die Meister haben das sogenannte Doppelbewusstsein. Das heißt, sie haben das Bewusstsein für das Unendliche und das Bewusstsein für die Welt gleichzeitig. Sie sind entrückt und es kann sein, dass sie ständig in einem höheren Bewusstseinszustand bleiben und auf dieser Erde gar nicht mehr so richtig landen. Zum Beispiel wenn man die Bilder von Anandamahi Ma oder von Ramana Maharshi sieht, würde man sie in Padarthabhavani (Zustand des lebendig Befreiten) einstufen, die sechste Stufe der sieben Bhumikas, (sieben Stufen der Erkenntnis). In diesem Zustand existieren äußere Dinge nicht mehr für sie. Sie handeln nicht mehr aus eigenem Antrieb, sondern erfüllen nur noch Aufgaben, die ihnen von anderen auferlegt werden. Während andere Meister, zu denen auch Swami Sivananada lange Zeit gehörte, vollen Zugang zum Überbewusstsein haben, aber gleichzeitig auch vollen Zugang zur physischen Welt.

Da gibt es eine lustige Geschichte. Eines Tages kam eine Frau in den Ashram in Rishikesh und wollte gerne Swami Sivananda sehen. Man hat sie ins Büro geschickt und gesagt, dort würde sie ihn treffen. Im Büro saß jemand an der Schreibmaschine. Als er sie sah, hat er angefangen, sich mit ihr zu unterhalten. Er hat sie gefragt, wie es ihr geht, was sie macht, wie lange sie auf dem spirituellen Weg ist usw. Nach der Unterhaltung kam sie wieder heraus und fragte: „Da war kein Swami Sivananda, wo ist er denn?“ Und die anderen sagten: „Ja, du kommst doch gerade von ihm, du hast dich doch mit ihm unterhalten.“ „Was, das ist der Meister Sivananda? Ich dachte, dass sei der Manager hier.“ Aber sie hat natürlich schon gemerkt, dass eine besondere Ausstrahlung von ihm ausging. Sie ist dann noch einmal hineingegangen und hat sich vor ihm verneigt.

Swami Sivananda war nicht so entrückt – was für einen spirituellen Schüler praktischer ist, meine ich. Das merkt man auch daran, wie unterschiedlich die Ashrams sind. In den Ashrams von Anandamahi Ma und Ramana Maharshi wurde sogar die Kastentrennung aufrechterhalten. Lange Zeit durften Westler nicht im Ashram essen, weil sie als unrein galten. Die Meister sind entrückt, sind einfach da und strahlen Wonne aus, aber sie achten nicht darauf, was um sie herum passiert. Wie ihre Schüler den Ashram führen, interessiert sie gar nicht.

In den Ashrams von Meistern wie Swami Sivananda oder Mahatma Ghandi wurde hingegen als erstes die Kastentrennung aufgehoben und es wurden auch keine Religionsunterschiede gemacht. Swami Sivananda achtete darauf, dass alles im Ashram diesen spirituellen Prinzipien entsprach – soweit es natürlich möglich war. Letztlich hatte er auch die Weitsicht zu erkennen, dass die Menschen unvollkommen sind und dass auf der physischen Ebene nichts tatsächlich vollkommen sein kann. Swami Sivananda konnte sehr, sehr praktisch sein. Aber es gibt auch Bilder von ihm, wo er offensichtlich entrückt auf einer Samadhi-Ebene ist. Dasselbe gilt für Swami Vishnu.

Frage: Haben sie sich durch eine bewusste Anstrengung von einem Zustand in den anderen versetzt? Oder ging das einfach so?

Das passiert einfach so. Ein großer Meister macht keine bewusste Anstrengung mehr für irgendetwas. Es geschieht. Es ist nicht so, dass er jetzt die Wahl hat, sich zu überlegen: Soll ich nur noch transzendent sein oder mehr auf der physischen Ebene bleiben? Denn dieses Ego, das überlegt und entscheidet, ist nicht mehr da. Es geschieht das, was geschehen soll, sowohl aus eigenem Karma heraus als auch als Instrument des Göttlichen. Und verschiedene Meister haben durchaus verschiedene Aufgaben.

Wenn man als spiritueller Aspirant zu schnell zu subtil (zart, fein, scharfsinnig) wird und die Bodenhaftung verliert, ist das nicht so gut. Denn dann entgeht man einigen Problemen, die man eigentlich bewältigen und aufarbeiten müsste. Deshalb ist auch Karma Yoga, der selbstlose Dienst, das Handeln und Arbeiten ohne Erwartung, so wichtig. Und es ist wichtig, an den Samskaras (Eindrücken, Verhaftungen) zu arbeiten. Wenn man sich dauerhaft in einem Schwebezustand befindet, bevor man an den Samskaras gearbeitet hat, dann heiligt man nur sein Ego, statt es zu transzendieren und rettet seine Unvollkommenheiten in einen subtilen Schwärmzustand.


Zweites Kapitel  Sadhana Pada – Spirituelle Praxis

Einleitung
1. Tapah-svâdhyâyeshwara-pranidhânânikriyâ-yogah
2. Samâdhi-bhâvanârthah klesha-tanû-karanârthash
3. Advidyâsmita–râga–dveshâbhiniveshah kleshah
4. Avidyâ kshetram uttareshâm
5. Anityâshuchi-duhkânâtmasu
6. Drig-darshana-haktyor-ekâtmatevâsmitâ
7. Sukhânushayî râgah
8. Duhkhânushayî dweshah
9. Swarasawâhî vidusho ‘pi tathâ rûdho
10. Te pratiprasava-heyâh sûkshmâh
11. Dhyâna-heyâs tad-vrittayah
12. Klesha-mûlah karmâshayo
13. Sati mûle tad-vipâko jâty-âyur-bhogâh
14. Te hlâda-paritâpa-phalâh punyâpunya-hetutvât
15. Parinâma-tâpa-samskâra-duhkhair
16. Heyam duhkham anâgatam
17. Drashtri-drishyayoh samyogo heya-hetuh
18. Prakâsha-kriyâ-sthit-–shîlam
19. Visheshâvishesha-lingamâtrâlingâni
20. Drashtâ drishimâtrah shuddho ¢pi
21. Tad-artha eva drishyasyâtmâ
22. Kritârtham prati nashtam apy anashtam
23. Swa-swâmi-shaktyoh swarûpopalabdhi-hetuh
24. Tasya hetur avidyâ
25. Tad-abhâvât samyogâbhâvo hânam tad drisheh
26. Viveka-khyâtir aviplavâ hânopâyah
27. Tasya saptadhâ prânta-bhûmih prajnâ
28. Yogângânushthânâd ashuddhi-kshaye jnâna-dîptir
 29. Yama-niyamâsana-prânâyâma-pratyâhâra-dhâranâ-
dhyâna-samâdhayo ¢shtâv
30. Ahimsâ-satyâsteya-brahamacharyâparigrahâ yamah
 31. Jâti-desha-kâla-samayânavachchhinnâh
32.Shaucha-samtosha-tapah-swâdhyâyeshwara- pranidhânâniniyamâh
33.Vitarka-bâdhane-pratipaksha-bhâvanam
34.Vitarkâ himsâdayah krita-kâritânumoditâ
35. Ahimsâ-pratishthâyâam tat-samnidhau
36. Satya-pratishthâyâm kriyâ-phalâshrayatvam
37. Asteya-pratishthâyâm sarva-ratnopasthânam
38. Brahmacharya-pratishthâyâm vîrya-lâbhah
39. Aparigraha-sthairye janma-kathamtâ-sambodhah
40. Shauchât svânga-jugupsâ parair asamsargah
41.Sattvashuddhi-saumanasyaikâgryendriya-
jayâtmadarshana-yogyatvâni cha
42. Samtoshâd anuttamah sukha-lâbhah
43. Kâyendriya-siddhir ashuddhi-kshayât tapasah
44. Swâdhyâyâd ishta-devatâ-samprayogah
45. Samâdhi-siddhir Îshwara-pranidhânât
46. Sthira-sukam âsanam.
47. Prayatna-shaithilyânanta-samâpattibhyâm
48. Tato dvandvânabhighâtah
49. Tasmin sati shvâsa-prashvâsayor gati-vicchedah
50. Bâhyâbhyantara-stambha-vrittir
51. Bâhyâbhyantar-vishayâkshepî chaturthah
52. Tatah kshîyate prakâshâvaranam
53. Dharanasu cha yogyata manasah
54. Sva-vishayâsamprayoge chitta-svarûpânukâra
55. Tatah paramâ vashyatendriyânâm

Einleitung: Das zweite Kapitel hat vier Hauptthemen:     Zurück zum zweiten Kapitel

Das erste Thema ist Kriya Yoga ( im Raja Yoga: Askese, Selbststudium, Hingabe zu Gott) und Kleshas (die Ursachen des Leidens), das zweite die Samkhya-Philosophie, die Antworten auf Fragen gibt wie: „Was ist das Universum?“, „Was ist Bewusstsein?“, „Was ist der Mensch?“ Das dritte Thema ist Karma. Die beiden letzteren hängen eng zusammen und definieren die Lebenseinstellung des Yogis. Und das vierte Thema sind die acht Stufen des Raja Yoga, die Ashtangas, wobei Patanjali die ersten fünf im zweiten Kapitel behandelt und die letzten drei im dritten Kapitel.

1.Tapah-svâdhyâyeshwara-pranidhânânikriyâ-yogah
     Zurück zum zweiten Kapitel

tapah = Enthaltsamkeit, Strenge, Askese; svâdhyâya = Selbststudium; ishwara-pranidhânâni = Hingabe an Gott, Selbstaufgabe; kriyâ-yogah = Yogapraxis

Selbstzucht, Selbststudium und Hingabe an Gott bilden den Kriya Yoga.

Der Ausdruck Kriya heißt Handlung, ähnlich wie Karma. Beide stammen vom selben Wortstamm. Kriya Yoga ist der Yoga der Handlung, d. h., es geht um Techniken und Methoden, die jeder ausführen kann; etwas, was man aktiv tun kann.

Im Hatha Yoga sind die Kriyas die Reinigungsübungen.

Im Kundalini Yoga werden manchmal kombinierte Energietechniken als Kriyas bezeichnet. Wenn man zum Beispiel in Paramahamsa Yogananadas Autobiographie von der Einweihung in den Kriya Yoga liest, dann sind in diesem Zusammenhang nicht Reinigungstechniken wie Neti (Nasenspülung) oder Shank Prakshalama (Magen–/Darmreinigung) gemeint, sondern das sind die kombinierten Energietechniken, wobei meist eine bestimmte Art der Atmung verbunden wird mit Bandhas (energielenkende Verschlüsse) wie Beckenbodenverschluss, Zungenverschluss sowie mit einem Mantra.

Kriya ist zunächst einmal etwa Grobstoffliches, zu dem keine Konzentrationsfähigkeit und kein höheres Bewusstsein notwendig sind. Denn es ist schwer, kosmische Liebe zu empfinden oder die Gegenwart Gottes zu spüren. Es ist leichter, Anweisungen für bestimmte Techniken zu folgen, wie zum Beispiel: „Zieh‘ die Beckenbodenmuskeln zusammen, erzeuge den sanft hörbaren Ujjayi–Klang, wiederhole geistig: lam, lam, lam und visualisiere dir dabei eine Glasröhre in der Wirbelsäule, in der Licht vom unteren Ende der Wirbelsäule nach oben strömt.“ Das kann man irgendwie machen.

Im alten klassischen Bhakti Yoga sind die Kriyas bestimmte Rituale, die ein indischer Hausvater, ein Grihasti, ausführt, also bestimmte Pujas (Verehrungsrituale), Ahnenverehrung, Almosen, Spenden, Feuer entzünden, usw. Dort sind fünf Kriyas, Handlungen, für einen Haushalter vorgeschrieben; sie werden bei Brahmanen auch heute noch praktiziert.

Und im Raja Yoga sind die drei Kriyas Tapah, Swadhyaya und Ishwara Pranidhana.

· Tapas = Askese (im eigentlichen Wortsinn)
· Swadhyaya = Selbststudium
· Ishwara Pranidhana = Verehrung Gottes, Hingabe an Gott

2. Samâdhi-bhâvanârthah klesha-tanû-karanârthash cha     Zurück zum zweiten Kapitel

Samâdhi = überbewusster Zustand; bhâvanârthah = um herbeizuführen; klesha = Kummer;
tanûkaranârthah = verringern, abschwächen

Er vermindert Leiden und führt Samadhi herbei.

Kriya Yoga (Askese, Selbststudium, Hingabe zu Gott) schafft ârtha bhâvana, das rechte, innige Gefühl, das Samadhi herbeiführt. Indem wir Kriya Yoga praktizieren, entsteht die emotionelle Grundhaltung, bhâva, welche uns in die Lage versetzt, Samadhi zu erreichen. Kriya Yoga vermindert die Kleshas (Heimsuchungen). Die Kleshas sind die Ursachen (karanârthas) des Leides.

Was sind nun die Kleshas? Das wird im Folgenden erklärt.

3. Advidyâsmita–râga–dveshâbhiniveshah kleshah     Zurück zum zweiten Kapitel

avidyâ = Unwissenheit; asmitâ = „Ich-Sein“, Egoismus; râga = Anziehung, Zuneigung; dvesha = Abneigung; abhiniveshâh = Anhaften (am Leben), Todesfurcht; kleshah = Schmerzen, Ursachen der Leiden

Unwissenheit, Egoismus, Anziehung und Abneigung sowie Furcht vor dem Tod sind die Leiden, die Schmerz verursachen.

Die fünf Kleshas heißen

· Avidya – Nichtwissen, Unwissenheit
· Asmita – Ego, Ich-Gefühl, Identifikation
· Raga – Mögen, Zuneigung
· Dwesha – Nichtmögen, Abneigung
· Abhiniwesha – Angst im weiteren Sinn, Furcht vor dem Tod im engeren Sinn

Wir gehen zunächst näher auf die Kleshas ein, dann wird es noch leichter verständlich, warum Kriya Yoga hilft, Leiden zu vermeiden.

4. Avidyâ kshetram uttareshâm prasupta-tanu-vicchhinnodârânâm     Zurück zum zweiten Kapitel

avidyâ = Nichtwissen, fehlende Wahrnehmung der Wirklichkeit; kshetram = Feld, Quelle; uttareshâm = der Folgenden; prasupta = schlafend; tanu = abgeschwächt, dünn; vicchhina = verstreut, abwechselnd; udârânâm = ausgedehnt

Unwissenheit ist die Ursache (Quelle) von den oben erwähnten Leiden, die ihr folgen, ob sie nun latent, schwach, unterdrückt, oder akut sind.

5. Anityâshuchi-duhkânâtmasu nitya-shuchi-sukhâtmakhyâtir avidyâ     Zurück zum zweiten Kapitel

anitya = nicht-ewig; ashuchi = unrein; duhkha = Leid, Elend; anâtmasu = nicht-Selbst; nitya = ewig; shuchi = rein; suhkha = Glück, Gutes; âtmâ = Selbst; khyâtih = Wissen, Bewusstsein; Avidyâ = Nicht-wissen

Unwissenheit hält das Vergängliche, Unreine, Schmerzvolle und das Nicht–Selbst fälschlich für das Ewige, Reine, Gute und das Selbst.

Der Körper zum Beispiel ist vergänglich, unrein. Chirurgen können einem bestätigen, dass die Lunge heutzutage bei den meisten Menschen leicht schwarz ist. Und wenn jemand mal geraucht hat, ist sie ganz schwarz. Wenn man den Darm aufschneidet, dann stinkt das ganz furchtbar. Die Leber ist meist zerfressen. Der Körper ist voller Unreinheiten, schmerzvoll und nicht das Selbst. Aber wir denken: Ich bin der Körper. Und die wenigsten rechnen damit, dass sie sterben werden. Sie halten den Körper für rein, für gut, für ewig. Gemäß einer Studie nehmen die meisten Menschen an, dass sie nicht sterben. Wenn man sie fragt, ob sie lieber zu Hause oder im Krankenhaus sterben wollen, sagen die meisten: „Wenn ich schon sterben muss, dann lieber zuhause.“, als ob das die Frage wäre. Man muss irgendwann sterben.

Wenn wir einmal pro Woche Shank Prakshalama (Magen-/Darmreinigung) machen, oft fasten, nur biologisch-organisches Gemüse in optimalen Abstimmungen essen, jeden Tag Neti (Nasenspülung mit kaltem Wasser), Dhauti (Magenreinigung), Basti(Darmreinigung) usw. machen würden, würden wir zwar den Körper recht rein halten, aber irgendwann stirbt er trotzdem. Der Körper bemüht sich allerdings von Natur aus, rein zu bleiben. Durch verschiedene Reinigungspraktiken versuchen wir, ihn dabei zu unterstützen. Die meisten Menschen machen aber eher das Gegenteil. Sie muten ihrem Körper alle möglichen schlimmen Sachen zu und das führt eben zu Unreinheiten. Denn die Natur hat nicht vorgesehen, dass wir alle möglichen Konservierungs-, Geschmacks-, Aroma- und Farbstoffe zu uns nehmen; die Natur hat nicht vorgesehen, dass wir die Luft vergiften und sie dann einatmen; die Natur hat nicht vorgesehen, dass wir unseren Körper zum Grabmal von Tierleichenteilen machen. Das alles führt zu allen möglichen Unreinheiten.

Und wie mit unserem Körper identifizieren wir uns auch mit unserer Persönlichkeit, mit unseren Talenten, Fähigkeiten, Neigungen: „So bin ich halt“.

Man hält das Schmerzvolle für das Gute, Freudvolle. Alles Sinnliche ist letztlich nicht wirklich freudvoll, aber man denkt, dies oder jenes zu erreichen, müsste freudvoll sein.

Das also ist Avidya, Unwissenheit, fälschliche Ansicht.

6. Drig-darshana-haktyor-ekâtmatevâsmitâ     Zurück zum zweiten Kapitel

drig = Macht des Bewusstseins, Purusha, Seher; darshana-shaktyoh = Kraft des Sehens, Erkenntnis, Budhhi; ekâtmatâ = Identität, Verschmelzung; iv = als ob; asmitâ = „Ich-Sein“, Egoismus

Egoismus ist die Identifikation des Sehenden mit dem Instrument des Sehens.

Die tatsächliche Identifikation mit dem Körper, den Gedanken, Gefühlen, Fähigkeiten ist der nächste Schritt: Am Anfang steht Avidya, die fälschliche Ansicht, und als nächstes sind wir Asmita , wir kommen zu einer Identifikation unseres Ichs: „So bin ich, das bin ich“.

7. Sukhânushayî râgah     Zurück zum zweiten Kapitel

sukha = Vergnügen, Glück; anushayî = begleitend, resultierend; râgah = Anziehung, Gefallen, Mögen

Anziehung ist das, was sich mit Vergnügen beschäftigt.

Wenn wir uns mit etwas identifizieren, halten wir etwas Bestimmtes für wünschenswert. Diese bestimmte Sache bringt uns unserer Meinung nach Vergnügen. Und was Vergnügen bringt, das wollen wir haben.

8. Duhkhânushayî dweshah     Zurück zum zweiten Kapitel

duhkha = Schmerz; anushayî = begleitend, resultierend; dweshah = Abneigung, Nichtmögen

Abneigung ist das, was Schmerz zu meiden sucht.

9. Swarasawâhî vidusho ‘pi tathâ rûdho ‘bhiniveshah     Zurück zum zweiten Kapitel

swarasawâhî = gestützt auf seine eigenen Kräfte, automatisch fließend; vidushah = der Gelehrte, Weise; api = sogar; tathâ = auf diese Weise; rûdhah = reitend, beherrschend; abhiniveshah = Todesfurcht, starker Wunsch nach Leben

Furcht vor dem Tod ist der fortgesetzte Wunsch zu leben, der sogar im Geist von Weisen verwurzelt ist.
Einen Selbsterhaltungstrieb hat letztlich noch der Weise.

Jetzt könnte man sagen – und so argumentiert die westliche Psychologie: Das mag ja alles schön und gut sein, da hat auch niemand etwas dagegen, aber so ist halt das menschliche Leben. Aber die Yogis sagen: „Das ist die Ursache des Leidens und man kann durchaus etwas dagegen tun.“

· Identifikation ist die Ursache des Leidens.
· Etwas zu mögen ist die Ursache des Leidens.
· Etwas nicht zu mögen ist Ursache des Leidens.
· Und letztlich ist die Furcht vor dem Tod, also der Selbsterhaltungstrieb auch Ursache des Leidens.

Wir können das jetzt sehr abstrakt oder sehr konkret sehen.

Nehmen wir die Sache mit dem Körper als Beispiel.

Avidya, Nichtwissen: Wir vergessen, wer wir wirklich sind. Wir vergessen, dass wir das unsterbliche Selbst sind und identifizieren uns mit diesem Körper. Konsequenz davon ist Raga (Wünschen oder Verhaftung), wir mögen etwas und Dwesha (Abneigung), wir mögen etwas nicht. Der Körper hat bestimmte Wünsche, Appetite usw. Nun mögen wir dies und jenes und bestimmte andere Dinge mögen wir nicht. Dann mögen wir natürlich auch, dass der Körper schön aussieht, dass das Haar füllig ist, glänzt, glatt oder gelockt oder wie auch immer ist. Wir mögen es nicht, wenn wir wieder ein paar zusätzliche graue Haare haben im Bart oder an den Schläfen oder sonst irgendwo. Wir mögen es darüber hinaus, dass uns jemand sagt: „Siehst du aber gut aus!“ Wir mögen es nicht, wenn man uns sagt: „Du hast aber schlappe Ohren heute!“ oder sonst etwas Ähnliches.

Nun passiert es aber mehr oder weniger häufig, dass das, was wir mögen, nicht eintritt und das, was wir nicht mögen, passiert. Das führt dann zu Leiden.

Und schließlich Abhinivesha, wir identifizieren uns mit diesem Körper und haben Angst davor, ihn zu verlieren. Eines ist aber sicher: Wir verlieren den Körper irgendwann. Und manchmal hat man Krankheiten, schwere Krankheiten. Das bringt Menschen total durcheinander. Ihre ganze Lebensphilosophie muss sich ändern.

Es geht aber auch noch anders. Manche Menschen identifizieren sich weniger mit ihrem Körper, zumindest eine ganze Weile, vielleicht bis er bedroht ist oder sich durch Schmerzen bemerkbar macht. Erst dann verstärkt sich bei ihnen die Identifikation mit dem Körper. Solche Menschen identifizieren sich mehr mit einem bestimmten Teil ihres Geistes.

Künstler zum Beispiel definieren sich über ihr Künstlertum, wie etwa ein Musiker, Dichter oder Maler: „Ich bin Musiker.“ Ein Musiker hat eine ganz bestimmte Persönlichkeit und Identifikation. Er hat ein bestimmtes Mögen. Er macht zum Beispiel gern Musik. Und er spielt bestimmte Arten von Musik besonders gern.

Er mag es, mit anderen Musikern zusammen zu sein. Er mag es, für seine Musik gelobt zu werden. Wenn man einen Musiker, der sich sehr über seine Musik identifiziert, dafür lobt, was für eine schöne Krawatte er trägt, dann interessiert ihn das nicht übermäßig. Wenn er aber von einem von ihm selbst geachteten anderen Musiker gelobt wird, wie gut er gespielt hat, dann wächst er. Findet jemand sein Spiel nicht gut, dann mag er das überhaupt nicht. Er hat auch Angst. Angst davor, kritisiert zu werden, nicht anerkannt zu werden, seine Musikalität zu verlieren.

Ich kannte mal einen Hornspieler, der war sogar ein Yogi. Er hat sich mit dem Hornspielen sehr stark identifiziert. Dann hatte er eine Zahnoperation, bei der anscheinend ein Nerv getroffen wurde, so dass er das Gefühl in den Lippen verloren hat. Er konnte nicht mehr Horn spielen. Das hat sein Leben total durcheinandergeworfen und er ist in eine ziemliche Krise hineingerutscht. Nicht in eine finanzielle Krise, denn seine Lippen waren hoch versichert. Von den Zinsen des Geldes, das er von der Versicherung bekommen hätte, hätte er für den Rest seines Lebens sorgenfrei leben können.

Er hätte sich jetzt sagen können: Gut, ich kann ja froh sein, ich brauche nie mehr im Leben etwas zu arbeiten, kann von den Zinsen leben und habe mehr Zeit für Asanas, Pranayama usw. Er war auch ein sehr spiritueller Mensch. Aber seine Identifikation kam über die Musik. Er hat dann Swami Vishnu um Rat gefragt, was er machen soll, ob er umschulen soll, sich eine Solokarriere als Sänger aufbauen, zum Beispiel. Swami Vishnu hat ihm gesagt, er soll einfach weiter Horn spielen, mit oder ohne Gefühl in den Lippen. Und außerdem hat er ihm noch ein paar Rezepte gegeben, was er zu sich nehmen soll. Nach drei Wochen ist das Gefühl in den Lippen zurückgekommen. Kein Mediziner hat das für möglich gehalten. Nach dem heutigen Stand der Wissenschaft würde man ein solches Vorgehen durchaus empfehlen, aber damals galt das als unmöglich. Man nahm an, ein durchtrennter Nerv sei nicht mehr regenerierbar. Swami Vishnu hat irgendwie intuitiv erkannt, dass es in diesem Fall anders ist.

Es kann uns auch mit unserer Yogapraxis so gehen: Wir identifizieren uns mit unserer Asanapraxis. Dann wollen wir natürlich auch ein Lob haben. Wir wollen auch den Skorpion können und wehe, er gelingt uns nicht. Oder wenn er gelingt, schaut der Yogalehrer gerade nicht hin. Oder wenn uns ein Arzt sagt, drei Monate lang darfst du keine Rückbeugen machen – und was ist da eigentlich dabei, dann macht man halt mal drei Monate lang etwas anderes. Oder ich kenne Leute, die jahrelang Yoga üben und plötzlich aus irgendwelchen Gründen, sei es ein Unfall, eine Verletzung oder sonst was, bestimmte Übungen nicht mehr machen können. Das wirft sie oft total aus der Bahn. Und es wirft uns auch aus der Bahn, wenn wir mal weniger Zeit haben zum Üben oder es mal nicht mehr so gut gelingt.

Ebenso kann man sich mit jedem Beruf identifizieren. Ein Handwerker zum Beispiel möchte alles immer ordentlich und richtig machen.

Intellektuelle Menschen identifizieren sich sehr mit ihrem Intellekt. Und dann mögen sie zum Beispiel intellektuelle Diskussionen mit anderen Menschen, die klug sind. Sie mögen es nicht, mit scheinbar dummen Menschen etwas zu tun zu haben. Sie haben große Angst davor, dass die Schärfe ihres Intellekts nachlässt. Ihre größte Angst wäre, Alzheimer oder eine ähnliche Krankheit zu bekommen. Alles andere wäre für sie vielleicht nicht so schlimm, aber wenn sie irgendwann einmal merken, sie haben etwas vergessen, sie verstehen irgendetwas nicht so schnell, das wirft sie total aus der Bahn. Oder sie haben Angst zu verblöden, wenn sie mit Menschen zusammen sind, die nicht so klug sind.

Es gibt auch noch andere Identifikationen. Bis jetzt habe ich eigentlich eher positive Identifikationen als Beispiele genannt. Manche Menschen halten sich für unfähig, glauben, dass sie kaum etwas können und identifizieren sich damit. Sie mögen es, eher einfache Sachen zu tun. Und sie haben Angst vor vielen Aufgaben und vor Kritik.

Oder Menschen schätzen sich selbst so ein, dass sie wenig können. Sie wollen aber nicht, dass andere das merken. Und sie möchten gerne, dass andere sie in einer bedeutenden Situation respektieren. Sie haben Angst davor, die anderen könnten herausfinden, dass sie eigentlich wenig können oder glauben, wenig zu können. Solche Identifikationen gibt es auch.

Neues zu lernen ist etwas Gutes. Der Wunsch nach Befreiung ist etwas Gutes. Und der Wunsch, für die Befreiung etwas zu tun, ist auch etwas Gutes. Nur, wir müssen uns auch hierbei vor Identifikationen hüten. Es kann auch mal ganz anders kommen, als wir erwarten.

Immer wenn wir im Leben in einer bestimmten Situation sind – man ist zum Beispiel traurig, niedergeschlagen oder verärgert – dann ist die Ursache die Identifikation mit irgendetwas. Irgendwo hat man natürlich sowieso sein Selbst vergessen, das ist Avidya und sich mit etwas identifiziert, was man nicht wirklich ist. Irgendwie hat man daraus ein Mögen und Nichtmögen gemacht und Angst entwickelt, etwas zu verlieren oder nicht zu können usw. Und dann ist etwas eingetreten, was dem widersprochen hat, was wir mögen.

Es gibt Identifikationen verschiedener Grade. Zunächst haben wir einen Körper, einen Geist, eine Psyche, außerdem Fähigkeiten und Neigungen, mit denen wir uns identifizieren. Das ist eine Identifikation ersten Grades. Nun identifizieren wir uns aber nicht mit dem Körper, dem Geist und unseren Fähigkeiten, wie sie wirklich sind, sondern wir haben ein Bild davon, wie unser Körper, unser Geist, unsere Fähigkeiten und Neigungen, kurz unsere Persönlichkeit, sind. Das ist eine Identifikation zweiten Grades.

Eine ganze Reihe von Menschen halten sich für zu dick, die medizinisch gesehen Normalgewicht haben. Sogar 40 % der Frauen, die medizinisch untergewichtig sind, halten sich für übergewichtig. Wir identifizieren uns mit unserem Selbstbild.

Als drittes gibt es das Bild, das andere von uns haben.

Und das vierte ist das Bild, von dem wir wollen, dass andere es von uns haben.

Je mehr diese vier Bilder divergieren und je stärker sie verankert sind, desto mehr Spannungen gibt es.

Zu Satya, Wahrhaftigkeit, gehört in diesem Sinne durchaus, authentisch zu sein und herauszufinden: Was sind meine Stärken und Schwächen, was ist meine Persönlichkeit? Und wir sollten uns so akzeptieren, dazu stehen und nicht versuchen, anders zu sein oder zu scheinen, als wir eigentlich sind. Auf diese Weise nähert sich auch das Bild, das die anderen von uns haben, unserem Selbstbild. Das hilft auch schon, innere Konflikte abzubauen. Das ist Asmita.

Im Laufe der Zeit läuft die Yogapraxis typischerweise darauf hinaus, dass man ein authentischerer Mensch wird, dass man keine Angst davor hat, natürlich zu sein, zu seinen Schwächen zu stehen. Dabei hilft es natürlich auch, daran zu arbeiten, Avidya (Unwissenheit) zu reduzieren und zu erkennen: Ich bin weder der Körper noch der Geist, eigentlich bin ich das unsterbliche Selbst. Dieser Körper und dieser Geist sind mein Instrument. Und dieses Instrument können die anderen ruhig so sehen, wie es ist. Und ich selbst kann es ruhig auch kennen lernen. Und ich kann es auch entwickeln, es ist ja nicht fest vorgegeben. Meine Fähigkeiten, meine Möglichkeiten sind nicht fest vorgeschrieben, ich kann vorhandene Stärken ausbauen und neue entwickeln.

Das fängt bei den Asanas an. Wenn ich das Gefühl habe, steif und unbeweglich zu sein, heißt das noch längst nicht, dass ich das auch ewig bleiben muss. Ich kann an den Asanas arbeiten und irgendwann werde ich flexibler.

Dieses Schema der Kleshas (Unwissenheit, Egoismus, Zuneigung, Abneigung, Angst) kann man sehr oft anwenden.

Wenn man feststellt, dass man sich irgendwie im Leiden befindet, kann man schauen: Wo habe ich mich fälschlicherweise identifiziert? Wo habe ich irgendwelche falschen Erwartungen gehabt? Wo ist etwas eingetreten, von dem ich gedacht habe, dass es nicht eintreten darf? Wo hatte ich Ängste? Dieses Analysieren und Zurückführen kann oft Leiden vermeiden, denn wenn wir etwas verstehen, können wir daran arbeiten und versuchen, es in Zukunft besser zu machen oder zu vermeiden. Das ist Swadhyaya, Selbststudium, Selbsterforschung.

Hier in diesem Zusammenhang werde ich den Kriya Yoga relativ weit interpretieren. Im Rahmen der Niyamas (moralisch-ethische Regeln) sind die Kriyas (Handlungen) etwas enger definiert. Auch dort bedeutet Swadhyaya Selbststudium. Aber Selbststudium hat zwei verschiedene Aspekte. Der eine ist das Studium der Schriften, der andere ist Introspektion, Studium des eigenen Geistes. Swa = Selbst, Swadhyaya = Selbststudium. Es bedeutet im Sanskrit tatsächlich Studium des eigenen Selbst. Es bezieht sich auf die beiden Seiten. Letztlich helfen einem die Schriften, sich selbst zu verstehen. Swadhyaya ist eine Weise, wie wir Leiden vermeiden können. Das heißt noch nicht, dass wir es damit ganz auflösen, aber wir können es zumindest vermindern (ta-nukarana).

Vieles wird allein schon vermindert, indem wir erkennen, wo die Kleshas gewirkt haben. Manchmal muss man dann über sich selbst lachen und damit ist die Sache vorbei. Manchmal erkennt man zwar die Ursachen, aber das hilft und nützt einem trotzdem nicht so viel. Aber es verhindert die Besessenheit, wie ich es nennen möchte. Manche Menschen sind besessen von ihrem Leid, der Vorstellung, dass sie dies und jenes brauchen, um irgendetwas zu erreichen, oder von der Vorstellung einer Kränkung, weil jemand sie nicht so behandelt hat, wie sie es ihrer Meinung nach verdient bzw. erwartet haben. Diese Besessenheit kann vermindert werden, wenn man die Ursachen erkennt.

Auch den Begriff von Tapas, Askese, interpretiere ich jetzt etwas weiter. Tapas im weiteren Sinne bedeutet, bewusst Dinge zu tun, die man nicht mag. Das hilft, frei zu werden vor allem von Raga-Dwesha, Mögen und Nichtmögen. Man kann sich überlegen, welche Dinge mache ich nicht gerne und sie dann analysieren. Manches ist ja durchaus begründet, zum Beispiel, weil es gefährlich, ungesund oder nicht sattwig (unrein) ist. Und das macht man dann natürlich nicht. Aber angenommen, man hat eine Abneigung gegen das Bügeln, dann sollte man bügeln. Gut, wenn man Kleidung hat, die nicht gebügelt werden muss, dann braucht man es sich auch nicht anzugewöhnen.

Oder angenommen, man hat eine Abneigung gegen das Kochen. Dann sollte man kochen. Hat man eine Abneigung dagegen, Toiletten zu putzen, dann sollte man das gerade machen. Angenommen, man hat eine Abneigung dagegen, am Computer zu sitzen. Dann sollte man sich mal eine Weile damit beschäftigen. Es muss nicht für den Rest des Lebens sein, aber es sollte eigentlich nichts geben, gegenüber dem man eine Abneigung hat, es sei denn, aus ethischen oder gesundheitlichen Gründen. Denn manchmal oder meistens steckt hinter der Abneigung Angst. Wenn man es ein paar Mal gemacht hat, verschwinden Angst und Abneigung. Und es gibt einem ein Riesengefühl von Freiheit, wenn man sich überwunden hat und feststellt: Ich kann es irgendwie doch und es spielt eigentlich keine große Rolle!

Das war mit das wichtigste Training, das ich von Swami Vishnu bekommen habe. Es gab manche Yogaschüler, die wollten ein solches Training nicht. Die hat er dann auch in der Regel ihre Arbeit machen lassen. Aber Menschen, bei denen er wusste, sie sind bereit und wollen wirklich lernen und Fortschritte machen, die hat er alles machen lassen. Da konnte es sein, dass man mal ein paar Wochen in der Küche aufgeräumt hat, anschließend hat man Computerarbeit gemacht, dann Holz gehackt, komplizierte Organisationsarbeiten erledigt und im nächsten Moment stand man auf der Bühne und hat vor 200 Leuten einen Vortrag gehalten oder eine Yoga-Vorführung gemacht. Ob man das gewollt hat oder nicht, hat dabei keine Rolle gespielt.

Swami Vishnu hat seine Schüler nie gefragt, ob sie jetzt eine Yogavorführung machen wollen oder nicht. Plötzlich irgendwann in seinem Vortrag, wenn er über Yoga-Asanas sprach, hat er auf ein paar Schüler gezeigt: „Du, du und du, kommt her und demonstriert ein paar Stellungen!“ Wenn dann jemand gesagt hat: „Aber ich habe gerade gegessen!“, dann hat er gesagt „Das macht nichts.“ Gut, dann hat man halt die Asanas gemacht – meist nicht die, die man gerne gemacht oder besonders gut gekonnt hat, sondern er hat verschiedene Stellungen angesagt und man hat sie plötzlich auch gekonnt. Er hat natürlich diese Kraft ausgestrahlt. Sowohl den Skorpion als auch später den Skorpion im Lotus habe ich während einiger Vorführungen gelernt.

Irgendwann hat er mich eine Vorführung machen lassen: Kopfstand, alle Kopfstandvariationen, dann Skorpion und Lotus-Skorpion. Ich habe gesagt: „Swamiji, ich kann nicht!“ Er hat nur gesagt: „Mach den Lotus. Hand auf den Boden, hebe den Kopf und jetzt bleibe dort!“ Gut, dann war ich im Lotus. Inzwischen wusste ich schon, wenn Swami Vishnu etwas sagt, dann geht es auch meistens. Und als er dann sagte: „Geh vom Skorpion in den Lotus.“, habe ich es halt gemacht und bin auch gestanden. Gut, nach einer Weile bin ich runtergefallen, das war aber auch nicht schlimm. Dies alles funktioniert natürlich nur, wenn man einen Meister hat, der das auch meisterlich macht.

Auch bei Versetzungen wurden wir nicht unbedingt gefragt. Swami Vishnu hat mich zum Beispiel in einem Center angerufen und gesagt: „Om Namah Shivaya, du bist nach Los Angeles transferiert.“ Ich habe gefragt: „Wie lange?“ Und er sagte: „Dauerhaft.“ „Wann?“ „Heute Abend.“, nach dem Motto DIN = Do It Now. „Aber ich muss doch erst jemanden haben, den ich hier einarbeite. Das geht nicht so plötzlich.“ „Ok, dann morgen.“ Und das war dann wörtlich zu nehmen. Man hatte vielleicht noch 30 oder 36 Stunden, um jemanden einzuarbeiten. Schlaf gab es dann halt keinen. Es lief natürlich nicht immer so. Manchmal hatte ich auch eine Woche Zeit oder eine Versetzung war schon Monate vorher geplant. Als ich mein erstes Zentrum in Wien übernehmen sollte, wusste ich das schon Monate vorher. Aber meist ging es relativ zügig. In neun Jahren war ich in zwölf verschiedenen Zentren und habe festgestellt, dass ich überall glücklich sein kann. Ob es mitten in der Großstadt oder auf dem Land ist, ständig Lärm oder vollkommene Ruhe, ob viele Schulden da sind oder nicht, ob viele Schüler da sind oder fast keiner, letztlich kann man überall glücklich sein. Und letztlich auch, ob ich große Verantwortung habe oder nicht, ich kann in jeder Situation glücklich sein.

Wenn man aber das Gefühl hat, jemand anders bringt einen willkürlich oder aus purer Bösartigkeit in solche Situationen, wenn man sich hilflos ausgeliefert fühlt oder es als blindes Schicksal empfindet, dann sperrt man sich dagegen, ist unglücklich und lernt natürlich nichts daraus. Die innere Einstellung ist das wichtigste. Wenn wir erkennen: Das geschieht, damit ich mich weiterentwickle. Meine Aufgabe ist es, in jeder Situation glücklich zu sein und ich kann tatsächlich in jeder Situation glücklich sein. Dann hat es eine sehr große Wirkung, die man noch verstärken kann, indem man sich bewusst dafür bereit erklärt und bewusst Situationen sucht, die man nicht mag. Es muss die innere Bereitschaft da sein, daran zu wachsen. Ansonsten kann es sich auch ins Gegenteil verkehren und zu Depression oder Ärger führen.

Das Schicksal hilft uns, öfter Dinge zu tun, die wir nicht mögen. Der Guru wird dafür sorgen, dass wir Dinge zu tun haben, die wir nicht mögen. Und wir können sie selbst suchen. Daneben sollten wir es uns auch zur Aufgabe machen, die Dinge zu mögen, die wir zu tun haben. Der Dichter Tagore sagt: „In der Jugend dachte ich, das Leben sei zum Vergnügen da. Als Erwachsener dachte ich, das Leben sei für die Pflicht da. Jetzt weiß ich, Pflicht ist Vergnügen.“ Also lernen, das zu mögen, was zu tun ist.

Tapas im engeren Sinn ist Askese, zum Beispiel fasten, auf Süßigkeiten oder auf Salz verzichten, auf dem Boden schlafen, auf einem Bein stehen, in einem kalten Fluss auf einem Bein stehen – manches davon kann schädlich für die Gesundheit sein. Solche Formen von Tapas gibt es natürlich auch. Und auch sie helfen, den Geist stärker zu machen, indem wir Dinge lassen, die wir mögen und Dinge tun, die wir nicht mögen.

Und schliesslich Ishwara Pranidhana, Hingabe an Gott, Vertrauen zu Gott.

Wenn wir denken, ich kann nur glücklich sein, wenn diese und jene Situation eintritt, werden wir immer unglücklich sein, denn meistens geschieht es anders als wir wollen – glücklicherweise. Wenn wir aber das Gefühl haben, alles tritt ein, so wie es Gott gerne hat und wie es für uns richtig ist, sind eigentlich die meisten Kleshas (die Ursachen des Leidens) mit einem Schlag verschwunden. Das sollten wir uns immer vor Augen führen: Was geschieht, ist irgendwie von Gott gelenkt. Gott gibt mir die Aufgaben, die notwendig sind. Gott gibt mir das, was ich brauche. Er weiß besser als ich, was ich brauche. Wir können zu Gott beten und sagen: „Bitte, gib mir das, was ich brauche. Gib mir die Lektionen, die ich zu lernen habe und jeden Morgen und jeden Abend können wir uns daran erinnern. Das machen wir ja auch jeden Morgen und jeden Abend beim Arati (Lichtzeremonie):

Twameva mata chapita twameva
Twameva Bandhuscha sakha twameva
Twameva Vidya dravinam twameva
Twameva sarvam mama Deva Deva

Oh Gott, du bist alles für mich
Vater, Mutter, Verwandter, Freund,
Wissen, Reichtum, alles was ich brauche
Alles bist du.

Das schließt zwei Interpretationen ein.

Zum einen: Du bist mein physischer Vater, meine physische Mutter, in denen ich Gott sehe. Aber manchmal hat man das Bedürfnis nach Vater und Mutter und sie sind nicht da. Die Mutter steht für Liebe, Zuneigung, Annahme, mütterliche Fürsorge – das alles ist Gott für uns. Vom Vater wünscht man sich vielleicht Anerkennung, Lob – Männer wollen von ihren Vätern anerkannt werden, aber oft tun die Väter das nicht oder nicht genügend. Dann können wir uns an Gott wenden.

Gott hilft uns zu wachsen. Gott gibt uns alles, was wir brauchen. Gott liebt uns. Alles ist da. Und alles, was wir tun, können wir Gott opfern. Das ist der zweite Teil: Gott gibt uns, was wir brauchen und alles, was wir tun, opfern wir Gott. So verschwinden Ego, Raga (Verhaftung), Dwesha (Abneigung), Abhinivesha (Furcht) alle zusammen. Auf diese Weise hilft dieser Aspekt des Kriya Yoga auch wiederum, die Kleshas (Ursache der Leiden) zu verdrängen.

Tapas im engeren Sinne ist Askese. Swadhyaya im engeren Sinne ist Selbststudium, sowohl Studium der Schriften als auch Introspektion. Ishwara Pranidhana ist Verehrung Gottes oder Hingabe an Gott.

In ihrer weitesten Bedeutung stehen diese drei Aspekte für drei produktive Weisen, mit allen Arten von Problemen umzugehen. Wenn wir irgendeine Schwierigkeit, irgendein Problem haben, gibt es drei Dinge, die wir tun können:

Zum einen, und hier weiche ich von der Reihenfolge von Patanjali ab, können wir versuchen, das Problem zu verstehen, die Ursache herauszufinden, also Swadhyaya (Selbststudium) anzuwenden. Zweitens können wir versuchen, etwas zu ändern, Tapas. Und drittens können wir loslassen und versuchen, die Situation anzunehmen so wie sie ist, also Ishwara Pranidhana.

Das läuft letztlich auf den Mystikerspruch hinaus:

„Lieber Gott, gib mir den Mut und die Kraft, Dinge zu verändern, die ich ändern kann, die Geduld, Dinge anzunehmen, die ich nicht ändern kann und die Weisheit, zwischen beidem zu unterscheiden.“

Das ist gar nicht so einfach. Ich habe einmal Swami Chidananda, einen der Nachfolger von Swami Sivananda, gefragt, woran man erkennen kann, ob man die Situation ändern kann oder ob man sie annehmen muss. Er hat geantwortet, man müsse zuerst einmal versuchen, sie zu ändern. Wenn mehrere Änderungsversuche nichts bewirken, dann ist es ein Zeichen, sie anzunehmen, Hingabe zu üben, loszulassen und zu sagen: „ Gott, Dein Wille geschehe!“

Nehmen wir einmal an, wir befinden uns in einer Situation, die uns ärgert. Dann können wir zuerst überlegen: Wie stellt sich die Situation dar, warum ärgert sie mich, warum bin ich jetzt unglücklich? Das ist Swadhyaya. Zum Beispiel wenn wir plötzlich mit einem Menschen in unserer Umgebung nicht mehr zurechtkommen, können wir versuchen, herauszufinden, ob die Ursache in uns selbst liegt oder bei dem anderen. Manchmal stellt man fest, der andere steht aus irgendeinem Grund gerade sehr unter Druck und ist deshalb sehr reizbar. Wenn wir das verstehen, reicht es aus, dass wir mit der Situation souverän umgehen können. Wir verstehen und erkennen, dass wir uns eigentlich grundlos ärgern oder grundlos unglücklich sind. Wir können darüber lachen und die Situation so auflösen.

Es kann aber auch sein, dass wir etwas ändern müssen. Dann sollten wir handeln, also Tapas anwenden. Zum Beispiel mit dem Menschen sprechen, notfalls einen Dritten zu Rate ziehen, aktiver werden, Lebensumstände ändern, was auch immer. Und da braucht man auch keine Hemmungen zu haben. Manche Menschen, die zu schüchtern sind, irgendetwas zu tun, machen dann nichts und versuchen, die Situation zu akzeptieren als Entschuldigung für ihre Untätigkeit. Aber sie akzeptieren die Situation nicht wirklich von innen heraus, sondern sie sind einfach nur zu ängstlich oder zu bequem, etwas zu tun.

Und wenn man nichts ändern kann, dann kommt Ishwara Pranidhana: Es ist der Wille Gottes. Loslassen, Dein Wille geschehe.

Man kann diese drei Verhaltensweisen auch in Situationen anwenden, in denen etwas nicht so läuft, wie wir es uns vorstellen. Wir können dann erst mal im Rahmen von Swadhyaya schauen: Wie könnte diese Situation mit den Kleshas zusammenhängen? Als zweites können wir uns fragen: Was kann ich jetzt tun? Und je nachdem kann man vielleicht feststellen: Die Situation ist eigentlich gar nicht so schlimm. Ich habe sie nur durch meine Gedanken aufgebauscht und mich verrückt gemacht, falsche Erwartungen gehabt und wenn ich das verstehe, kann ich die Situation annehmen, wie sie ist.

Manchmal erkennen wir: Eigentlich habe ich falsche Erwartungen, aber die Situation befriedigt mich trotzdem nicht. Dann kann ich schauen, was ich ändern kann. Manchmal muss man dann wieder Swadhyaya anwenden, um sich zu fragen: Wie könnte ich in der Situation wieder glücklich sein? Und dann kommt oft die Antwort. Eigentlich sind ja die Antworten meistens schon in uns. Wir müssen nur die richtigen Fragen stellen. Meine magischen drei Fragen sind immer:

· Was muss ich tun, um in der Situation wieder glücklich zu sein?
· Was ist meine Aufgabe bzw. meine Pflicht in der Situation?
· Was kann ich daraus lernen?

Ein persönliches Beispiel aus der jüngsten Vergangenheit: Für die Yogalehrer-Weiterbildung haben sich nur zwei Teilnehmer angemeldet. Was mache ich jetzt? Viele Stunden sind zu geben, ich bin der einzige Lehrer dafür, und wir halten uns an das Prinzip, jeden Kurs zu unterrichten, auch wenn es nur zwei Teilnehmer sind. Die Menschen freuen sich auf diesen Kurs, haben die Zeit eingeplant, Urlaub genommen und ich weiß auch aus dem letztjährigen Kurs, dass er für die Teilnehmer sehr viel bewirkt hat. Er ist etwas sehr Wichtiges, wir führen ihn nur einmal im Jahr durch.

Also habe ich überlegt: Was kann ich tun, damit es mir auch Spaß macht, den Kurs zu unterrichten? Und dann dachte ich, die Asanas mache ich vielleicht mit, das Pranayama am Morgen auch teilweise und außerdem hat letztes Jahr eine der Teilnehmerinnen am Ende des Kurses gesagt, aus den Raja-Yoga-Vorträgen sollte man ein Buch machen und sie wäre sogar bereit, das Buch zu verlegen. Also habe ich mir überlegt, wir können die Vorträge gleich mitschneiden. In dieser Situation habe ich jetzt also nicht einfach gedacht, das ist der Wille Gottes, lass es einfach geschehen, sondern ich habe nach Mitteln und Wegen gesucht, das Beste daraus zu machen. Obwohl es gleichzeitig auch teilweise der Wille Gottes sein kann, zum Beispiel eine Lektion fürs Ego. Die Kurse, die ich selbst unterrichte, sind sonst relativ voll und jetzt kommen nur zwei Leute – darin liegt auch eine Lektion, auch das ist zu lernen. Und gleichzeitig stellt sich die Frage: Was ist jetzt meine Aufgabe und was kann ich tun, damit ich in der Situation glücklich bin? So formuliere ich die Frage für mich am liebsten.

Das sind die drei positiven Weisen, mit einer schwierigen Situation umzugehen.

Viele Menschen haben drei negative Verhaltensmuster, mit denen sie einer Situation begegnen:

Das erste ist, sie einfach zu leugnen, nach außen und nach innen so zu tun, als ob nichts sei. Man leidet zwar darunter, verdrängt es aber, lenkt sich einfach nur ab. Manchmal kann die Ablenkung zwar auch hilfreich sein. Patanjali schlägt ja im ersten Kapitel so etwas wie Ablenkung vor, indem er sinngemäß sagt: Kommen Hindernisse auf, dann meditiere man über einen Aspekt der Wahrheit. Manchmal reicht das aus, wenn die Hindernisse nicht so groß sind oder sie nehmen mindestens in der Dimension etwas ab. Wenn es nicht ausreicht, dann kommt eben der Kriya Yoga. Dann können wir der Reihe nach versuchen, die Situation zu verstehen, zu verändern oder zu akzeptieren.

Die zweite, noch unproduktivere Art ist es, sich nur über etwas zu ärgern und wütend zu sein, aber nichts zu tun.

Und die dritte ist Depression, das Gefühl, nichts tun zu können, dem Schicksal hilflos ausgeliefert zu sein.

Interessanterweise hat die moderne Stressforschung herausgefunden, dass Menschen besonders stressanfällig sind, wenn sie alles als fremdbestimmt erleben und wenn sie außerdem die Fremdbestimmmung als willkürlich oder negativ erleben. Umgekehrt macht es uns stressresistenter, wenn wir unser Schicksal selbst in die Hand nehmen können – und dazu erzieht uns Yoga letztlich. Und gleichzeitig entwickeln wir das Vertrauen, dass das, was wir nicht in der Hand haben und nicht beeinflussen können, letztendlich positiv und zu unserem Besten ist, von Gott gelenkt oder vom Schicksal geschenkt zum Wachsen oder als Ausdruck unseres Karmas. Wir sehen und erfahren das Leben als Schule und was auch immer kommen mag, ist eine Gelegenheit zu wachsen. Diese Einstellung macht uns streßresistent, mit anderen Worten, sie hilft uns, aus dem Leiden herauszukommen, die Kleshas zu vermindern.

Es gibt noch zwei weitere nicht sehr produktive Verhaltensweisen, die direkt aus dem Flucht- und Kampfmechanismus kommen. Man entflieht der Situation oder man bekämpft sie. Man ärgert sich und braut den Ärger in sich – das ist eine Verinnerlichung der Kampfsituation, ohne sie zu veräußerlichen. Sie zu veräußerlichen wäre dann natürlich der äußere Kampf. Viele Menschen fangen dann an, mit anderen herumzubrüllen, Streit zu suchen, reizbar zu werden und sich zu ärgern, wenn Sachen nicht so laufen, wie sie es gerne hätten. Oder man fühlt sich depressiv und unglücklich und statt sich der Situation zu stellen, haut man ab. Um zu wachsen, wäre der erste Schritt, sich zu überlegen: Was kann ich tun, um in der Situation glücklich zu sein? Wenn man dann feststellt, dass es nicht funktioniert, dann muss man natürlich etwas Grundlegendes ändern. Meistens ist die Politik der kleinen Schritte am besten. Wenn es nicht anders geht und etwas dringend geändert werden muss, sollte man aber auch keine Hemmungen haben, jemand anderen mit einzubeziehen.

In der Vergangenheit gab es Mitarbeiter hier, die ich öfter gefragt habe, ob alles ok ist und sie haben immer „Ja“ gesagt. Und eines Tages sagen sie, dass sie gehen. Sie haben versucht, alles Mögliche mit sich selbst auszumachen, sind nicht zu Rande gekommen oder haben etwas anderes gefunden und machen dann eine radikale Änderung. Sicher war es nicht bei allen, die gegangen sind, eine Flucht. Manche hatten diesen Teil ihres Lebens abgeschlossen; das war etwas Rundes, Ganzes und der nächste Schritt in ihrem Leben stand an. Aber bei manchen war es anders. Wir versuchen dann zwar doch, das Ganze harmonisch zum Abschluss zu bringen, aber es ist schade, dass sie nicht vorher versucht haben, sich in der Situation selbst zurechtzufinden, auch mal um Hilfe zu fragen und zu schauen, was man vielleicht direkt ändern könnte. Das hat mich schon manchmal traurig gestimmt.

Frage: Wenn man sich auf dem spirituellen Weg weiterentwickelt, hat man oft das Gefühl, die aktuelle Lebenssituation ist einem hinderlich und sollte geändert werden. Ist es dann mein Recht, mir eine meiner Entwicklung förderlichere Umgebung zu suchen, zum Beispiel in den Ashram zu gehen, auch wenn ich mich dadurch beispielsweise Vorwürfen von anderen aussetze, wenn ich sie zurücklasse?

Das ist eine Gratwanderung, die man mit viel Gebet abmachen muss. Natürlich sollte man nicht verantwortungslos handeln und zum Beispiel seine Kinder aufgrund der eigenen spirituellen Entwicklung zurücklassen oder aufgeben.

Frage: Sollte man zuerst versuchen, in der momentanen Lebenssituation glücklich zu werden und seine spirituelle Praxis dort hineinzubringen und zu integrieren?

Man braucht Asanas und Pranayama für seine spirituelle Entwicklung. Es geht nicht nur darum, Karma Yoga zu machen. Ohne eigene spirituelle Praxis macht man auch aus den eigenen Pflichten kein Karma Yoga. Dann ist es nur Schaffen. Und vom Schaffen allein erreicht man nicht die Selbstverwirklichung. Und es ist nicht das Ziel des Lebens, einfach nur zu schaffen, sondern das Ziel des Lebens ist die Selbstverwirklichung.

Swami Ramananda, eine der ersten Schülerinnen von Swami Vishnu, hat mal erzählt, wie Swami Vishnu auch ziemlich direkt werden konnte. Sie war beim ersten Vortrag von Swami Vishnu 1957 in Montreal gewesen. Sie litt an schwerem Rheuma oder Arthritis, die Ärzte hatten die Krankheit für unheilbar erklärt und verschrieben ihr nur noch Schmerzmittel. Irgendjemand hat sie mit in den Vortrag geschleppt, nach dem Motto: „Da kommt so ein indischer Yogi, die wissen manchmal etwas …“ Anschließend hat sie den Intensivkurs mitgemacht und Swami Vishnu gefragt, ob er er ihr etwas für ihre Arthritis empfehlen könnte.

Er hat ihr ein halbes Jahr lang jeden Monat eine Woche Fasten mit Karottensaft empfohlen. Damals herrschte noch die Meinung vor, vom Fasten würde man ernsthafte bleibende Schäden davontragen oder nach einer Woche sterben. Heute dagegen ist Fasten in aller Munde. Sie überlegte es sich trotzdem und probierte es schließlich aus. Und tatsächlich, innerhalb eines Jahres mit Fasten in Verbindung mit Yoga-Übungen waren ihre angeblich unheilbaren Gelenkschmerzen und -probleme wie weggeblasen. Das ist jetzt kein allgemeingültiges Rezept. Swami Vishnu hatte manchmal solche Eingebungen, wo er dem Einzelnen gewisse Sachen verschrieben hat. Später hat Swami Ramananda dann verschiedene Yogazentren geleitet und auch einige europäische Zentren aufgebaut, u.a. das Genfer Zentrum. Und wenn man so ein Zentrum aufbaut, muss man richtig tierisch schuften. Eines Tages kam Swami Vishnu zu Besuch und hat zu ihr gesagt: „Weißt du, Esel erreichen auch nicht die Verwirklichung.“

Nun sind in Indien Tiernamen nicht solche Schimpfworte wie bei uns im Westen. Die Inder haben allgemein Respekt vor Tieren. Wenn man zu uns sagt: „Du Esel!“, dann ist das schon eine schwere Beleidigung. Wenn es Familienangehörige untereinander sagen, dann geht es vielleicht noch. Wenn der Guru zum Schüler sagt, du arbeitest wie ein Esel, ist es nicht ganz so gemeint, aber es bedeutet schon: Esel erreichen nicht die Selbstverwirklichung und du benimmst dich jetzt gerade wie ein Esel. Arbeit und Pflichterfüllung sind gut und wichtig – aber sie sind nicht das Ziel des Lebens. Das Ziel ist die Selbstverwirklichung!

Es ist die innere Einstellung, die zählt und die wichtig ist. Und um diese Einstellung zu erzeugen, brauchen wir Asanas, Pranayama und Meditation. Nur wenn wir das regelmäßig machen, haben wir die Kraft, unsere Einstellung so zu ändern, dass wir etwas lernen und uns im täglichen Leben auch für andere einsetzen können. Und Meditation ist sowieso unabdingbar. Ein tugendhaftes Leben allein ist nicht ausreichend für die Selbstverwirklichung. Tugendhaftes Leben bereitet den Geist nur darauf vor. Man muss innere Stärke aufbauen durch die Praktiken. Es nützt niemandem etwas, wenn man ausgelaugt ist.

Natürlich kann es auch Situationen geben, wo man sich aufopfern muss. Vor zwei Jahren habe ich auf Lanzarote eine Yogalehrer-Ausbildung gegeben. Am Abend vorher hatte ich hohes Fieber und die schwerste Erkältung, die ich in den letzten zehn Jahren überhaupt hatte. Und am nächsten Tag sollte ich abfliegen und war der einzige Lehrer für die Ausbildung, die jeden Morgen um sechs beginnt und abends um zehn Uhr aufhört. Was ist jetzt meine Pflicht? Wofür ist das ein Zeichen? Zum damaligen Zeitpunkt gab es außer mir niemanden, der die Ausbildung hätte unterrichten können. Also habe ich mir gesagt: Gott, Du hast mich in diese Situation gebracht, dann musst Du unterrichten, den Körper schleppe ich irgendwie hin.

Ich nahm ausnahmsweise Aspirin und da ich sonst nie Medikamente nehme, wirkte das Wunder. Das Fieber ging so weit herunter, dass ich am nächsten Tag irgendwie in der Lage war zu reisen. Beim Landen sind mir allerdings fast die Trommelfelle geplatzt. Gut, ich komme also schon fast halluzinierend an und gehe in Trance zu dem Seminarhaus. Dort erfahre ich, dass mein Zimmer und auch die der Teilnehmer nicht im Seminarhaus selbst sind wie angekündigt, sondern in einem anderen, zwanzig Minuten entfernten Gebäude. Man musste also immer 20 Minuten hin- und hergehen, womit die gesamte wenige Freizeit zwischen dem Unterrichten dafür draufging. Irgendwie habe ich die Unterrichtsstunden hinter mich gebracht, wie weiß ich nicht.

Jedenfalls habe ich mich nur mit Aspirin und Gottvertrauen über Wasser gehalten. Das Aspirin hat den Körper irgendwie dazu gebracht, zu funktionieren. An Üben von Asanas oder Pranayama war nicht im geringsten zu denken. In den Pausen habe ich mich immer sofort hingelegt und geschlafen. Solche Phasen kann es auch einmal geben. Und letztlich ist auch das schön, weil man tatsächlich merkt, Gott hilft einem. Aber zu lange darf so etwas nicht dauern. Nach einer Woche war ich auch wieder gesund und dann kamen noch vier andere Yogalehrer, die dort gerade Urlaub machten. Sie hatten erfahren, dass ich diese Ausbildung dort leitete und waren auch gekommen, um an einigen Programmen und Meditationen teilzunehmen. Ich habe sie dann gebeten, ob sie nicht ein paar Asanastunden übernehmen würden, was sie auch gemacht haben und so kam ich auch wieder zu meiner eigenen Asana- und Pranayamapraxis.

Wenn einmal die Notwendigkeit besteht, vorübergehend für kurze Zeit auf die eigene Praxis zu verzichten aus Gründen des selbstlosen Dienstes, muss man sehr darauf achten, dies nicht zur Gewohnheit werden zu lassen. Es besteht die Gefahr, dass man die Praxis nicht wieder aufnimmt und den Dreh nicht mehr kriegt. Deshalb sollte man sich im allgemeinen strikt an seine Praxis halten; eine gewisse Starrheit darf man dabei ruhig haben. Man braucht die Praxis für sich selbst, denn wenn man sich erschöpft und seine Batterien nicht mehr auflädt, dient man niemandem damit.

Im Grunde genommen kann man als spiritueller Aspirant alles Gott opfern oder sagen: Alles was ich mache, ist letztlich dazu da, dass ich anderen helfen kann. Ich muss darauf achten, dass der Körper funktioniert, dazu muss ich gesund sein. Und ich muss Asanas und Pranayama machen, damit ich das Prana habe, anderen richtig zu helfen. Ich muss meditieren, damit ich auch die Einsicht, die Feinfühligkeit und das Gefühl der Gegenwart Gottes habe. Außerdem muss ich ab und zu mal spazieren gehen, damit der Geist offen ist und der Körper gesund bleibt. Es kann auch einmal dazu gehören, dass ich ins Kino gehen muss, um den Geist auf andere Weise zu entspannen, so dass ich dann wieder in der Lage bin, anderen besser zu dienen. Mit dieser Einstellung kann man alles Gott und dem Dienst an anderen opfern.

Wenn wir das alles tun, dann kommen wir nicht mehr ins Leiden. Wir lernen auch, von der Unwissenheit wegzukommen. Wir hören auf, nur noch aus dem Ego zu handeln (Asmita). Wir handeln nicht mehr nur aus Mögen und Nichtmögen, Raga und Dwesha. Und wir brauchen auch keine Angst mehr zu haben (Abhinivesha). Wir haben das Vertrauen, dass letztlich alles zum Besten ist. Das ist in Ishwara Pranidhana eingeschlossen.

Bei einem tieferen Swadhyaya (Selbststudium) wissen wir letztlich, wer wir wirklich sind, nämlich das unsterbliche Selbst. Daraus entwickeln wir Vertrauen, Dinge tun zu können. Und Dinge zu tun, die uns am Anfang keinen Spaß machen, also Tapas (Askese) zu üben, bedeutet bei weitem nicht zu leiden. Im Gegenteil, unsere moderne vergnügungssüchtige Gesellschaft ist eigentlich ein Konzept zum Leiden. Es gilt ethnopsychologisch als gesichert, dass es in keinem anderen Kulturkreis so viele deprimierte Menschen gibt wie in unserer westlichen Gesellschaft. In manchen ursprünglichen Lebensgemeinschaften ist Depression völlig unbekannt.

Das erinnert mich daran, dass ich Shri Kartikeyan einmal gebeten habe, ein Seminar über Gedankenkraft und positives Denken zu halten. Er hat gesagt, über Gedankenkraft, ja, das kann er sich vorstellen, aber „positives Denken“, da würde er sich immer fragen, was eigentlich „negatives Denken“ sein solle. Er käme jetzt seit 15 Jahren in den Westen und würde sich immer wieder mit Leuten darüber unterhalten, was sie eigentlich unter negativem Denken verstünden. Gut, es gibt negative Situationen, dann muss man die Ursache herausfinden. Manchmal haben Menschen unerfüllte Wünsche, dann muss man das entweder akzeptieren oder etwas ändern, aber er würde viele Menschen treffen, die grundlose Depressionen hätten. Das sei in Indien vollkommen unbekannt, hat er behauptet.

Und bis zu einem gewissen Grad stimmt das wohl auch. Wenn man die Inder anschaut, scheinen sie auch unter schwierigen Bedingungen immer fröhlich zu sein. Sie mögen in einer kleinen Hütte wohnen, die nur aus einem Zimmer besteht, wo tagsüber vorn eine Werkstatt oder ein Laden ist und hinten zehn Kinder – wenn man frühmorgens mit dem Bus vorbeifährt, sieht man, wie die Tür aufgeht, eine Art Fenster klappt auf, Waren werden ins Fenster gestellt und nacheinander kommt ein Kind raus, zwei Kinder, drei Kinder, vier, fünf, sechs, sieben, acht, dann die Mutter, der Vater, Großmutter, Urgroßmutter … unvorstellbar, wie die alle da drin wohnen können – aber sie kommen lachend heraus, um sechs Uhr morgens! Wenn man dagegen morgens um sieben in Frankfurt mit der U-Bahn fährt, dann kommen die Leute aus ihren 180 Quadratmeter-Wohnungen und sie sehen nicht fröhlich und glücklich aus. Wenn bei uns zwei Menschen in einer Einzimmerwohnung mit 25 Quadratmetern leben, gilt das schon als asozial. Und im Verhältnis zu Indien ist das Luxus. Dort steckt  eine andere Lebensphilosophie dahinter.

Neulich habe ich von einer Studie gelesen, die untersucht hat, wo die Menschen am glücklichsten sind. Die beiden glücklichsten Länder sind danach Nigeria und Venezuela. Für uns eher paradox und erstaunlich, denn wir hören ja normalerweise von Nigeria nur von Stämmen, die sich bekriegen, ein Bürgerkrieg nach dem anderen, Streit um das Öl, Umweltverschmutzung, Anschläge usw. Über Venezuela hört man nur von der Mafia, Drogenbossen, Elend, Entführungen, Bürgerkrieg. Aber der Durchnitts-Nigerianer und Durchschnitts-Venezuelaner ist glücklich. Die Menschen scheinen dort insgesamt glücklicher zu sein. Die Inder sind in dieser Statistik allerdings nicht ganz oben, aber immer noch besser als die Deutschen und die meisten westlichen Staaten.

Also die Philosophie, dass die Welt nur zum Genießen da ist, macht den Menschen nicht glücklich, ebenso wenig wie die blinde Pflichterfüllung.

Aber das Bewusstsein, dass das Leben dazu da ist, zur Selbstverwirklichung zu kommen, macht uns auch im Westen zu glücklichen Menschen.

Auch wenn Dinge schief gehen, sind sie ok. An etwas Anstrengendem wachsen wir. Wie Swami Vishnu gesagt hat: Ein Yogi kann sich immer freuen. Wenn die Dinge so ausgehen, wie man es gerne hätte, freut man sich sowieso und ist Gott dankbar. Wenn sie anders ausgehen, freut man sich über die Lektion, die man lernen kann und die Gelegenheit, Tapas zu üben und geistige Stärke zu entwickeln. Es ist einfach gesagt, aber es ist wirklich ein Rezept zum Glück. Es ist allerdings nicht leicht, den Geist davon zu überzeugen. Aber diese Einstellung immer aufrechtzuerhalten und von neuem zu schaffen, ist eine Übung, die möglich und sehr befriedigend ist.

10. Te pratiprasava-heyâh sûkshmâh     Zurück zum zweiten Kapitel

Te = sie; pratiprasava = Wiedereintauchen, Auflösung in die Ursache, den Ursprung; heyâh = fähig, vermieden zu werden; sûkshmâh = subtil, fein

Ihre subtilen Formen (der schmerztragenden Leiden) können vermieden werden, indem man sie wieder zu ihrer Ursache zurückführt.

Patanjali beschränkt sich nicht nur auf den Kriya Yoga, um die Kleshas (Ursache der Leiden = Unwissenheit, Egoismus, Zuneigung, Abneigung, Angst) zu überwinden, sondern hier sagt er nochmals, die subtilen Formen der schmerztragenden Leiden, also die subtileren Formen der Kleshas, können vermieden werden, indem man sie zu ihrer Ursache zurückführt.

Das heißt im Grunde genommen, kleinere Störungen behandelt man mit Swadhyaya (Selbststudium) oder indem man die Kleshas durchgeht.

Nehmen wir das Beispiel Angst. Mitarbeiter hier haben oft Angst, wenn sie die erste Yogastunde geben oder einen Vortrag halten sollen. In diesem Fall ist natürlich die einfachste Sache Ishwara Pranidhana, ich mache es als Verehrung Gottes, ich bin Instrument Gottes und ich habe es deshalb als Aufgabe, weil Gott es eben will. Wenn Gott wollte, dass jemand Vollkommener jetzt diesen Vortrag gibt, dann hätte er einen Vollkommenen hergeschickt. Gott hat gerade mich in diese Situation hineingeschickt, weil es für die Menschen in der Situation am besten ist, jemanden mit meinem Wissen bzw. Unwissen zu haben. Das hat mir immer sehr oft geholfen und hilft mir auch heute noch.

Aber die andere Möglichkeit, mit verschiedenen Ängsten umzugehen, ist, zu versuchen, die Ursache herauszufinden, zu fragen: Warum habe ich jetzt Angst oder warum bin ich unzufrieden? Dann kann es sein, man stellt fest, ich hatte einen Wunsch, der nicht in Erfüllung gegangen ist oder es gab etwas, was ich unbedingt vermeiden wollte und genau das ist eingetreten. Meine Angst kommt also aus einer Identifikation mit einem Wunsch oder dem Wunsch, etwas zu vermeiden. Die Ursache davon ist eigentlich nur eine dumme Unwissenheit und das Ganze nur ein großer Irrtum. Wenn wir das erkannt haben, ist es kein Problem mehr. Also es hilft schon einiges, die Ursachen herauszufinden.

Aber das nützt nicht immer. Manche Menschen verbringen zu viel Zeit mit der Ursachenfindung. Das ist einer der Irrtümer der westlichen Psychologie, die davon ausgeht, dass alle Probleme bekämpft werden können, wenn man nur die Ursache kennt. Dann geht man zurück in die Kindheit und kommt zum Schluss, mein Vater und meine Mutter sind das Problem. Aber sich nur mit Vater und Mutter zu beschäftigen, hat die Menschen auch nicht dauerhaft glücklich gemacht. Also geht man noch weiter zurück, zu den Geburtstraumata. Und man stellt fest, die Probleme und Themen, mit denen man im Leben kämpft, waren tatsächlich auch bei der Geburt schon da.

Da gibt es dann zum Beispiel die Urschrei-Therapie oder Rebirthing, das ja ursprünglich dazu diente, die Geburt wiederzuerleben. Aber auch das hat die Menschen nicht vollkommen befreit. Deshalb ist man noch weiter zurückgegangen, um herauszufinden, ob irgendetwas passiert ist, während das Kind im Mutterleib war. Auch das reichte nicht aus. Also ging man zurück in das frühere Leben, in zehn Leben, in 100 Leben, in 1000 Leben. Manchmal hilft das. Yogis sind zwar keine Befürworter von Zurückgehen in frühere Leben, aber ich kenne Reinkarnationstherapeuten, die behaupten, manchmal hilft es den Klienten, zu erkennen, dass ein bestimmtes Lebensmuster deshalb da ist, weil sie in früheren Leben in dieser Beziehung etwas getan oder erlebt haben. Bei kleineren Sachen kann das manchmal helfen. Aber viele Menschen gehen zuviel in die Ursachenforschung und verlieren sich darin. Wenn die Ursachen für eine Situation nicht so leicht erkennbar sind, gut, dann lassen wir es halt, dann müssen wir uns auf andere Weise helfen.

11. Dhyâna-heyâs tad-vrittayah     Zurück zum zweiten Kapitel

Dhyâna  = Meditation; heyâs = zu vermeiden; tad–vrittayah = Modifikationen, Lebensäußerungen, Aktivitäten

Ihre aktiven Formen können durch Meditation vermieden werden.

Die besonders starken Vrittis (Gedankenwellen) können vermieden werden, indem wir regelmäßig meditieren. Meditation hilft uns, weniger tief ins Leiden hineinzugehen.

Es gibt interessante wissenschaftliche Untersuchungen, die ergeben haben, dass Menschen, die meditieren, glücklicher, erfolgreicher, ausgeglichener, gesünder sind als Menschen, die nicht meditieren. Wenn jemand drei bis fünf Jahre meditiert hat, geht es ihm ein gutes Stück besser als vorher. Auch die Wahrscheinlichkeit, in der Psychiatrie zu landen, ist interessanterweise bei Menschen, die regelmäßig meditieren, erheblich geringer. Das widerspricht einigen psychologischen Lehrbüchern, in denen es heißt, Meditation könne zwar hilfreich sein, aber man müsse vorsichtig sein damit, um nicht ein Fall für die Psychiatrie zu werden. Oder man dürfe keinesfalls allein meditieren, sondern nur mit einem guten Lehrer. Gut, es ist sicher nützlich, die Meditation unter Anleitung zu lernen. Aber nachher muss man schon regelmäßig allein weitermeditieren, um dauerhaften Erfolg zu haben. Das Meditieren scheint insgesamt eine harmonisierende Wirkung auf die Psyche zu haben. Durch Meditation können wir also die aktiven Auswirkungen der Kleshas vermeiden.

12. Klesha-mûlah karmâshayo drishtâdrishta-janma-vedanîyah     Zurück zum zweiten Kapitel

Klesha-mûlah = in den Kleshas verwurzelt; karmâshayah = Speicher der Karmas/Karma-Samen; drishta = sichtbar, gegenwärtig; adrishta = unsichtbar, zukünftig; janma O Leben; vedanîyah = erfahren, durchmachen, ausarbeiten

Karma, ob es in diesem Leben oder in zukünftigen Leben ausgearbeitet wird, hat seine Wurzeln in den schmerztragenden Leiden.

Die Kleshas (Heimsuchungen) sind die Ursache (mûlah) des Karmas.

Solange wir aus den Kleshas heraus handeln, schaffen wir Karma. Wenn wir handeln, weil wir etwas Konkretes für uns selbst wollen (raga), schaffen wir Karma. Wenn wir handeln, um etwas Konkretes zu vermeiden, das uns unangenehm ist (dwesha), schaffen wir Karma. Wenn wir aus Angst handeln (abhinivesha), schaffen wir Karma. Wenn wir uns identifizieren (asmita), während wir handeln, schaffen wir Karma. Und natürlich solange wir nicht wirklich wissen, wer wir sind (avidya), schaffen wir auch Karma. Das klingt reichlich deprimierend, oder?

Aber je nachdem, wie stark die Kleshas sind, wirkt das Karma stärker oder schwächer. Eigentlich kann nur ein Selbstverwirklichter kein Karma mehr schaffen. Jeder andere hat beim Handeln immer eine Spur von Ego dabei – fast immer. Eine vollkommen egolose Handlung ist erst dem Selbstverwirklichten möglich.

Aber wir können uns bemühen, weniger egobehaftet zu handeln. Wir können unserem Mögen und Nichtmögen weniger nachgeben. Wir können weniger in der Vorstellung handeln, ich bin großartig, ich mache all das. Wir können mehr Handlungen tun, einfach weil sie notwendig sind. Wir können versuchen zu handeln, um Gott zu dienen. Wir versuchen, zu handeln, um auf dem spirituellen Weg weiterzukommen. Wir handeln, um das Karma auszuarbeiten. Besser ist die Vorstellung, wir handeln, um ein Instrument Gottes zu sein oder um anderen zu helfen. Wenn wir diese Einstellung haben, dann handeln wir nicht aus Raga (Zuneigung) oder Dwesha (Abneigung) heraus und brauchen auch keine Angst zu haben.

Und vor allen Dingen, wenn wir wissen, ich bin nicht wirklich der Handelnde, sondern ich stelle diesen Körper und diesen Geist mit all ihren Unvollkommenheiten in den Dienst Gottes, ich stelle ihn Gott zur Verfügung und Gott kann die Unvollkommenheiten so benutzen, dass etwas Gutes für uns und alle dabei herauskommt, dann bindet uns die Handlung nicht.

Mephisto sagt im Faust: „Ich bin der, der stets das Üble will und das Gute schafft.“ Mephisto steht ja für den Teufel, für das Schlechte. Und selbst das Schlechte ist letztlich ein Instrument in den Händen Gottes und hat seinen Sinn.

Gott hat uns mit all unseren Unvollkommenheiten in eine bestimmte Situation hineingesetzt, weil das von einer höheren Warte aus richtig ist. Wenn er in der selben Situation jemand anders gewollt hätte, der vollkommen ist, dann gäbe es an dieser Stelle jetzt jemanden, der vollkommener wäre als wir.

Ich habe das durchaus auch erlebt. Ich erzähle euch so viele positive Sachen von Swami Vishnu, was für eine starke Ausstrahlung er hatte, wie in seiner Umgebung alles lief usw.. Aber manche Menschen am Anfang des spirituellen Weges konnten damit gar nicht so viel anfangen. Sie waren zwar auch irgendwie begeistert, aber nachher wussten sie trotzdem nicht, was sie jetzt konkret machen sollten, um auf ihrem spirituellen Weg zu beginnen. Wenn ein Neuling sie unterrichtet hat, der konnte ihnen das viel besser nahe bringen. Das ging mir auch schon so. Wenn Mitarbeiter, die gerade erst anfangen, zu unterrichten, ihre ersten Kurse geben, sind sie bei Anfängern immer beliebter als ich. Was einen natürlich nicht davon abhält, auch dann sein Bestes zu geben, wenn man als Fortgeschrittener Anfänger unterrichtet.

Wir wollen nicht aus den Kleshas (Heimsuchungen) heraus handeln, sondern aus anderen Motiven. Das muss man sich wieder und wieder vor Augen führen. Das ist ganz wesentlich und im Grunde genommen auch ganz einfach. Man muss es einfach immer wieder betonen, weil es dem Zeittrend so entgegensteht.

13. Sati mûle tad-vipâko jâty-âyur-bhogâh     Zurück zum zweiten Kapitel

Sati mûle = die Wurzel ist da; tad = (von) ihm (von Karmâshaya); vipâkah = Frucht bringen, reifen; jâti = Klasse, Sozialstand; âyuh = Leben, Lebensspannen; bhogâh = Erfahrungen

Solange Wurzeln verbleiben, muss das Karma erfüllt werden, was die verschiedenen sozialen Situationen, Lebensspannen und Erfahrungen zur Folge hat.

Solange wir aus den Kleshas (Unwissenheit, Egoismus, Zuneigung, Abneigung, Angst) heraus handeln, gibt es Karma. Das Karma führt zu den sozialen Situationen, Lebensspannen und Erfahrungen. Und wir haben uns das Karma letztlich selbst geschaffen. Das werden wir nachher nochmals etwas genauer behandeln.

14. Te hlâda-paritâpa-phalâh punyâpunya-hetutvât     Zurück zum zweiten Kapitel

Te = sie; hlâda = Freude; paritâpa = Leid; phalâh = Frucht; punya = Verdienst; apunya = Schuld, Sünde; hetutvât = verursacht durch

Sie ernten Vergnügen oder Schmerz als ihre Frucht, je nachdem, ob ihre Ursache Tugend oder Laster ist.

Wenn wir aus einer positiven Motivation heraus handeln, andern etwas Gutes tun wollen und uns dabei mit der Handlung identifizieren, uns toll fühlen, weil wir etwas so Großartiges gemacht haben, dann führt das zu Vergnügen.

Wenn wir handeln, um einem anderen Menschen zu schaden, eins auszuwischen: „Das lasse ich mir nicht gefallen, dem werde ich’s zeigen“, am besten hinten herum, damit es keiner merkt, um seine Existenz zu zerstören – erschießen werden wir ja hoffentlich in unserer Gesellschaft niemanden, aber jemanden schlecht zu machen oder zu versuchen, ihm das wegzunehmen, was ihm am liebsten ist, das ist durchaus verbreitet –, wenn also das die Motivation der Handlung ist, dann führt das in der Konsequenz zu Schmerz.

Es gibt positives und negatives Karma. Das gilt aber nur für Nicht-Yogis. Im 4. Kapitel, 7. Vers, sagt er: „Für einen Yogi ist Karma weder weiß noch schwarz, für andere ist es dreifach.“

Normalerweise gibt es gutes, schlechtes und gemischtes Karma. Wenn man eine Million Mark in der Lotterie gewinnt, ist das gutes oder schlechtes Karma? Üblicherweise hält man das für Glück. Wenn man tiefer blickt, kann es aber eher negativ sein. Eine Studie über Lottomillionäre hat herausgefunden, dass bei ihnen die Selbstmordquote riesengroß ist. Es gibt fast keine Bevölkerungsschicht mit einer so hohen Selbstmordrate. Das kommt daher, dass sie meistens aus ihrem sozialen Umfeld, ihrer sozialen Schicht, herausgerissen werden. Sie gestalten ihr Leben um, ihr Selbstbild ist nicht mehr das gleiche, sie können ihren Freunden nicht mehr trauen, vernachlässigen ihre bisherigen Freunde oder werden von ihnen verlassen und schließlich fühlen sie sich vollkommen unglücklich. Es gibt nur ein paar Ausnahmen und das sind die, die einen großen Teil ihres Gewinns gespendet haben oder die trotz des Gewinnes ihr Leben nicht in großem Stil verändert haben. Aber dieses Beispiel zeigt, dass das, was man positives Karma nennen würde und was die Menschen millionenfach anstreben, eigentlich gar kein Glück ist.

Oder was ist normalerweise ein offensichtliches Unglück? Beispielsweise, wenn man nach Hause kommt und es wurde eingebrochen, Fernseher, Radio, Stereoanlage, Juwelen, Eheringe aus den letzten drei Ehen, alles materiell Wertvolle ist weg. Das erscheint als Unglück. Aber vielleicht ist es in Wirklichkeit ein Glück.

Für einen Yogi gibt es weder positives noch negatives Karma. Er nimmt mit Gelassenheit alles an, was kommt und versucht, etwas daraus zu lernen, daran zu wachsen.

Nun folgt ein Vers, den wir gar nicht gerne hören:

15. Parinâma-tâpa-samskâra-duhkhair guna-vritti-virodhâch cha duhkham eva sarvam vi-vekinah

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Parinâma = Veränderung; tâpa = Leiden; samskâra = Eindruck, Neigung; duhkhaih = Schmerzen; guna = drei Eigenschaften der Natur; vritti = Gedankenwellen, Modifikationen der Psyhce; virodhât = Widerspruch, Konflikt; cha = und; duhkham = Schmerz; eva = nur; sarvam = alles; vivekinah = für den Erleuchteten, wer Unterscheidungsvermögen entwickelt hat

Für jene, die urteilskräftig sind, bringt jede Handlung, durch die Vorahnung des Verlustes,
durch neue Wünsche oder Konflikte, die aus der Beziehung zwischen dem Geist und den drei Eigenschaften der Natur entstehen, Schmerz.

Dieser Vers wird auch zusammengefasst als

Sarvam Duhkham Vivekinah

Für einen Menschen mit Unterscheidungskraft (vivekinah) ist alles (sarvam) Leid (duhkha).

Das klingt sehr negativ, oder? Die erste der edlen Wahrheiten Buddhas ist: „Alles Leben ist Leiden“. Heutzutage versuchen die buddhistischen Lehrer im Westen, das etwas zu kaschieren und zu verharmlosen, weil es nicht zum Zeitgeist zu passen scheint. Sie sagen zum Beispiel, dem würde zu viel Stellenwert eingeräumt, das sei nicht so wörtlich zu nehmen, die anderen Lehrsätze seien wichtiger.

Aber Patanjali sagt hier, letztlich führt jede Handlung, die wir aus den 5 Kleshas (Unwissenheit, Ego, Zuneigung, Abneigung, Angst) heraus machen, zu Leiden. Das Wort Karma hat im Sanskrit zwei Bedeutungen. Es heißt sowohl Handlung als auch Situation, das heißt, es umfasst alles, was wir tun und alles, was auf uns zukommt oder da ist. Und alles bringt Schmerz. Warum?

Wir haben schon vor oder bei der Wunscherfüllung eine Vorahnung des Verlustes. Wenn wir etwas bekommen, haben wir Angst, wir könnten es verlieren. Sobald wir etwas haben, kommt schon der nächste Wunsch und neue Unruhe. Aus der Beziehung zwischen dem Geist und den drei Eigenschaften der Natur (3 Gunas: Sattwa=Reinheit, Rajas=Unruhe, Tamas=Trägheit) entstehen Konflikte.

Der Geist wird immer durch die drei Gunas beeinflusst. Sogar ein Selbstverwirklichter hat ab und zu noch tamasige und rajasige Gemütszustände, mit denen er sich allerdings nicht identifiziert. Sattwa überwiegt bei ihm. Aber wir als Aspiranten befinden uns oft in tamasigen und rajasigen Geisteszuständen. Darüber hinaus gibt es Situationen, die nicht zu unserem Gemütszustand passen. Unser Geist und Gemüt befinden sich in ständiger Veränderung. Wenn wir das wissen, geben wir die Vorstellung auf, dass wir jemals die hundertprozentig ideale Situation finden werden und dass wir dann glücklich werden, wenn wir unsere äußere Situation ausreichend manipulieren.

Nach Patanjali führt jede Situation letztlich zum Leiden, wenn wir nur das Äußere darin sehen und suchen. Umgekehrt gilt natürlich, wenn wir wissen, dass das Suchen nach Glück im Äußeren zum Leid führt und deshalb nicht mehr mit einer solchen Besessenheit danach streben, können wir Leid vermeiden. Indem wir erkennen, Sarvam duhkham vivekinaha, brauchen wir nicht mehr so zu leiden. Das lernen wir nur nirgends. Ein Mensch, der dem Glück immer hinterher rennt, ist traurig und verzweifelt, weil er es nicht findet. Wenn wir wissen, wir werden es nicht finden, ist es nicht weiter tragisch. Ein Teil unseres Geistes glaubt es vielleicht doch nicht so ganz, so dass wir trotzdem auch hinterher rennen, so quasi aus sportlichem Ehrgeiz; und wenn wir es nicht erreichen, sagen wir nur: „Siehst du, Patanjali hat doch Recht gehabt“.

Jetzt kommt ein sehr schöner Vers, einer meiner Lieblingsverse:

16.Heyam duhkham anâgatam     Zurück zum zweiten Kapitel

Heyam = um zu vermeiden; duhkham = Leid, Elend; anâgatam = künftig, noch nicht eingetreten

Leid, das sich noch nicht manifestiert hat, sollte vermieden werden.

Das klingt banal. Aber wie oft wissen wir ganz genau: Wenn ich so weitermache, führt das zu Leid. Und trotzdem können wir es nicht lassen. Kennt ihr das? Diesen Vers kann man wie ein Mantra oder einen Schlachtruf wiederholen: „Heyam duhkham anâgatam“. Wir müssen uns aufmerksam beobachten: Wo ist Leid dabei, sich zu manifestieren, und wo oder wie können wir es vermeiden, sowohl für uns selbst als auch für andere. Wenn wir dabei sind, eine Dummheit zu begehen, zu faul sind, etwas zu verändern, oder zu schüchtern, um Rat zu bitten, wenn wir nicht stark genug sind, einer Sucht zu widerstehen oder etwas Edles zu tun, dann wiederholen wir: „Heyam duhkham anâgatam“, „Leid, das sich noch nicht manifestiert hat, sollte vermieden werden“.

Das ist eine gute Ergänzung zu Ishwara Pranidhana, Loslassen, Vertrauen zu Gott, alles ist ok, wie es ist und zu Tapas, Askese, bewusst auch einmal Dinge tun, die der Geist nicht mag, um innere Stärke zu bekommen.

Patanjali hat vorher schon über Karma und Kleshas gesprochen. Im folgenden Vers erwähnt er noch einmal klarer:

17. Drashtri-drishyayoh samyogo heya-hetuh     Zurück zum zweiten Kapitel

Drashtri = des Sehers; drishyayoh = das Gesehene, Erfahrene; samyogah = Vereinigung, Verbindung; heya = was vermieden werden soll; hetuh = Ursache

Ursache zukünftigen Karmas ist die Identifikation des Erfahrenden mit dem Objekt, das erfahren wird.

Der Seher (drashtra) identifiziert sich mit dem Gesehenen (drishya).

Wir sagen: „Das ist mein Körper, mein Hund, meine Katze, mein Ehemann, mein Yoga-Ashram, meine Kleider, mein Wunsch, meine Handlung, meine Klugheit, mein Verdienst, mein Fähigkeit …“ Diese Identifikation führt zu Karma und zu Lektionen, die wir noch zu lernen haben.

Und jetzt kommt ein schöner Vers, der etwas länger ist – eigentlich sind sie alle schön:

18. Prakâsha-kriyâ-sthit-–shîlam bhûtendriyât-makam bhogâpavargârtham drishyam     Zurück zum zweiten Kapitel

Prakâsha = Leuchten, Erkennen, Bewusstsein; kriyâ = Handlung; sthiti = Stetigkeit, Festigkeit; shîlam = die Eigenschaften (Sattwa, Rajas, Tamas) besitzend; bhuta = Elemente; indriya = Sinnesorgane; ât-makam = derart seiend; bhoga = Erfahrung; apavarga = Befreiung; artham = wegen, zwecks; drishyam = das Gesehene (Prakriti)

Das Universum, das durch die Wechselwirkung zwischen den Elementen und den Wahrnehmungen der Sinnesorgane erfahren wird, wird aus Sattwa (Reinheit), Rajas (Unruhe) und Tamas (Trägheit) zusammengesetzt und existiert einzig zum Zweck der Erfahrung und der Befreiung des Menschen.

Das stammt direkt aus der Samkhya-Philosophie. Die Samkhya-Philosophie und hier auch Patanjali geht davon aus, dass es mindestens auf der relativen Ebene tatsächlich ein Universum gibt. Dieses Universum erfahren wir als Wechselwirkung zwischen unseren Sinnen und dem, was außen ist. Nach der Lehre der Vedanta-Philosophie hingegen gibt es kein Universum, es ist alles nur Illusion.

Wenn wir zum Beispiel eine Uhr anschauen, dann sehen wir die Uhr nicht so, wie sie tatsächlich ist, sondern wie sie uns unsere Sinne vermitteln. Physiker würden sagen, sie ist einfach nur Schwingung; sie besteht aus Elektronen, Neutronen, Protonen, die eine bestimmte Schwingungen ausstrahlen und dieses bestimmte Schwingungsspektrum wird vom Gehirn als Form und Farbe wahrgenommen. – durchaus ähnlich der Samkhya-Philosophie, wonach alles nur Energie, eine Manifestation von Prakriti (Natur) ist. Die Sinne schaffen dann den Anschein, als ob es Klänge, Gerüche, usw., gäbe.

Dieses Universum hat nun – und das ist ein wichtiger Aspekt – zwei Zwecke: es dient der Erfahrung und der Befreiung. Die Dinge, die auf uns zukommen, sind deshalb da, damit wir sie erfahren können und sie helfen uns, uns zu befreien. Man könnte es auch noch etwas pointieren. Alles, was auf uns zukommt, haben wir uns entweder so gewünscht oder es kommt, um uns daran zu erinnern, wieder aus der Täuschung herauszukommen. Angenommen, wir gehen in einen Irrgarten hinein. Warum gehen wir in den Irrgarten hinein? Paradoxerweise nur aus dem einen Grund, wieder herauszukommen. Warum gehen wir dann überhaupt erst hinein? Denselben Hintergrund hat die Frage: „Warum hat Purusha (Höchste Wesen) sich in die Prakriti (Natur) hineinbegeben?“ – Er wollte irgendetwas erfahren, sagen wir mal so.

Purusha, das reine Selbst, identifiziert sich in die Prakriti (Natur, Universum) hinein, um etwas zu erfahren. Die Aufgabe der Prakriti ist es, Purusha alle Erfahrungen zu geben, die er haben will. Infolgedessen muss jeder Wunsch, den wir haben, irgendwann einmal in Erfüllung gehen. Glücklicherweise braucht sich nicht jede Wunscherfüllung im physischen Raum zu manifestieren. Manche Wünsche können im Traum ausgelebt werden. Es gibt sogar eine Wissenschaft darüber, wie man Erfahrungen und Wünsche aus dem physischen Leben in das Traumleben hineinbringen kann. So kann man Träume daran hindern, sich im physischen Leben zu manifestieren. Das ist unter anderem eine Technik, um Schuldgefühle, Ärger und andere negative Emotionen zu verarbeiten. Manche Wünsche können zwischen zwei Leben ausgelebt werden. Aber starke Wünsche müssen in diesem oder im nächsten Leben ausgelebt werden.

Purusha, das Bewusstsein – und damit jeder Einzelne von uns – hat aber auch eine Sicherheit eingebaut. Angenommen, ihr würdet in ein Labyrinth hineingehen, von dem ihr wißt, dass schon viele Menschen hineingegangen und nicht wieder herausgekommen sind. Sie sind dort elendig verhungert. Würdet ihr euch trotzdem hineinbegeben? Es gibt Abenteuernaturen, die das durchaus reizt. Aber wer klug ist, baut vor. Was macht man also? Man baut eine Sicherheit ein. Man nimmt vielleicht ein Wollknäuel mit wie Minos bei Minotaurus, oder man nimmt ein Handy oder ein Funksprechgerät. Und so hat auch Purusha, als er sich in Prakriti verwickelt hat, etwas eingebaut, damit man wieder aufwacht, damit man sich nicht hoffnungslos verliert. Und so kommen bestimmte Ereignisse deshalb, damit wir wieder aufwachen.

Patanjali unterscheidet drei Ursachen für Ereignisse, die uns zustoßen:

Manche Ereignisse kommen, weil wir sie uns gewünscht haben, in diesem oder einem früheren Leben. Und manche Ereignisse kommen, weil wir aus Tugend oder Laster heraus gehandelt haben; die Handlung zieht karmisch Vergnügen oder Schmerz nach sich und manifestiert sich als bestimmtes Ereignis oder Situation. Und schließlich kommen bestimmte Ereignisse, die uns helfen, wieder aufzuwachen und zur Befreiung zu kommen..

Bei Ereignissen können wir uns also immer überlegen:

1. Habe ich mir das so gewünscht?
2. Gab es in meinem Leben etwas, wo ich vielleicht ein Karma erzeugt habe, wovon das die Frucht sein könnte? Wir können das natürlich nur begrenzt sehen, denn vieles kommt auch aus früheren Leben. Aber manchmal geht es mit dem Karma und seinem Gesetz von Ursache und Wirkung auch ganz schnell. Wenn man jemandem hinterrücks etwas angetan hat oder jemandem einmal nicht beigestanden hat, der krank war oder Hilfe gebraucht hat und ihm nur gesagt hat: „Stell dich nicht so an“, und dann selbst in eine ähnliche Situation kommt, dann weiß man, aha, das ist das Karma dafür. Aber es hat keinen Zweck, sich nun im Nachhinein Selbstvorwürfe zu machen oder Schuldgefühle zu entwickeln. Das Karma hebt ja die frühere Erfahrung auf. Wir können also im Gegenteil erleichtert sein, wenn wir auf diese Art das Karma ausarbeiten können.
3. Was kann ich aus der Situation lernen? Wie hilft mir diese Situation, mich zu befreien?

Und diese Prakriti, diese Welt, ist etwas so Fantastisches, dass sich alle drei Aspekte auch vermischen können. Wir können es uns gewünscht haben, es kann eine karmische Konsequenz sein und es hilft uns gleichzeitig, uns zu befreien.

Hier möchte ich aber auch noch vor etwas warnen, was man manchmal bei zu esoterisch angehauchten Menschen feststellt, die bei allem ständig überlegen: „Was will mir das sagen? Wozu ist diese Situation da? Was ist der Sinn in dieser Situation?“ Ich kannte einmal eine Frau, die einen schweren Unfall hatte und jahrelang gegrübelt hat, warum ihr dieser Unfall zugestoßen ist. Fünf Jahre später hat sie mir erzählt, sie verstünde immer noch nicht, warum sie diesen Unfall damals hatte. Ich habe sie gefragt, ob sie bleibende Schäden davon habe. Sie sagte, nein, eigentlich sei alles wieder geheilt, aber es würde sie nicht loslassen.

Sie war besessen von dem Gedanken, herausfinden zu müssen, warum sie diesen Unfall gehabt hat. Da habe ich ihr gesagt, vielleicht hast du den Unfall deshalb gehabt, damit du erkennst, dass man nicht hinter allem den Sinn sofort sieht. Irgendwie hat sie das beruhigt und sie hat erkannt, dass ihre Aufgabe bezüglich dieses Unfalls ist, Demut zu üben und zu erkennen, dass wir manchmal auch Dinge akzeptieren müssen, ohne einen unmittelbaren Sinn darin zu sehen. Und etwa zwei Jahre später kam sie zu mir und hat gesagt, jetzt hätte sie doch den Sinn gefunden. In dem Moment, wo sie aufgehört habe, den Sinn zu suchen, seien ihr immer mehr Gründe klargeworden. Aber in der ganzen Zeit dazwischen, in der sie ständig die Ursache gesucht hat und sie das so bedrückt hat, hat sie das und viele andere Situationen in ihrem Leben nicht mehr bewusst gelebt und wahrgenommen. Also, es hat zwar alles seinen Sinn, aber wir können ihn nicht immer in allem sehen. Wenn wir selbstverwirklicht sind, erkennen wir den Sinn hinter allem, aber bis dahin geht es nicht immer.

19.  Visheshâvishesha-lingamâtrâlingâni guna-parvâni     Zurück zum zweiten Kapitel

Vishesha = besonders, bestimmt; avishesha = nichtspezifisch, atypisch; lingamâtra = ein blosses Zeichen; alingâani = ohne Zeichen, ohne unterscheidendes Merkmal; guna = die Gunas, Eigenschaften; parvâni = Entwicklungsstufen, Zustände

Die Zustände der drei Gunas (Reinheit, Unruhe, Trägheit) sind grob, fein, manifest und unmanifest.

20. Drashtâ drishimâtrah shuddho ¢pi pratyayâ-nupashyah     Zurück zum zweiten Kapitel

Drashtâ = der Seher, Purusha; drishimâtrah = reine Wahrnehmung, reines Bewusstsein; shuddha = rein; api = obgleich; pratyaya = Begriff, Verstandesinhalt; anupashyah = schein zu sehen mit

Der Sehende ist nur reines Bewusstsein und obwohl er rein ist, scheint er durch den Geist zu sehen.

21. Tad-artha eva drishyasyâtmâ     Zurück zum zweiten Kapitel

Tad + artha = um desentwillen (des Sehers); eva = allein; drishyasya = des Gesehenen (Prakriti); âtmâ = Wesen, Natur

Die tatsächliche Existenz des Gesehenen ist für den Sehenden da.

Das ist eine schöne komprimierte Zusammenfassung der Samkhya–Philosophie. Das physische Universum hat keinen Selbstzweck, sondern es ist für Purusha da, für das Bewusstsein dahinter, für seine Erfahrung. Das ist also eine ganz andere Philosophie als unsere westliche, die behauptet, das Universum sei zufällig entstanden und Bewusstsein sei ein Zufallsprodukt der Evolution. Danach ist Bewusstsein erst vor etwa 10.000 Jahren entstanden und nur im Menschen vorhanden. Wer das behauptet und sich noch Wissenschaftler nennt … – der hat noch nie eine Katze oder eine Maus beobachtet!

22. Kritârtham prati nashtam apy anashtam tad-anya-sâdhâranatvât     Zurück zum zweiten Kapitel

Kritârtham = dessen Zweck erfüllt ist; prati =für, zu; nashtam = zerstört, nicht vorhanden; apy = obgleich; anashtam = nicht zerstört, vorhanden; tat = als das; anya = zu anderen; sâdhâranatvât = da es allgemein ist.

Auch wenn die Prakriti (Natur) für den, der seinen Zweck erfüllt hat, unwirklich wird, fährt sie fort, für andere zu existieren, denn sie ist allen gemein.

Mit anderen Worten, wenn wir die Selbstverwirklichung vollständig erreicht haben, das letzte Karma ausgearbeitet haben, gibt es das Universum für uns nicht mehr, dann ist Prakriti verschmolzen mit Purusha (bewusstsein), dem Selbst, und wir sind auf ewig befreit. Aber für die anderen existiert die Prakriti weiter.

23. Swa-swâmi-shaktyoh swarûpopalabdhi-hetuh samyogah     Zurück zum zweiten Kapitel

Swa = von ihr (Prakriti); swami = von dem Meister (Purusha); shaktyoh = von den Kräften; swarûp = eigene, wahre Natur; upalabdhi = Erfahrung, Wissen; hetuh = Ursache, Grund, Zweck; samyogah = Vereinigung, Zusammenkommen

Der Zweck der Vereinigung von Purusha (bewusstsein) und Prakriti (Universum) ist, dass der erstere den Zweck seiner wahren Natur erlangt und die Kräfte erkennt, die latent in ihm und in Prakriti liegen.

Purusha, das Selbst, das Bewusstsein, vereinigt sich mit Prakriti. Jeder einzelne von uns identifiziert sich mit einem Teil der Prakriti, mit Körper und Geist, und anschließend kommt er wieder heraus. Nun können wir uns fragen, was macht das Ganze für einen Sinn. Meiner Ansicht nach ist die Vedanta–Philosophie etwas logischer, aber emotional unbefriedigender. Der Vedanta sagt, es macht keinen Sinn, denn es ist gar nichts passiert, alles war sowieso nur eine Illusion. Das wäre wie zu fragen: Warum hat eine Krähe Zähne und was ist der Zweck der Zähne der Krähe? Die Krähe hat keine Zähne, daher haben sie auch keinen Zweck und es gibt auch keinen Grund dafür. Genauso ist es mit dem Universum. Es existiert nicht, ist einfach nur eine Illusion. Zu fragen, welchen Grund, welchen Sinn es haben soll, ist daher sinnlos. Diese Philosophie ist logischer, aber sie befriedigt einen nicht. Die Bhaktas (Gottesverehrer) sagen, das Universum ist Lila, Spiel Gottes. Das befriedigt emotionell, aber intellektuell überhaupt nicht. Was wäre das für ein Gott, der spielen will?

Patanjali wählt hier einen Zwischenstandpunkt. Er sagt, Purusha und Prakriti kommen zusammen, damit Purusha wieder das Bewusstsein seiner wahren Natur erlangt, indem er zunächst aus sich heraus- und nachher zu sich zurückkommt. Erst so erkennt er wirklich, wer er ist. Und außerdem erkennt er die Kräfte, die latent in ihm und in der Prakriti liegen. Das Ganze macht also einen Sinn. Er kommt nachher zurück zu sich selbst, klüger als vorher. Das befriedigt uns emotional, ist aber logisch nicht ganz schlüssig. Denn wenn Purusha tatsächlich reines Bewusstsein an sich ist, dann ist in diesem Bewusstsein alles Wissen immer schon vorhanden. Trotzdem, Purusha geht aus irgendeiner Avidya (Unwissenheit) heraus ins Universum hinein und durch den Lebenszyklus erkennt er seine wahre Natur immer mehr. Er erkennt die Kräfte, die in ihm und in der Prakriti liegen, und das ist irgendwie etwas Sinnvolles. Den meisten Menschen fällt es leichter, eine solche Erklärung und Sichtweise anzunehmen als die der Vedanta.

Aber jetzt fährt Patanjali trotzdem fort:

24. Tasya hetur avidyâ     Zurück zum zweiten Kapitel

Tasya = seine (der Vereinigung); hetuh = Ursache; avidyâ = Unwissenheit

Aber die Ursache dieser Vereinigung ist Avidya, Unwissenheit.

Aufgrund von Unwissenheit, die plötzlich kommt, denkt Purusha, er müsse seine wahre Natur wieder erlangen und die Kräfte in sich erkennen. Deshalb geht er in die Prakriti hinein, verliert sich dort selbst, kommt in die Unwissenheit und somit ins Leiden, ist dem Karma unterworfen. Dann müssen irgendwelche Ereignisse kommen, die ihn doch wieder an seinen Zustand des wahren Seins erinnern und Prakriti hilft ihm nun, dass er sich nicht verliert und darin hängen bleibt. Eine ziemlich komplizierte Geschichte und für meine Begriffe nicht sehr überzeugend!

25. Tad-abhâvât samyogâbhâvo hânam tad drisheh kaivalyam     Zurück zum zweiten Kapitel

Tad = (von) dem (Avidya); abhâvât = durch Abwesenheit, durch Ausschaltung; samyoga = Vereinigung, Verbindung; abhavah = Verschwinden; hânam = Vermeiden, Mittel; tat = das; drisheh = des Sehers; kaivalyam = Trennung, Befreiung

Aber durch das Ausmerzen der Unwissenheit verschwindet die Verbindung von Purusha und Prakriti und der Sehende ist befreit.

26. Viveka-khyâtir aviplavâ hânopâyah     Zurück zum zweiten Kapitel

Viveka–khyâtih = unterscheidende Erkenntnis, Wahrnehmung des Unterschiedes zwischen dem Selbst und dem Nichtselbst; aviplavâ = ungebrochen; hânopâyah = Mittel zur Aufhebung, Abschaffung

Das Mittel, Avidya (Unwissenheit) zu zerstören, ist ungebrochenes Unterscheidungsvermögen (Viveka–khyâti).

Eigentlich ist Viveka kyati sogar noch mehr als Unterscheidungsvermögen, es ist die Lebenseinstellung des Unterscheidungsvermögens, andauerndes Unterscheidungsvermögen.

Patanjali meint hier die Unterscheidung zwischen Purusha und Prakriti, die er im 4. Kapitel noch etwas mehr beschreibt. In der Vedanta wird Viveka (Weisheit) auch noch in anderer Bedeutung benutzt und auch Patanjali setzt den Begriff in anderem Zusammenhang für andere Dinge ein, zum Beispiel, wenn er über Buddhi (Intelligenz, Unterscheidungskraft) spricht und dass Vairagya (Leidenschaftslosigkeit) durch Willen entsteht und Wille durch Unterscheidung und Kraft.

Aber hier ist jetzt die ständige Unterscheidung gemeint zwischen dem, was ich wirklich bin, dem Objekt des Sehens und dem Instrument der Wahrnehmung. Ich bin das Bewusstsein. Gedanken, Gefühle und Bilder sind die Instrumente der Wahrnehmung und das Äußere ist das Wahrgenommene, das Objekt. Wenn ich mich also zum Beispiel ärgere, dann weiß ich, mein eigentliches Ich ist davon unberührt. Ich kann feststellen, der Ärger ist eine Manifestation des Instruments der Wahrnehmung, eben meines Geistes, und er beruht darauf, dass bestimmte äußere wahrgenommene Sachen nicht so sind, wie das Instrument der Wahrnehmung es gerne hätte. Sich dessen immer bewusst zu sein, diese Unterscheidung zu machen, das ist dieses Viveka Kyati (unterscheidende Erkenntnis), das Patanjali hier beschreibt.

Es gibt natürlich noch eine andere Unterscheidungskraft, eine relative Viveka. Das ist die Unterscheidung zwischen dem wahren Glück und dem Leid, zwischen dem, was uns zum Glück führt und was zum Leid, was ewig ist und was vergänglich, usw.

Im Samkhya-System gilt Viveka Kyati (unterscheidende Erkenntnis) als das einzige Mittel, Avidya (Unwissenheit) zu zerstören. Es gibt auch Methoden, wie wir Viveka schärfen können, zum Beispiel die Sakshi–Bhav–Techniken des Beobachtens, wo wir lernen, etwas wahrzunehmen und zu beobachten, zum Beispiel ein Gefühl, einen Gedanken, ein Geräusch und gleichzeitig feststellen: Ich bin nicht das Wahrgenommene.

Allmählich stellen wir fest: Ich bin der Beobachter, ich bin nicht das Beobachtbare. Die Vipassana-Meditation, die Beobachtungsmeditation der Buddhisten, ist also eigentlich keine urbuddhistische Methode, sondern sie ist als Sakshi Bhav im Yoga schon lange bekannt. Es ist also sowohl eine Meditationstechnik als auch eine Lebenseinstellung wie auch Unterscheidungskraft in jeder Situation. Wenn wir uns darin wieder und wieder üben, verliert sich langsam diese Bindung an die Prakriti. Man beobachtet und erkennt, hier ist ein Mensch, der denkt, handelt, fühlt, aber das ist nicht mein wahres Ich. Ich bin das Bewusstsein dahinter, der Beobachter. Man kann auch sagen, ich bin etwas anderes als dieser Körper. Ich bin jemand anders als diese Gedanken und diese Gefühle, denn die kann ich alle wahrnehmen. Das kann man mit der Zeit immer mehr fühlen; ein Selbstverwirklichter lebt ständig in diesem Bewusstsein. Und wenn man diese Viveka schult, diese Unterscheidungskraft, kann man das tatsächlich immer mehr spüren. Und so kommen wir zur Befreiung.

Frage: Ist das dann wie im Traum? Man sieht sich ja im Traum auch.

Antwort: Nicht immer. In den sogenannten luziden Träumen sieht man sich von außen. Aber in den typischen Träumen, die die meisten Menschen haben, identifiziert man sich voll mit dem Traum-Ich.

Hier könnten die Aphorismen des Patanjali eigentlich zu Ende sein. Er hat uns bis hierher schon so viel beigebracht. Von jetzt an wird es noch einfacher. Mindestens bis zum Ende des 2. Kapitels, gibt er uns immer leichtere, konkretere und praktischere Techniken, je weiter er fortschreitet. Als nächstes folgen die acht Stufen des Raja Yoga, die Ashtangas.

27. Tasya saptadhâ prânta-bhûmih prajnâ     Zurück zum zweiten Kapitel

Tasya = sein, dies; saptadhâ = siebenfältig; prânta-bhûmih = ein bestimmtes Stadium, Stufe; prajnâ = das erkennende Bewusstsein, Erleuchtung, wahres Wissen

Erleuchtung wird durch sieben Stufen erreicht.

Gemeint sind die acht Stufen des Raja Yoga. Er sagt sieben, denn die achte ist schon Samadhi (Erleuchtung, überbewusster Zustand). Über die ersten sieben Stufen, nämlich Yama, Nyama, Asana, Pranayama, Pratyahara, Dharana, Dhyana kommen wir zur Erleuchtung, zu Samadhi.

Yama = ethische Ratschläge oder Vorschriften im Umgang mit anderen
Nyama = ethische Ratschläge für unser Privatleben
Asana = Yogastellungen
Pranayama = Atmung, Herrschaft über das Prana
Pratyahara = Zurückziehen der Sinne
Dharana = Konzentration
Dhyana = Meditation
Samadhi = Überbewusstsein

28. Yogângânushthânâd ashuddhi-kshaye jnâna-dîptir â viveka-khyâteh     Zurück zum zweiten Kapitel

Yogânga = Glieder, Stufen des Yoga; anushthânât = durch Übung; ashuddhi = Unreinheit; kshaye = Zerstörung; jnâna= (geistiges) Wissen; dîptih = Leuchten, Strahlen; â viveka-khyâteh = Wahrnehmung der Wirklichkeit

Durch die Übung der verschiedenen Stufen des Yoga werden Unreinheiten zerstört und spirituelle Erleuchtung erwächst, die sich zur Kenntnis der Wirklichkeit entwickelt.

Hier beschreibt Patanjali, was alles geschieht, während wir Yoga üben:

Wir zerstören Unreinheiten, merzen sie aus. Das ist ein großer Teil des Yoga. Dann kommt Jnâna dîptih, das Licht des Wissens, hier als „spirituelle Erleuchtung“ übersetzt. Damit kommen auch spirituelle Erfahrungen, Intuition, ein gewisses Gefühl für das Selbst. All das führt zu Viveka khyâti, ungebrochener Unterscheidungskraft zwischen dem, was wir nicht sind und dem, was wir sind.

Über diese sieben beziehungsweise acht Stufen kommen wir langsam zu diesem Zustand von Viveka khyâti. Im tiefsten, letzten Stadium ist Viveka khyâti nämlich nicht mehr intellektuell sondern tatsächliche Unterscheidung zwischen unserem Selbst und unserem Geist. Das ist die tiefste Form von Viveka khyâti, die schließlich zur Selbstverwirklichung führt.

Im Folgenden geht er näher auf diese Stufen ein.

29.Yama-niyamâsana-prânâyâma-pratyâhâra-dhâranâ-dhyâna-samâdhayo ¢shtâv angâni  

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Yama = Selbstbeschränkungen, ethisch–moralische Regeln; niyama = Regeln, Disziplin; âsana = Stellung; prânâyâma = Atembeherrschung; pratyâhâra = Zurückgezogenheit; dhâranâ = Konzentration, „sich auf einen Mittelpunkt beschränken“, Festhalten eines Gedankens, Objektes im Geist; dhyâna = Meditation, Kontemplation, „Beobachtung eines Gebietes“; samâdhaya = Trance, überbewusster Zustand; ashta = acht; angâni = Glieder

Yama, Niyama, Asana, Pranayama, Pratyahara, Dharana, Dhyana und Samadhi sind die acht Glieder.

Yama = Nichtverletzen, Wahrhaftigkeit, Nichtstehlen, Enthaltsamkeit und Aufgabe von Gewinnsucht
Nyama = Reinheit, Zufriedenheit, Selbstzucht, Selbststudium und Hingabe zu Gott
Asana = Yogastellungen
Pranayama = Atmung, Herrschaft über das Prana
Pratyahara = Zurückziehen der Sinne
Dharana = Konzentration
Dhyana = Meditation
Samadhi = Überbewusstsein

yama - niyamaasana - asana - pranyama - pratyahara - dharana - dhyana - samadhi

30. Ahimsâ-satyâsteya-brahamacharyâparigrahâ yamah     Zurück zum zweiten Kapitel

Ahimsâ = Nicht–Verletzen, Gewaltlosigkeit; satya = Wahrhaftigkeit; asteya = Ehrlichkeit, Rechtschaffenheit, Nichtstehlen; brahmacharya = Enthaltsamkeit; aparigrahâh = Nicht-Besitzgier, Nicht-Habsucht; yamâh = Selbstbeschränkung

Die Yamas bestehen aus Nichtverletzen, Wahrhaftigkeit, Nichtstehlen, Enthaltsamkeit und Aufgabe von Gewinnsucht.

Aparigraha bedeutet auch das Nichtannehmen von Geschenken, Unbestechlichkeit. Es wird auch interpretiert als Aufgabe von Gewinnsucht, Nichthorten von Dingen. Geschenke, die aus Liebe gegeben werden, können wir natürlich annehmen, nur dann nicht, wenn wir damit manipuliert werden sollen. Viele Menschen werden bestochen durch Geschenke. Bestechlichkeit ist der Untergang jeder Wirtschaft und jedes politischen Systems. Auch als spirituelle Aspiranten dürfen wir uns nicht bestechen lassen, sonst verlieren wir unsere Freiheit.

31. Jâti-desha-kâla-samayânavachchhinnâh sârvabhaumâ mahâ-vratam     Zurück zum zweiten Kapitel

Jâti = Klasse, Geburtsart; desha = Platz; Kâla = Zeit; samaya = Umstand, Bedingung; anavachch-hinnâh = nicht begrenzt oder bedingt; sârvabhaumâ = auf alle Stadien anwendbar; mahâ–vratam = das große Gelübde, der grossartige Vorsatz

Diese Enthaltungen sind nicht durch soziale Struktur, Ort, Zeit oder Umstände begrenzt, und sie bilden das große universelle Gelübde.

Jeder spirituelle Aspirant sollte sich vornehmen, diese fünf Yamas (Nichtverletzen, Wahrhaftigkeit, Nichtstehlen, Enthaltsamkeit und Aufgabe von Gewinnsucht) zu beherzigen. Sie sind die Maha–vratas, die großen Gelübde, die für alle gelten.

Es gibt andere Vorschriften auf dem spirituellen Weg, die je nach Lebenssituation oder Sozialstand unterschiedlich sind. Ein Haus- und Familienmensch hat andere Aufgaben als ein Asket, ein Schullehrer andere als ein Bauer. Ein Soldat oder Polizist müssen sich anders verhalten als beispielsweise ein Priester (Brahmane). Es gibt verschiedene Dharmas, Pflichten. Für einen Priester geht es sogar soweit, dass er nicht einmal sein eigenes persönliches Leben verteidigen darf – so ist es wenigstens klassischerweise üblich. Hingegen ein Polizist muss das Leben anderer aktiv verteidigen und braucht notfalls auch eine Waffe.

Trotzdem gilt für alle das Prinzip von Ahimsa (Nichtverletzen); die Ausprägung ist unterschiedlich je nach den jeweiligen Pflichten und Aufgaben. Für einen Priester und noch mehr für einen Mönch heißt Ahimsa bedingungslose Gewaltlosigkeit, unter keinen Umständen einem anderen Wesen körperlich etwas tun, noch nicht einmal ein Insekt töten. Für einen Polizisten bedeutet Ahimsa, das Prinzip der Verhältnismäßigkeit zu wahren. Angenommen, ein Kind hat ein Stück Schokolade aus einem Supermarkt gestohlen und läuft weg, dann wäre es jetzt nicht verhältnismäßig, mit dem Gewehr auf das Kind schießen. Aber wenn gerade Terroristen dabei sind, eine Geisel nach der anderen umzubringen, dann kann es sehr wohl die Aufgabe des Polizisten sein, als Scharfschütze auf den Terroristen zu schießen. Auch das wäre in diesem Fall noch Ahimsa.

Brahmacharya, wörtlich Enthaltsamkeit, bedeutet in einer Beziehung zum Beispiel Treue, Achtung des Partners, Rücksichtnahme, auch im sexuellen Leben dafür zu sorgen, dass beide zufrieden sind, nicht egoistisch zu sein. Für einen Aspiranten, der eine Weile das Gelübde der Enthaltsamkeit vollständig leben will, heißt es etwas anderes. Und für einen Mönch bedeutet es wirklich sexuelle Enthaltsamkeit.

32.Shaucha-samtosha-tapah-swâdhyâyeshwara-pranidhânâni niyamâh     Zurück zum zweiten Kapitel

Shaucha = Reinheit; samtosha = Zufriedenheit; tapah = Askese, Selbstzucht; swâdhyâya = Selbststudium; ishwara-pranidhânâni = Hingabe an Gott, Verehrung Gottes; niyamâh = feste Regeln

Die Nyamas bestehen aus Reinheit, Zufriedenheit, Selbstzucht, Selbststudium und Selbsthingabe (Hingabe zu Gott).

Wir finden hier zum dritten Mal den Hinweis auf Ishwara Pranidhana (Hingabe zu Gott). Im ersten Kapitel hat Patanjali erwähnt, Ishwara Pranidhana hilft uns, schnell zu Samadhi zu kommen. Am Anfang des zweiten Kapitels führt er Ishwara Pranidhana als eine der Kriya Yogas auf. Hingabe an Gott hilft uns, nicht zu leiden. Und hier nennt er es nochmals als Teil der Nyamas. Also auch im Raja Yoga spielt Bhakti, die Hingabe an Gott, eine große Rolle.

33.Vitarka-bâdhane-pratipaksha-bhâvanam     Zurück zum zweiten Kapitel

Vitarka = schlechte Gedanken, üble Leidenschaften; bâdhane Bedrängnis, Beunruhigung; pratipaksha = die Gegensätze; bhâvanam = Weilen (der Gedanken), (ständiges) Nachdenken

Stören negative oder schädliche Gedanken den Geist, können sie durch ständiges Nachdenken über deren Gegensätze überwunden werden.

Das ist die sogenannte Pratipaksha-bhavana-Methode. Wenn wir einen negativen Gedanken haben, denken wir an das Gegenteil. Wenn wir ungeduldig sind, denken wir an Geduld. Werden wir leicht ärgerlich, meditieren wir über Gleichmut. Neigen wir zu Ängstlichkeit, meditieren wir über Mut. Wenn wir Hass in uns haben, entwickeln wir Liebe, usw., und zwar durch ständiges Nachdenken. Das kennen wir als Eigenschaftsmeditation.

Davon haben wir schon im ersten Kapitel gehört und Patanjali erwähnt es noch einmal im vierten Kapitel. Patanjali wiederholt sich an einigen Stellen bei den Dingen, die er für besonders wichtig hält.

Es ist durchaus eine gute Sache, sich vorzunehmen, eine Eigenschaft besonders zu entwickeln. Man kann zum Beispiel einen Monat lang besonders Gleichmut entwickeln, im nächsten Mut, im Monat danach Geduld, dann Pünktlichkeit, usw. Das ergibt immerhin zwölf positive Eigenschaften im Jahr, die man vielleicht nicht bis zur Vollkommenheit aber doch ein gutes Stück entwickeln kann. So transformieren wir allmählich unsere Persönlichkeit.

Oder wir können natürlich auch durch die Yamas gehen und jeden Monat einen Punkt von ihnen besonders entwickeln. Wir können einen Monat lang besonders an Ahimsa, Gewaltlosigkeit, arbeiten, dann an Satya, Wahrhaftigkeit, usw. Die kleinen Schwindeleien, Notlügen oder Übertreibungen, die man ab und zu macht, lasse ich diesen Monat weg. Oder Asteya, Nichtstehlen. Ich achte sehr darauf, dass ich nichts wegnehme, was einem anderen gehört. Wir können das als Meditation machen, als Affirmation (Bejahung) sagen und es natürlich jeden Tag auch umsetzen. Nur darüber nachzudenken reicht nicht aus. Aber alles zusammen ist sehr wirksam.

Wir können darüber nachdenken, Affirmationen am Anfang und/oder am Ende der Meditation und/oder am Ende der Tiefenentspannung wiederholen, wir können uns morgens vornehmen, öfter während des Tages darüber nachzudenken und jeden Tag mindestens eine Handlung auszuführen, die diese Eigenschaft unter Beweis stellt. Also beispielsweise wenn man Mut entwickeln möchte, dann soll man jeden Tag eine Sache tun, die Mut erfordert und die man normalerweise nicht gemacht hätte. Nicht hundert, sondern eine – aber dann auch wirklich machen. Eine Handlung reicht aus. Man soll den Geist nicht überfordern. Dann wird innerhalb von einem Monat eine entscheidende Veränderung im Geist eintreten.

34.Vitarkâ himsâdayah krita-kâritânumoditâ lobha-krodha-mohapûrvakâ mridu-madhyâdhimâtrâ duhkhâjnânânta-phalâ iti pratipaksha-bhâvanam     Zurück zum zweiten Kapitel

Vitarkâ = üble, unpassende Gedanken und Emotionen; himsâdayah = Gewalttätigkeit; krita = selbst getan; kârita = durch andere tun lassen; anumoditâh = angestiftet, gebilligt; lobha = Gier, Geiz; krod-ha = Ärger; moha = Täuschung; pûrvakâh = vorausgegangen, veranlasst; mridu = mild; madhya = mäßig; adhimâtrâ = intensiv; duhkha = Schmerz, Elend; ajnâna = Unwissenheit; ananta = endlos; phalâh = Frucht, Ergebnis; iti = so, deshalb; pratipaksha = Gegensätze; bhâvanam = in Gedanken verweilen

Negative Gedanken und Emotionen wie Gewalt, ob verübt, begünstigt, oder durch Gier, Ärger oder Täuschung verursacht, und ob mild, mittelmäßig oder in starker Intensität gegenwärtig, resultieren in endlosem Schmerz und Unwissenheit. Deshalb muss über das Gegenteil nachgedacht werden.

Das ist eine interessante Begründung von Ethik. Patanjali sagt nicht, Gott erwartet, dass ihr euch an die moralisch-ethischen Regeln haltet und wenn ihr euch nicht daran haltet, kommt ihr in die Hölle. Er hat vorher über Karma gesprochen und gesagt, wenn wir etwas aus Laster heraus tun, führt es zu Leid. Aber hier sagt er noch direkter, wenn wir ein unethisches Leben führen, führt das zu Schmerz und Unwissenheit.

Im Zuge der 68er-Revolution sind die Tugenden über Bord geworfen worden. Im Zuge der psychologischen Revolution sind auch ethische Vorschriften mehr oder weniger über Bord geworfen worden. Wenn ich vor fünf Jahren das Wort Tugend in den Mund genommen habe, haben mich alle komisch angeguckt. Jetzt wird wieder über Tugenden gesprochen und das ist etwas Positives. Denn inzwischen weiß man: Man braucht sie. Und es ist nicht so, dass der Ehrliche wirklich der Dumme ist. Der Ehrliche ist der Fröhliche und der Freudige. Der Unehrliche ist der Traurige, Unglückliche.

Bevor ich mich mit Yoga beschäftigt habe, hatte ich ein anderes Hobby, nämlich Geschichte. Damals habe ich mich unter anderem auch mit großen Feldherren und Eroberern beschäftigt, und bei ihren Biographien ist mir aufgefallen, dass sie eigentlich immer todunglücklich waren. Sie mögen ein Riesenreich aufgebaut haben – wenn sie als Tyrannen geherrscht haben, waren sie nicht glücklich. Es gab manche, die nach einer Weile ihre Wege geändert haben, wie zum Beispiel Ashoka, der große Kaiser Indiens, der um 250 v.Chr. ganz Indien geeint hat. Er war ein großer Feldherr, besiegte ein großes Reich, wobei Zehntausende von Soldaten umgebracht wurden und anschließend haben seine Soldaten gebrandschatzt. Daraufhin hat er Gewissensbisse bekommen und sich gewandelt. Er wurde Buddhist und brachte als friedvoller König das Land zum Blühen. Und er war zum Schluss sehr glücklich. Er gilt auch bis heute in Indien als einer der idealen Herrscher. Die meisten, die nur über Leichen gehen, werden unglücklich.

Und wir selbst werden auch unglücklich, wenn wir uns nicht an Ethik halten. Patanjali hat schon einige Ursachen für Leiden aufgezählt. Handeln aus den 5 Kleshas (Unwissenheit, Ego, Zuneigung, Abneigung, Angst) heraus führt zum einen zum Leiden, zum zweiten zu Karma und drittens zu Unwissenheit. Jetzt sagt er, auch unethisches Verhalten führt zu Leiden.

Manchmal, wenn man sich irgendwie nicht wohlfühlt, kann man auch überlegen, habe ich heute jemanden bewusst oder unbewusst verletzt, durch Unachtsamkeit oder weil ich ihm eins auswischen wollte. Wenn man eine Weile Yoga praktiziert, wird man sensibler und tut sich selbst weh, wenn man jemand anderen auf irgendeine Art und Weise verletzt, besonders, wenn dies aus egoistischen Gründen geschieht. Aber bis zu einem gewissen Grad tut es selbst dann weh, wenn man seine Pflicht und Aufgabe erfüllt und dadurch jemanden verletzt, zum Beispiel, wenn man jemanden zurechtweisen muss. Man wird sensibel, aber trotzdem muss man manchmal so handeln.

So wie Krishna Arjuna letztlich in der Bhagavad Gita rät, den Krieg zu führen. Ganz zum Schluss sagt Krishna: „Jetzt mache was du willst. Ich habe dir alle Kriterien gesagt.“ Arjuna entscheidet sich zum Wohl der anderen; um das Unrecht zu beseitigen und die Tyrannei zu entfernen, will er seiner Aufgabe als Krieger gerecht werden. Außerdem weiß er, dass er nur Instrument ist in den Händen des Göttlichen. Trotzdem, während des Kämpfens und nach dem Krieg, den er gewonnen hat und in dem so viele Menschen gestorben sind, hat es ihm weh getan. Er hat das Königreich zusammen mit seinen Brüdern noch eine Weile regiert, aber ihre Stellung als unbeschränkte Herrscher über die damals bekannte Erde nicht genossen. Sie haben dafür gesorgt, dass eine funktionierende Verwaltung eingesetzt wurde, dass das Land wieder erblühte, die Wirtschaft wieder in Gang kam, ein würdiger Nachfolger gefunden wurde, dann sind sie in die Einsamkeit gegangen und haben meditiert.

Je länger und intensiver wir auf dem spirituellen Weg sind, desto mehr spüren wir, wenn wir einmal nicht so freundlich handeln. Natürlich muss man sich manchmal auch durchsetzen, zum Wohl einer Sache auch einmal jemanden zurechtweisen, im Extremfall mag es sogar sein, wenn man in einer Situation ist wie Arjuna oder Soldaten, dass es notwendig wird, zu Gewalt zu greifen, wobei aber immer abzuwägen ist, ob es wirklich notwendig ist und ob es keinen anderen Weg gibt.

Aber selbst jede Form von Nichteinhalten von Ahimsa (Gewaltlosigkeit) spürt ein spiritueller Aspirant in seinem eigenen Herzen. Notfalls muss man auch das in Kauf nehmen. Aber im Normalfall macht uns der Yogaweg und das Einhalten der Yamas (Nichtverletzen, Wahrhaftigkeit, Nichtstehlen, Enthaltsamkeit und Aufgabe von Gewinnsucht) und Niyamas (Umgang mit sich selbst) glücklich und freudevoll, indem wir anderen Gutes tun, Gutes wünschen, für andere leben. Und langfristig gibt es uns alles, was wir brauchen – auch Erfolg. Wenn jemand einen sehr starken inneren Ehrgeiz hat, den er nicht loswerden kann, dann muss er dafür sorgen, dass er auf ethische Weise im Beruf Erfolg hat. Das ist die sattwigste (reinste) Art und Weise, Ehrgeiz zu befriedigen.

Es macht auch keinen Unterschied, ob wir eine Verletzung der Yamas und Niyamas selbst begehen oder nur begünstigen und zulassen. Wenn neben uns ein Mensch gequält wird und wir unternehmen nichts dagegen, ist es Himsa (Verletzen) und wir haben Anteil daran. Unrecht geschehen zu lassen, ist auch eine Form von Himsa und macht uns letztendlich unglücklich.

Die häufigsten Motive, unethisch zu handeln, sind Gier, Ärger und Täuschung.

Man will mehr Geld oder den Posten eines anderen haben, also wird man gewalttätig, lügt, stiehlt, lässt sich bestechen, besticht jemand anderen, usw.. Gier ist sicherlich einer der verwerflichsten Gründe.

Auch aus Ärger macht der Mensch alles Mögliche. Ärger ist eine Ursache für negative Gedanken, Emotionen und Gefühle. In der Bhagavad Gita sagt Arjuna sinngemäß: Zuerst kommt der Wunsch. Der Wunsch führt zu Ärger. Aus Ärger kommt Täuschung, Verblendung und Vergessen, und dann tut der Mensch Dinge, die er normalerweise niemals tun würde.

Es gibt sinnlosen Ärger, aber auch gerechten Zorn. Das erlebe ich oft unter spirituellen Aspiranten. Sie nehmen oft in Kauf, einen anderen zu verletzen, nicht aus Gier oder reinem Ärger, sondern aus Gerechtigkeitsdenken heraus. Wenn wir etwas als ungerecht empfinden, sind wir oftmals bereit, viel zu tun. Wenn wir etwas für richtig halten, trampeln wir auch über die Gefühle von anderen Menschen rücksichtslos weg. Das ist eine große Gefahr. Das war zum Beispiel hier im Ashram so. Anfangs hatten wir keine Regeln bezüglich Arbeitszeit, Urlaub usw. Das hat aber zu Ungerechtigkeit geführt. Alle Mitarbeiter sind hochidealistische Menschen, aber schließlich gab es welche, die 25 Stunden in der Woche gearbeitet haben und andere 50 Stunden und mehr. Ähnlich mit dem Urlaub. Auf Dauer war das nicht aufrechtzuerhalten, so dass wir nach und nach immer mehr Regeln einführen mussten, weil das Gerechtigkeitsgefühl gestört wurde und manche Mitarbeiter sich geärgert haben.

Und schließlich Täuschung. Selbst wenn wir etwas nur aus Täuschung, Verblendung tun, führt uns das zu Unwissenheit und Schmerz. Es gehört sehr viel Sensibilität dazu, überhaupt zu merken, wann wir jemand anderem wehtun. Und noch mehr Selbstdisziplin erfordert es, einem anderen selbst dann nicht wehzutun, wenn er uns wehtut. Und vor allen Dingen wollen wir nicht das Radfahrerprinzip anwenden, also nicht unseren Frust an einem anderem Menschen auslassen, wenn uns jemand nervt. Solche Handlungsmuster können unbewusst ablaufen oder aus Täuschung heraus. Man merkt es gar nicht. Wir brauchen also eine gewisse Sensibilität.

Es spielt auch keine Rolle, wie ausgeprägt unsere Handlungen oder Gedanken sind, wenn wir den ethischen Grundsätzen entgegenhandeln. Ob wir nur leicht dagegen verstoßen, mittelmäßig oder vehement, letztlich lässt Patanjali keine Ausreden und Entschuldigungen gelten.

Die Schwierigkeit mit all diesen hehren, hohen Grundsätzen ist, dass man sie nicht immer ganz in die Tat umsetzen kann, weil wir eben noch nicht selbstverwirklicht sind. Wir sind noch nicht vollkommen. Aber wir bemühen uns. Und man darf sich auch kein schlechtes Gewissen machen, wenn einem die Umsetzung nicht immer perfekt gelingt. Natürlich sollte man niemanden umbringen. Wenn man dann ein schlechtes Gewissen hat, ist es sogar gut. Man sollte ein schlechtes Gewissen haben, wenn man jemanden umbringt, etwas stiehlt oder jemanden betrügt. Aber ich nehme an, solche Sachen sind bei Yogis normalerweise weniger das Problem.

Einmal war ich allerdings total schockiert. Bei früheren Vorträgen habe ich nie extra erwähnt, dass Nichtstehlen auch ganz banal bedeutet, nicht in einem Geschäft oder Kaufhaus etwas in die Tasche zu stecken und ohne zu bezahlen hinauszugehen. Eine Mitarbeiterin in einem Zentrum – das ist schon lange her, nicht hier – hatte plötzlich neue Kleider, die mir auch nicht so billig erschienen. Damals in den Sivananda–Zentren haben die Mitarbeiter ganz ehrenamtlich gearbeitet, das heißt, sie bekamen kein Geld. Wenn ein Mitarbeiter etwas kaufen wollte, musste er den Leiter fragen, ob er das Geld dafür haben kann beziehungsweise es wurde in der Mitarbeiterbesprechung diskutiert, ob man sich eine neue Hose kaufen darf oder nicht.

Das fand ich eigentlich nicht so gut. Deshalb habe ich schon in den Sivananda-Zentren ein Taschengeld eingeführt, so dass jeder sich seine Zahnbürste, sein T-Shirt oder ein Buch kaufen konnte, wenn er wollte. Jedenfalls habe ich die Mitarbeiterin gefragt, woher sie die Kleider hat. Da hat sich herausgestellt, dass sie sie aus einem Kaufhaus einfach mitgenommen hat. Ich habe mir dann überlegt, was man jetzt in der Situation machen sollte. Zurückgeben erschien mir nicht einfach, die Sachen waren ja getragen und konnten nicht mehr verkauft werden. Jedenfalls hat sie mir versprochen, so etwas niemals mehr zu tun. Und ich habe ihr versprochen, wenn sie mal Kleider kaufen will, soll sie es mir sagen, dann bekommt sie auch das Geld dafür. Das war der Anlass, dass ich das Taschengeld eingeführt habe. Auch bei uns hier im Haus verschwinden im Laufe der Zeit auf unerklärliche Art und Weise Decken, Kissen, Bücher, manchmal auch Bargeld.

Es gibt da eine lustige buddhistische Geschichte von einem Dieb. Irgendwann hatte er keine Lust mehr, seinen Lebensunterhalt durch Diebstahl zu fristen und er wurde Mönch. Nach einer Weile fiel den Mönchen in der Klostergemeinschaft auf, dass einige von ihnen plötzlich einen Teil ihrer Sachen nicht mehr hatten, während andere Mönche diese Sachen irgendwo in ihrer Zelle oder ihrem Bündel fanden. Schließlich haben sie den Dieb auf frischer Tat ertappt und ihn gefragt, was er denn da mache und warum. Er antwortete: „Ich kann es irgendwie nicht loslassen. Stehlen gehört zu meiner zweiten Natur. Als Dieb klaue ich die Sachen, aber als Mönch verteile ich sie dann weiter.“ Die Geschichte erzählt jetzt nicht weiter, zu welcher Lösung die klösterliche Gemeinschaft gekommen ist!

Also, Nichtstehlen ist auch ganz wörtlich zu nehmen. Ein spiritueller Aspirant sollte nicht stehlen. Selbst wenn man mit einem Seminar nicht ganz zufrieden ist, ist das kein Grund, aus dem Seminarhaus ein Kissen, eine Decke oder ein Buch oder sonst etwas zu entwenden.

Also, hehre Ideale sind in voller Radikalität nicht immer zu verwirklichen, weil wir Emotionen haben, durchaus auch Täuschungen unterliegen oder manchmal nicht die Kraft haben, selbst etwas zu ändern. Manchmal stehen die Ideale auch miteinander im Konflikt, wie zum Beispiel der Konflikt zwischen Nichtverletzen und Wahrhaftigkeit.

Angenommen, eine Frau stürzt hier rein und sagt, hinter mir ist jemand her, der will mich erstechen. „Ja, versteck‘ dich dort hinter der Tür“ und wir ziehen noch schnell den Schlüssel ab. Kurz danach stürmt ein Mann mit einem großen Fleischermesser herein: „Wo ist diese Frau?“ Satya, Wahrhaftigkeit, wäre jetzt: „Dort hinten, hinter der Tür. Hier ist auch der Schlüssel.“ In dem Fall wäre eine Notlüge angebracht: „Ja, die ist dort nach hinten gelaufen. Sie muss schon bei den Teichen sein“. Gut, dann rennt er dort nach hinten. Und was ist die nächste Aufgabe? Erst einmal die Frau zu fragen, was überhaupt los ist und vielleicht als nächstes die Polizei zu rufen. Und im schlimmsten Fall, wenn er zurückkommt, das Messer gezückt hält und auf die Tür zustürmt, was ist dann meine Aufgabe? Ihn irgendwie zu überwältigen. Ich weiß nicht, ob ich es könnte, aber es wäre meine Aufgabe.

Oft wird heute behauptet, die Kinder seien so viel gewalttätiger als früher. Ich bin da nicht so überzeugt. Wenn ich von meiner Schulzeit ausgehe… – mindestens in der Grundschule gab es in jeder Pause eine Keilerei. Allerdings waren Waffen nicht so üblich wie anscheinend heutzutage. Ich war immer gegen jede Gewalt. Ich konnte nicht mal eine Fliege töten. Eigentlich erst seit ich für Yogazentren verantwortlich geworden bin, habe ich angefangen, Insekten zu töten.

Zum Beispiel hatten wir in einem Zentrum Kakerlaken. Oder manchmal in der Küche jede Menge Fliegen, obwohl wir natürlich auch Fliegengitter überall angebracht haben. Aber weil ständig Menschen aus- und eingehen, reicht das nicht. So muss man halt Fliegenfänger verwenden. Jedenfalls habe ich in meiner Schulzeit den Trick herausgefunden, innerhalb kürzester Zeit jemanden im Polizeigriff zu haben, ihm den Arm umzudrehen und die Hand hinten auf den Rücken zu drücken – man tut dem anderen nicht weh, aber er ist trotzdem besiegt. So brauchte ich mir nichts gefallen zu lassen, brauchte aber auch niemanden zu verletzen. Solche Methoden, sich zu verteidigen, ohne den anderen wirklich zu schädigen, kann man auch probieren, wenn man in einer Gegend wohnt, wo viel Gewalt herrscht, wo man sich manchmal auch physisch zur Wehr setzen muss.

Die nächsten Verse sind wunderschöne Erklärungen, was passiert, wenn man die betreffende positive Eigenschaft entwickelt, wohin es führt, wenn wir wirklich voll darin verankert sind. Das sind durchaus Siddhis (übernatürliche Kräfte), die sich da manifestieren.

35. Ahimsâ-pratishthâyâam tat-samnidhau vaira-tyâgah     Zurück zum zweiten Kapitel

Ahimsâ = Nichtverletzen, Gewaltlosigkeit; pratishthâyâm = feste Verankerung; tat samnidhau = in seiner (des Yogi) Nähe; vaira = Feindseligkeit; tyâgah = Aufgeben

Wenn Gewaltlosigkeit fest begründet ist, verschwindet Feindschaft in der Gegenwart des Yogis.

Wenn wir selbst Liebe und Mitgefühl entwickeln, begegnet uns keine Feindschaft mehr.

Das ist auf zwei Ebenen zu interpretieren:

Das eine ist die wörtliche Bedeutung. Wenn wir selbst Frieden ausstrahlen, spüren das auch die anderen und werden weniger mit uns streiten. Ein sanftmütiger, freundlicher Mensch trifft auf weniger Feinde. Es geht sogar soweit, dass dort, wo er ist, sich die Menschen besser vertragen.

Ich kannte einmal einen Menschen, der die Sanftmut in Person war. Wenn er in ein Yogazentrum kam, waren plötzlich alle ganz friedlich. Alle Streitereien hörten auf. Sowie er weg war, fingen sie wieder an, sich zu streiten. Es ist also nicht die wahre Lösung für alles, dass einer da ist, der vollkommene Gewaltlosigkeit ausstrahlt. Man muss Probleme auch noch anders angehen.

Das könnt ihr auch ausprobieren. Angenommen, ihr merkt irgendwo, dass Menschen sich streiten. Dann könnt ihr einfach versuchen, ihnen positive Gedanken zu schicken. Ich kann mich an einen Vorfall in einer U-Bahn erinnern, wo ich selbst auch nicht wusste, was ich machen sollte. Jemand fing eine Schlägerei an und es war offensichtlich, der eine war unterlegen und die anderen überlegen. Die erste Sache, die ich gemacht habe, hat glücklicherweise geholfen. Ich habe aus meinem ganzen Herzen „Om Tryambakam“ (Mantra für Frieden, Wohlwollen, Heilung) hingeschickt – und es hat aufgehört. Ich brauchte nicht mehr zu machen. Falsch wäre es, als Einzelner einzugreifen. Was man machen sollte, ist, die anderen Passagiere anzusprechen und zu sagen, da müssen wir jetzt gemeinsam etwas tun. Und wenn dann zehn der Passagiere aufstehen und dorthin gehen, dann wird es auch aufhören. Wenn man als Einzelner hingeht und dem Schwächeren helfen will – man selbst ist ja typischerweise nicht sehr erfahren in solchen Sachen –, kann man nicht viel machen. Das erste wäre also, Gedanken des Friedens zu schicken und wenn das nicht ausreicht, die anderen Fahrgäste zu mobilisieren. Das wirkt im Kleinen wie im Großen.

Wenn man über die Machtergreifung Hitlers diskutiert, hört man oft das Argument: „Ja, was hätte man denn machen sollen?“ Als Einzelner hätte man wahrscheinlich nicht viel machen können, aber sicher in der Masse. 1919 zum Beispiel, kurz nach Beginn der Weimarer Republik, machte ein Mensch namens Kapp einen Putsch und wurde zum Diktator. Am nächsten Tag gab es einen Generalstreik in ganz Deutschland, alle Räder standen still. Innerhalb weniger Tage war der ganze Spuk zu Ende. Wenn ausreichend Menschen nicht wollen, kann alles abgehalten werden. Aber auch als Einzelner können wir der Gewalt durch Gewaltlosigkeit begegnen, wie auch Gandhi das gezeigt hat.

Auf einer zweiten Ebene sehen wir aber, dass den großen Wohltätern der Menschheit zum Teil sehr wohl Feindschaft entgegenschlug. Jesus wurde sogar ans Kreuz geschlagen. Gegen Buddha gab es mehrere Mordanschläge. Zum Schluss ist er ja auch an vergiftetem Schweinefleisch gestorben. Das könnte natürlich auch eine Warnung sein, kein Fleisch zu essen. Buddha hat gelehrt, man soll keine Kreatur töten, aber wenn man irgendwo zu Gast ist, soll man das essen, was einem vorgesetzt wird, und wenn man Fleisch vorgesetzt bekommt, darf man es nicht ablehnen. Als Buddhist ist man kein bedingungsloser Vegetarier. Auf der anderen Seite müssten in einem buddhistischen Land alle Vegetarier sein, weil ja niemand ein Tier töten darf. Nur wenn Buddhisten bei Nicht–Buddhisten zu Gast sind und es Fleisch gibt, dann dürfen sie notfalls Fleisch essen, denn gerade ein Mönch hat insbesondere die Aufgabe, keine persönlichen Wünsche zu äußern bezüglich Essen. Trotzdem, ich halte hier die Yogaaussage für besser: Man isst grundsätzlich kein Fleisch, ob es einem angeboten wird oder nicht. Jedenfalls ist Buddha an einem Stück vergiftetem Schweinefleisch gestorben und jemand muss es vergiftet haben.

Trotzdem ist der Aphorismus (zugespitzter Denkspruch) von Patanjali korrekt. Denn eine andere Übersetzung lautet:

Wenn Gewaltlosigkeit fest begründet ist, trifft der Yogi auf keine Feindschaft.

Das heißt, für den Yogi ist es keine Feindschaft, er empfindet es nicht als solche.

Als Jesus ans Kreuz geschlagen wurde, sagte er: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“ Er hat nicht empfunden: Da sind Menschen, die mir gegenüber feindselig gesonnen sind. Sondern er hat Menschen gesehen, die aus Unwissenheit etwas Schlechtes tun. Außerdem kannte er als großer Yogi das Gesetz des Karma und wusste, sie werden anschließend leiden, weil sie ihn ans Kreuz schlagen. Deswegen hatte er Mitgefühl mit ihnen.

Von Swami Sivananda gibt es die Geschichte, wo ihn jemand beim Abendsatsang (gemeinsame Meditation und Mantrasingen) mit einer Axt ermorden wollte. Der erste Schlag ging auf den Turban und glitt dann seitlich ab. Swami Sivananda hob nicht die Hand, denn ein Swami darf sein eigenes Leben nicht verteidigen. Der Assistent von Swami Sivananda, das war damals Swami Vishnu, ist dem Attentäter in den Arm gefallen und hat letztlich das Leben von Swami Sivananda gerettet, denn die anderen waren zu weit weg und außerdem wie gelähmt in der Situation – es ist nicht üblich, dass in einer Mönchskolonie jemand plötzlich mit einer Axt um sich schlägt, daher wussten die Mönche auch nicht, wie sie reagieren sollten.

Aber Swami Vishnu war jung, flink, stark, Hatha Yogi und ist dem Angreifer in den Arm gesprungen. Und das erste, was Swami Sivananda gesagt hat, war: „Swami Vishnu, mäßige deinen Zorn!“ Die erste Sorge, die Swami Sivananda hatte, war, dass Swami Vishnu dem, der ihn fast umgebracht hatte, irgendein Leid zufügt. Er hat ihm natürlich auch nicht gesagt: „Gib ihm die Axt wieder, damit er mich umbringen kann“, sondern er sagte: Tue ihm keine Leid an. Nachher sorgte er auch noch dafür, dass der Angreifer nicht ins Gefängnis kam, sondern nach Hause geschickt wurde. Er blieb ein spiritueller Aspirant und Schüler von Swami Sivananda. Dieses Ereignis hat den Beinahe-Mörder gründlichst transformiert. Er hat nämlich gemerkt: Das ist tatsächlich ein Heiliger; nicht ein Scheinheiliger, sondern ein echter Heiliger.

Jemand, der wirklich in Liebe zerfließt, allen Wesen Liebe und Wohlwollen entgegenbringt, empfindet keine Feindschaft. Selbst wenn er umgebracht wird, empfindet er nicht, dass es aus Feindschaft geschieht. Eine solche innere Einstellung ist möglich, und zwar auch im Kleinen, in kleinen Schritten. Je mehr wir Liebe und Mitgefühl empfinden und in die Tat umsetzen, umso weniger spüren wir Feindschaft von anderen und umso weniger haben wir das Gefühl, dass uns jemand etwas Schlechtes will. Wenn wir hingegen das Gefühl haben, viele Menschen mögen mich nicht, handeln absichtlich schlecht mir gegenüber, dann ist das ein Zeichen, dass man selbst viel Feindschaft im Herzen hat.

36. Satya-pratishthâyâm kriyâ-phalâshrayatvam     Zurück zum zweiten Kapitel

Satya = Wahrhaftigkeit; Pratisthâyâm = durch feste Verankerung; kriyâ = Handlung; phala = Frucht, Ergebnis; âshrayatvam = eine Grundlage bilden

Wenn Satya, Wahrhaftigkeit, fest begründet ist, erlangt der Yogi das Ergebnis der Handlung ohne zu handeln.

Mit anderen Worten, unsere Gedanken werden so stark, dass die Dinge allein durch unsere Gedanken geschehen.

Die meisten Menschen bauen ein riesiges Lügengeflecht um sich herum auf. Sie sagen etwas, denken etwas anderes und handeln weder nach dem einen noch nach dem anderen. Dadurch entsteht eine große innere Spannung, man verzettelt sich, und der einzelne Gedanke ist sehr schwach.

Im Rahmen der Kleshas (Unwissenheit, Ego, Zuneigung, Abneigung, Angst) hatten wir davon gesprochen, dass man ein bestimmtes Selbstbild von sich hat. Gleichzeitig denkt man, andere haben ein anderes Bild von einem und als drittes will man ein anderes Selbstbild nach außen schaffen als man glaubt, dass die anderen von einem haben. Das führt zu Schwäche. Zu sich selbst zu stehen, sich selbst besser kennen zu lernen, authentisch zu sein, gibt Stärke und Kraft. Das ist sogar in der Welt der Politik möglich. Von Bismarck heißt es, er habe offen und klar gesagt, was er wollte. Das hat ihm niemand geglaubt, denn es war in dieser Diplomatenwelt unvorstellbar und außergewöhnlich, dass jemand direkt ist – deshalb war er so erfolgreich. Ob er tatsächlich immer vollständig offen und direkt war, ist zu bezweifeln, aber relativ oft hat er sich diplomatisch ausgedrückt, also jedenfalls nicht gelogen. Das gibt eine Stärke des Geistes.

Und das ist durchaus wörtlich zu nehmen. Wenn wir gewöhnt sind, uns immer an die Wahrheit zu halten und dann einmal versehentlich die Unwahrheit sagen, ist unser Geist so stark, dass diese Unwahrheit eintritt.

In der indischen Mythologie gibt es darüber schöne Geschichten, wie zum Beispiel die vom Sohn eines Asketen, der in einer Einsiedelei im Wald lebte. Die meisten Einsiedler hatten zwar eine Familie, aber sie lebten abgeschieden, waren mit einfachen Dingen zufrieden und meditierten viel. Dieser Meister war eines Tages in tiefe Meditation versunken. Da kam König Parikshit vorbeigeritten. Er hatte einen langen Ritt hinter sich und wollte etwas zu essen und zu trinken. In Indien gilt das Gesetz der Gastfreundschaft gegenüber jedermann und dem König gegenüber natürlich in besonderem Maße. Der König klopfte also an und als keine Antwort kam, öffnete er die Tür und sah dort jemanden in Meditation sitzen.

Er rief: „Bitte, großer Weiser, ich brauche etwas zu essen und zu trinken, ich bin ganz schwach und muss heute noch weit reiten.“ Keine Antwort. „He, ich habe mit dir gesprochen, nun sag‘ doch etwas!“ Als immer noch keine Antwort kam, schüttelte er ihn. Der Asket blieb immer noch ungerührt sitzen. Nun wurde der König wütend und dachte: Das ist kein Heiliger, sondern er ist nur zu faul oder zu geizig, mir etwas zu geben und tut deshalb so, als würde er meditieren, denn so lange und vertieft kann jemand unmöglich ruhig sitzen. Erbost nahm der König eine Schlange, legte sie dem Einsiedler um den Hals und ging weiter. In diesem Augenblick kam der Sohn des Weisen von hinten her und sah das. Er war noch jung und daher zu schüchtern, den König anzusprechen. Er war von seinem Vater dazu erzogen worden, niemals auch nur eine einzige Lüge zu sagen und hatte in seinem ganzen Leben bisher immer nur die Wahrheit gesagt. Und deshalb waren seine Gedanken unheimlich stark und jedes Wort, das er sagte, musste zur Wahrheit werden. Er sagte: „Dieser König wird in sieben Tagen an einem Schlangenbiss sterben“. Nach ein paar Stunden kam der Weise aus seiner Meditation heraus, sah die Schlange um seinen Hals und nahm sie vorsichtig ab. Es heißt, einem Weisen in der Meditation tun Schlangen und wilde Tiere nichts zuleide. Das ist die Kraft von Ahimsa (Gewaltlosigkeit, Nichtverletzen). Wenn jemand fest in Ahimsa verankert ist, tun ihm Tiere bestimmt nichts.

Auch von Buddha gibt es solche Geschichten. Die Hauptneuerung Buddhas in Indien war weniger die Meditation oder die Philosophie oder die buddhistischen Praktiken – das war alles in Indien bereits bekannt – sondern, dass er Menschen in Massen zu Mönchen und Nonnen gemacht hat. Das war außergewöhnlich. Es gab zwar schon einige Asketen, aber selbst diese waren meist verheiratet. Es gab auch ein paar Mönche, aber wenige. Buddha jedoch hat Tausende zu Mönchen gemacht, was natürlich viele andere Menschen nicht schätzten. Die Eltern mochten es zum Beispiel nicht, dass ihre Kinder zu Mönchen wurde, der Gattin passte es nicht, dass der Ehemann zum Mönch wurde, der Mann wollte nicht, dass die Frau zur Nonne wurde usw., und so hat Buddha aus diesem Grund einige Feindschaft auf sich gezogen. Einer seiner Feinde hetzte schließlich einen wilden Elefanten auf ihn, damit er ihn niedertrampeln sollte. Als der Elefant sich näherte, hob Buddha nur die Hand zum Segen, worauf der Elefant sich vor ihm verneigte. Ein anderes Mal wurden wilde Tiger auf ihn losgelassen und auch sie verneigten sich vor Buddha. Also bei Tieren wirkt die Kraft von Ahimsa (Gewaltlosigkeit, Nichtverletzen) absolut. Menschen können diese Kraft von Ahimsa eines Weisen vielleicht nicht ganz so spüren und ihn unter Umständen trotzdem verfolgen, aber der Weise fühlt ihre Feindseligkeit nicht.

Gut, der Weise kam also aus der Meditation, legte die Schlange ab und fragte seinen Sohn: „Was ist denn passiert? Was ist mit der Schlange los und wie kommt sie hierher?“ Der Sohn antwortete: „Der König war da. Er hat dir diese Schlange um den Hals gelegt und bewusst in Kauf genommen, dass du daran stirbst. Dem habe ich’s aber gezeigt. Er wird jetzt in sieben Tagen an einem Schlangenbiss sterben.“ „So?“ „Ja, ich habe gesagt, dass er es wird und du weißt selbst, wenn ich etwas sage, wird es geschehen.“ „Aber der König ist doch insgesamt ein gerechter König und mir ist ja auch nichts passiert. Wir hätten ihn ja auch bewirten sollen und da ich es nicht gemacht habe, hättest du es tun sollen. Ich habe leider nichts von seiner Anwesenheit gemerkt, das tut mir leid. Der König hat sich halt geärgert. Er ist kein Weiser, deshalb hat er seine Emotionen nicht so unter Kontrolle. Aber wir, die wir Asketen sind, wir sollten unsere Emotionen vollständig unter Kontrolle haben.“

Worauf der Sohn sagte: „Ja, ich seh’ es ja ein, es war nicht richtig von mir, aber du weißt, es wird geschehen. Ich kann es nicht mehr zurücknehmen.“ Schweren Herzens ging also der Weise zum König und sagte: „Oh König, ich muss dir leider sagen, du wirst in sieben Tagen an einem Schlangenbiss sterben.“ Der König fragte ihn, warum. Der Weise erklärte es ihm und entschuldigte sich: „Tut mir leid, aber es ist leider nicht mehr zu ändern.“ Auch der König erkannte, dass er sich nicht richtig verhalten hatte, aber auch er konnte es nicht rückgängig machen. Er gab den Auftrag, ein neues Haus auf Pfählen aus ganz neuem Material zu errichten. Alle Baumaterialen wurden genau überprüft, damit ja keine Schlange irgendwo verborgen sein und auch keine hochgehen konnte. An diesem Haus wurde sieben Tage lang gebaut.

Gleichzeitig sorgte der König aber auch auf anderer Ebene vor und erkundigte sich: „Was ist der schnellste Weg, innerhalb weniger Tage zur Verwirklichung zu kommen, falls ich doch sterbe?“ Darauf hieß es: „Der schnellste Weg zur Selbstverwirklichung ist es, Geschichten von Gott zu hören und den Lobpreis Gottes zu singen.“ Daraufhin lud der König Sukadev ein, den Sohn von Vyasa, der ihm die Bhagavatam erzählte, die Geschichten der Inkarnationen Vishnus und insbesondere Krishnas enthält. Kurz vor Ende der sieben Tage bezog der König sein neues Haus. Oben setzte er sich hin. Als ihm Essen gereicht wurde, war in einer Frucht eine Schlange, die ihn biss und er starb daran. Aber da er in der Zwischenzeit den Lobpreis Gottes gesungen hatte und die Geschichten von Krishna gehört hatte, kam er zu höheren Bewusstseinsebenen und erreichte die Befreiung. Letztlich war das Ganze dann ein Segen für ihn, denn in den sieben Tagen konnte er sich vorbereiten und Abschied nehmen.

Wenn wir wahrhaftig sind, bekommen unsere Gedanken eine sehr starke Kraft und unsere Worte auch. In Arabien gibt es ein Sprichwort: „Bevor du etwas sagst, überprüfe erstens, ob es wahr ist, zweitens, ob es freundlich ist und drittens, ob es notwendig ist. Und nur dann, wenn es wahr, hilfreich und notwendig ist, dann sage etwas.“ Wir sollten keine Unwahrheit sagen, aber auch keine Wahrheit, die andere kränkt. Wir sollten überflüßiges Geschwätz vermeiden, ohne deshalb gleich zum Einsiedler zu werden.

Satya, Wahrhaftigkeit soll gemildert sein durch Ahimsa, Nichtverletzen. Wenn verschiedene ethische Prinzipien miteinander in Konflikt stehen, heißt es immer: Ahimsa parama dharama – das Nichtverletzen ist die höchste Pflicht. Aber Nichtverletzen ist relativ. Eine Mutter muss beispielsweise ihrem Kind auch ab und zu mal etwas verbieten, es erziehen. Für das Kind ist es verletzend, wenn es einen Abend Fernsehverbot bekommt oder keinen Nachtisch, oder sonst eine „Strafe“, aber zum Wohl des Kindes kann es notwendig sein, so vorzugehen. Also manchmal muss zum Wohl eines langfristigen Ahimsa (Nichtverletzen) ein kurzfristiges Himsa (Verletzen) in Kauf genommen werden.

37. Asteya-pratishthâyâm sarva-ratnopasthânam     Zurück zum zweiten Kapitel

Asteya = Nichtstehlen, rechtmäßige Aneignung; pratishthâyâm = durch feste Verankerung; sarva = alles; ratna = kostbare Dinge, Edelsteine; upasthânam = in Erscheinung treten

Wenn Nichtstehlen fest begründet wird, kommt aller Reichtum zu dem Yogi.

Solange wir anderen etwas wegnehmen, sind wir Bettler. In dem Moment, wo wir nichts mehr klauen, auch nicht mehr unbedingt etwas haben wollen, bekommen wir alles, was wir brauchen. Das ist auch das Gesetz der Entsagung. Es gibt zwar auf einer niedrigeren Ebene im Yoga die vier Wünsche – Kama (Sinnesbefriedigung), Artha (Wohlstand), Dharma (Pflichterfüllung, Selbstentfaltung) und Moksha (Befreiung) –, die der Mensch im Laufe seines Lebens hat und auch befriedigen soll. Auf dieser Ebene soll man sich durchaus auch darum kümmern, die Menge an Geld, finanzieller Absicherung, äußerer Sicherheit usw. zu bekommen, die man braucht, um den Geist frei zu haben für Spiritualität. Aber je mehr wir unsere Wünsche reduzieren, je weniger Gier wir haben, je mehr wir entsagen, desto mehr kommt alles, was wir brauchen, hinter uns hergerannt. Und solange wir Dinge wegnehmen, die uns nicht gehören, schaffen wir natürlich auch negatives Karma, so dass uns ebenfalls gewisse Sachen weggenommen werden – auf der materiellen oder emotionalen Ebene. Hier müssen wir sehr aufpassen.

Vorher habe ich erwähnt, dass Asteya, Nichtstehlen, zum einen sehr wörtlich zu nehmen ist, also nichts aus Kaufhäusern usw. mitzunehmen. Der Begriff ist aber weitaus umfassender. Wenn man zum Beispiel feststellt, der Nachtisch reicht nur für zwanzig Personen und man ist der Fünfzehnte in der Reihe, dann heißt Nichtstehlen, sich nur eine kleine Portion zu nehmen, wenn hinter einem noch fünf Leute warten. Oder nicht aus dem Kühlschrank das letzte Stück von etwas wegzunehmen, das andere gerne haben. Nichtstehlen bedeutet auch, sich nicht mit fremden Federn zu schmücken, sich nicht geistiges Eigentum von anderen anzueignen.

Wenn wir darin fest verankert sind, stehlen wir nicht nur nicht, sondern im Gegenteil, wir teilen mit anderen. Alle diese Yamas (Nichtverletzen, Wahrhaftigkeit, Nichtstehlen, Enthaltsamkeit und Aufgabe von Gewinnsucht) sind nämlich nicht nur negativ in der Verneinung zu verstehen, wie zum Beispiel Nichtstehlen, sondern in logischer Folge auch im positiven Sinn als Teilen, Geben. Je mehr wir anderen geben, umsoumso mehr bekommen wir. Das ist das Lakshmi-Prinzip.

Lakshmi (Göttin des Wohlstands und der Schönheit) hat zwei nach oben geöffnete Hände und zwei Hände nach unten. Die zwei Hände nach unten symbolisieren: sie gibt, gibt und gibt. Und zwei Hände nach oben: man empfängt, empfängt und empfängt von ihr. Je mehr wir geben, tun für andere, umso mehr bekommen wir. Wie auch Swami Vishnu gerne gesagt hat: Die beste, sicherste Investition sind Spenden und gute Werke. Beides bekommen wir karmisch wieder zurück. Alles andere verlieren wir, zum großen Teil schon in diesem Leben – es gab genügend Wirtschaftskrisen und Börsencrashs –, aber spätestens im Moment des Todes. Aber wenn wir geben, bekommen wir alles, was wir brauchen.

Fragen zur Meditation - Göttin Lakshmi
Lakshmi

38. Brahmacharya-pratishthâyâm vîrya-lâbhah     Zurück zum zweiten Kapitel

Brahmacharya = sexuelle Mäßigung, Enthaltsamkeit; pratishtâyâm = durch feste Verankerung; vîrya = Lebenskraft; lâbhaha = Gewinn

Wenn Brahmacharya, sexuelle Enthaltsamkeit, fest begründet ist, wird kraftvolle Vitalität erlangt.

Brahmacharya bedeutet in verschiedenen Lebensumständen etwas anderes. Wenn wir in einer festen Partnerschaft leben, heißt es nicht, dass wir ab heute sexuell enthaltsam leben. Das wird der Partner nicht mögen. Wir müssen auch das Prinzip von Ahimsa (Nichtverletzen) berücksichtigen. Aber in einer Partnerschaft heißt Ahimsa bzw. Brahmacharya letztlich Treue. Aber es kann auch heißen, dass man die sexuelle Energie stärker sublimiert, zum Beispiel, wenn man einmal eine Weile vom Partner getrennt ist oder die Frau gerade schwanger ist oder das Kind gerade geboren worden ist. Meistens hat eine Frau dann eine Weile keine Lust auf Sexualität. Und dann ist es eine Möglichkeit, diese Energie vollständig zu sublimieren, Ojas (spirituelle Energie) zu erzeugen.

Es gibt fünf verschiedene Manifestationen von Prana (Lebensenergie), fünf Prana Vayus, die alle auf die eine oder andere Art und Weise sublimiert werden können:

5 Prana Vayus (Wie gewinnt man spirituelle Energie):

1. Atemenergie (Atemanhalten)
2. Ausscheidungs- und sexuelle Energie (Anusschließmuskeln und Geschlechtsmuskeln zusammenziehen)
3. Verdauungsenergie (Bauchverschluss, Feueratmung, Bauchmuskelbewegung, Schnellatmung)
4. Energie für Herzkreislauf und Skelettmuskulatur (Yogastellung halten, in der Meditation still sitzen)
5. Energie für Nerven, Hormonsystem, Sprache, Innerkörperliches (Tiefenentspannung, Mantrasingen, Meditation)

Prana ist allgemein der Begriff für Lebensenergie, gleichzeitig ist Prana Vayu aber auch eine der fünf Arten von Prana. Prana Vayu ist die Energie hinter der Atmung. Prana Vayu können wir zum Beispiel sublimieren, wenn wir Pranayama üben. Beim Luftanhalten wird der Reflex des Ausatmens unterdrückt und so sublimiert. Hinter dem Atem ist der Überlebensinstinkt. Wenn wir Prana Vayu durch Atemanhalten sublimieren, wandeln wir das physiologische Prana in Ojas, spirituelle Energie, um und auf einer höheren Ebene sublimieren wir gleichzeitig den Überlebensinstinkt; das heißt, wir haben ein Herz für andere, nicht nur für uns. Gleichzeitig regeneriert sich Prana Vayu mit jedem Atemzug und wird harmonisiert.

Das zweite ist Apana Vayu, die Energie hinter der Ausscheidung und der Sexualität. Sie hat ihren Sitz in den unteren Körperteilen und wird sublimiert durch Mulabandha (Anusschließmuskeln und Geschlechtsmuskeln zusammenziehen) und Ashwvini Mudra (Beckenbodenmuskeln mehrmals schnell zusammenziehen). Apana Vayu steht auch für Arterhaltung, sich um Familie und Kinder kümmern. Durch Sublimierung dieser Energie gewinnen wir ebenfalls Ojas, spirituelle Energie.

Das dritte ist Samana Vayu, die Energie hinter der Verdauung. Das Verdauungsfeuer wird angeregt und sublimiert durch Uddiyana Bandha (Bauchverschluss), Agni Sara (Feueratmung), Nauli (Bauchmuskelbewegung zur Darmanregung) und Kapalabhati(Schnellatmung) und steht gleichzeitig für Durchsetzungsvermögen, Mut, Handlung. Um diese Energie zu sublimieren, ist es gut, sich ab und zu eine nicht aktive Zeit zu gönnen, nichts verändern zu wollen, Dinge zu akzeptieren, loszulassen, das Feuer weniger zum Ausdruck zu bringen. Die so sublimierte Verdauungsenergie steht nachher auf beiden Ebenen wieder vermehrt zur Verfügung, sowohl für die Verdauung als auch für stärkeres Durchsetzungsvermögen und mehr Gleichmut. Wichtig ist auch eine ausgewogene, sattwige Ernährung in der richtigen Menge, sowie ab und zu zu fasten.

Das vierte ist Vyana Vayu, die Energie hinter dem Herzkreislauf und der Skelettmuskulatur, also der physischen Bewegung. Solange man wach ist, hat man den Impuls, sich zu bewegen. Wenn wir die Asanas halten, ohne uns zu bewegen oder in der Meditation still sitzen, wird Vyana Vayu arbeitslos und wird als sublimierte Energie in den Chakren aufgespeichert.

Und das fünfte ist Udana Vayu, die Energie hinter den verschiedenen Kommunikationssystemen des Körpers, wie Nerven, Hormonsystem, Sprache, innerkörperliche Koordination sowie Kommunikation mit anderen Menschen. Das Nervensystem regeneriert sich in der Tiefenentspannung. Dabei wird diese Energie sublimiert. Auch beim Mantrasingen und in der Meditation beruhigt sich das Nervensystem. Wenn wir freundlich mit und über andere Menschen sprechen, ab und zu schweigen, nicht zuviel Unnützes reden, sublimiert sich diese Kommunikationsenergie, die uns dann als spirituelle Energie zur Verfügung steht. Gleichzeitig verbessert sich die Kommunikation mit anderen Menschen, der Schlaf wird leichter und man braucht weniger Schlaf, weil Udana Vayu sehr harmonisch wird.

Zur Sublimierung von Energien trägt es ganz generell bei, wenn man sich zum Beispiel nicht immer alle Wünsche erfüllt, nicht allen Impulsen sofort nachgibt. Trotzdem sollte man auch das nicht übertreiben, sondern es nur gelegentlich anwenden. Man wird sich dann insgesamt besser fühlen.

Sublimierung der Energie führt also zu Virya, zu starker Vitalität.

39. Aparigraha-sthairye janma-kathamtâ-sambodhah     Zurück zum zweiten Kapitel

Aparigraha = Nicht–Besitzgier; sthairye = Bekräftigtwerden; janma = Geburt; kathamtâ = das Wie und Wofür; sambodhah = Wissen

Ist Abwesenheit von Gewinnsucht fest begründet, wird Verständnis für den Sinn der Geburt erlangt.

Aparigraha wird auf verschiedene Weisen übersetzt. Das eine ist das Nichtannehmen von Geschenken. Natürlich sind damit nicht Geschenke gemeint, die aus Liebe gegeben werden – wenn uns jemand etwas zum Geburtstag schenkt, oder Eltern, Freunde, Verwandte uns ein Geschenk machen, dann kann und soll man es annehmen. Gemeint sind solche Geschenke, die uns manipulieren sollen. Wenn man das Gefühl hat, man soll mit einem Geschenk gekauft werden, es steht eine Absicht dahinter, dann soll man es ablehnen. Man soll sich nicht kaufen lassen. Das ist ein wichtiger Aspekt. Wenn wir immer nach dem Prinzip handeln, eine Hand wäscht die andere, dann können wir nicht mehr danach handeln, was richtig und falsch ist und unser Geist wird verwirrt. Im weiteren Sinne verlieren wir die Unterscheidungskraft zwischen dem, was wirklich und unwirklich ist, für den Sinn der Geburt.

Man sollte bei einem Geschenk nicht das Gefühl haben, zu etwas verpflichtet zu sein. Gleichzeitig sollte man aber auch die Gefühle anderer nicht verletzen, indem man ein gutgemeintes Geschenk ablehnt. Man muss abwägen. Geschenke aus Liebe soll man annehmen und auch geben. Liebe muss sich ja auch ausdrücken. Es reicht nicht allein aus, Liebe im Herzen zu haben. Man muss diese Liebe auch zeigen. Wenn man verreist war und wieder nach Hause kommt, bringt man seinem Kind oder seiner Familie und Freunden vielleicht kleine Geschenke mit und sie freuen sich darüber. Oder man erhält ein selbstgebasteltes Geschenk von seinem Kind. Solche Geschenke helfen, das Herz zu öffnen.

Frage: Und wie ist es mit Nachbarschaftshilfe?

Antwort: Wenn wir aus Hilfsbereitschaft helfen oder von vornherein feststeht, ich tue das und du machst dafür das für mich, dann ist das ok. Wenn wir dagegen von jemandem einen großen Gefallen annehmen, ohne ihn in naher Zukunft erwidern zu können, und der andere handelt nachher in irgendeiner Weise unethisch, dann sind wir irgendwie verpflichtet, ihn zu decken, denn er hat einem ja einen großen Gefallen getan. Man sollte sich nicht in Zugzwang bringen lassen. Ein wirtschaftlicher Austausch hingegen ist natürlich hilfreich und notwendig. Da spricht nichts dagegen.

Frage: Was machst du, wenn dir jemand etwas schenkt, das du gar nicht willst?

Antwort: Ich nehme es an und schenke es später weiter.

Frage: Kann man ein Geschenk weiterschenken?

Antwort: Ja, warum denn nicht? In Deutschland gilt das zwar als unhöflich, aber in Indien ist es sehr üblich. Swami Vishnu hat immer viele kleine Geschenke erhalten. Meistens hat er sie weitergegeben. Die Menschen wussten, dass er Mangos mag und so hat ihm jeder zehn Mangos geschenkt. Wie viele Mangos kann ein Mensch essen? Also hat er sie sofort weitergeschenkt. Und dann gab es viele Menschen, die meinten, ihm Kunstgegenstände vermachen zu müssen. Er hat sie angenommen, sie hingen eine Weile in einem Zimmer und wenn der nächste Besucher kam und ihm etwas geschenkt hat, hat er die anderen weitergegeben. Das ist das Lakshmi–Prinzip: annehmen und weitergeben.

Neben keine Geschenke annehmen bedeutet Aparigraha als zweites Abwesenheit von Gewinnsucht, also nicht so viel haben zu wollen, und als drittes Nichthorten.

Jesus hat diesbezüglich ja eine extreme Meinung vertreten. Für mich bis heute eines der großen Geheimnisse der Welt, dass seine Lehren so auf den Kopf gestellt werden konnten. Was Jesus gelehrt hat, war nicht als eine Volksreligion gedacht, sondern für eine ausgewählte Anzahl weniger Menschen, denn als wahrer Christ darf man eigentlich keinen Besitz haben. In dieser Beziehung ist die Bibel sehr eindeutig: „Eher kommt ein Kamel durch ein Nadelöhr als ein Reicher in den Himmel.“ oder „Man soll nicht für das Morgen sorgen, der morgige Tag wird für das Seine sorgen“. Und seinen Schülern hat er gesagt: „Wer mir nachfolgen will, der folge mir jetzt nach.“ Bei einem von ihnen war, glaube ich, sogar gerade die Mutter gestorben und er wollte sie erst beerdigen. Und Jesus sagte: „Lass die Toten ihre Toten begraben. Wer mir nachfolgen will, der folge mir jetzt nach.“ – Brutal, oder?

Das gibt es zwar im Yoga auch als Prinzip von Vairagya (Leidenschaftslosigkeit, Verhaftungslosigkeit), aber Yoga ist nicht ganz so streng für alle. Bei wem Vairagya intensiv ausgeprägt ist, der soll sich auch an völlige Besitzlosigkeit halten.

Jesus hat eigentlich zu Mönchen gesprochen. Die ersten Christen waren notwendigerweise besitzlos, denn wenn man sich zum Christentum bekehrte, musste man all seinen Besitz der Gemeinschaft überschreiben. Die christlichen Gemeinden waren kommunistische Gemeinden. Es ist paradox, dass sich heutzutage eine Partei christdemokratisch nennt, die auf der Seite des Privateigentums steht. Paulus hat diese Grundsätze schon etwas abgemildert und gesagt: Gut, wenn man nicht ganz Mönch sein kann, kann man auch eine Beziehung haben und heiraten. Aber es wäre besser, wenn man keine Familie hätte. Und dann überschreibt man halt allen Besitz der Gemeinde, die alles gemeinschaftlich verwaltet.

Im 4. Jahrhundert nach Christus hat Kaiser Konstantin das Christentum zur halben Staatsreligion gemacht, aus zwei Gründen: Zum einen hatte er eine Vision von einem Kreuz („In diesem Zeichen wirst du siegen“), woraufhin er sich das Kreuz angeheftet hat, die Schlacht gewann und damit das römische Reich und seine Mitkaiser besiegt hatte. Und zum zweiten stellte er fest, dass das Christentum inzwischen gut organisiert war. Die römische Verwaltung lag danieder. So erschien ihm sinnvoll, die Christen als idealistische und disziplinierte Menschen in der Verwaltung für seine Zwecke einzusetzen. Daraufhin hat er alle möglichen seiner Gefolgsleute zu Christen gemacht. Die „echten“ Christen hätten ihm nun eigentlich sagen müssen: „Das geht nicht. Wer Christ werden will, muss auf seinen Besitz verzichten und selbst du kannst so nicht Christ werden, auch wenn du der Kaiser bist.“ Davor hatten sie aber Angst, und das mit Recht. Denn wenn sie es abgelehnt hätten, hätte es die nächste Christenverfolgung gegeben. Konstantin war nämlich ziemlich brutal. Und wenn sie ihm jetzt Widerstand geleistet hätten, hätte sich sein Zorn leicht gegen sie richten können. Und so haben sie sich entschieden, bei dem üblen Spiel mitzuspielen. Und nach einer Weile haben sie sich korrumpieren lassen.

Also, es ist auch wichtig, nicht zu viel zu horten.

Für verschiedene Menschen und verschiedene Umstände heißt das nun auch wieder etwas anderes. Eine gewisse finanzielle Unabhängigkeit kann durchaus hilfreich sein. Man braucht sich keine Sorgen zu machen, dadurch wird der Geist ruhig und man kann anderen helfen. Deshalb rate ich Mitarbeitern auch ab, all ihre Ersparnisse dem Ashram zu überschreiben. Ich habe es auch schon einmal rundweg abgelehnt. Ein Mitarbeiter hat zwar auch schon eine größere Spende gegeben – eine größere Summe, die damals sehr notwendig war –, aber eben nicht all sein Geld. Eine gewisse Sicherheit beruhigt und ist gut. Gleichzeitig sollte man aber auch nicht zu viel haben. Wenn man viel hat oder bekommt, zum Beispiel durch eine Erbschaft, sollte man einen Teil davon auch anderen geben, statt immer mehr anzuhäufen oder zu überlegen, wie kriege ich noch mehr Gewinn heraus. Dieses Geben ist im Lakshmi–Prinzip enthalten.

Wenn wir danach handeln, wissen wir, was unsere Aufgabe im Leben ist.

Wenn wir uns bestechen, kaufen lassen, können wir nicht das tun, was wir für richtig halten und irgendwann wissen wir es auch nicht mehr.

Wenn wir nur immer mehr haben wollen, dann wissen wir auch nicht mehr, was unsere Pflicht, unsere Aufgabe, ist.

Wenn wir immer mehr horten, müssen wir uns um unseren Besitz kümmern, ihn pflegen, verwalten, dafür sorgen, dass er sich vermehrt, uns nicht entgeht. Auch das verhindert, dass wir erkennen, was unsere Pflicht ist.

Wenn man immerzu nur Geld haben will – und Aparigraha  (Nicht-Begehren) richtet sich im Wesentlichen gegen das Anhäufen von Geld –, dann tut man andere Sachen nicht, die man eigentlich tun sollte.

Wenn wir also alle diese drei Aspekte von Aparigraha (keine Geschenke, keine Gewinnsucht, Nichthorten) beachten, erlangen wir das Verständnis für den Sinn der Geburt, die Pflichterfüllung.

Patanjali sagt, wenn man sich nicht an die Yamas hält (Reinheit, Zufriedenheit, Selbstzucht, Selbststudium und Hingabe zu Gott), wird man nicht glücklich. Man wird dann glücklich, wenn man seine Aufgabe findet und tut. Wenn man dagegen nur nach Gewinnsucht und Geld strebt … Schaut euch die Leute an! Sie sind meist oberflächlich und relativ unglücklich.

Die Yamas beziehen sich auf den Umgang mit anderen. Im Umgang mit anderen sollen wir Ahimsa üben, sie nicht verletzen und ihnen Liebe schenken. Dann sollen wir sie nicht anlügen, Satya, Wahrhaftigkeit. Wir sollen ihnen gegenüber Asteya üben, das heißt, ihnen nichts wegnehmen, sondern im Gegenteil teilen, was wir haben. Wir sollen sie nicht ausnutzen, Brahmacharya. Brahmacharya bedeutet auch, nicht nur Sexualität haben zu wollen, im Partner nicht nur das Sexualobjekt oder nicht in jedem Menschen einen potentiellen Sexualpartner zu sehen, sondern im anderen etwas Göttliches zu sehen. Aparigraha: wir sollen uns nicht bestechen lassen von andern und kein Geld horten. – Hohe Ideale, aber durchaus praktikabel.

Nun folgen als zweiter Schritt die Niyamas, die ethisch-moralischen Regeln, die für unser Privatleben gedacht sind, eine bestimmte Lebenseinstellung. Wir üben Shaucha, Reinheit und Santosha, Zufriedenheit. Wir üben Tapas, das hier durchaus im engeren Sinne als Askeseübung zu verstehen ist. Im Rahmen des Kriya Yoga kann man Tapas weiter definieren, aber im Zusammenhang mit den Niyamas bedeutet es Askese. Wir üben Swadhyaya, Selbststudium im Sinne von Studium der Schriften und Studium von sich selbst, Introspektive. Und wir üben Ishwara Pranidhana, Hingabe an Gott, Gottesverehrung.

Nun schauen wir, was Patanjali zu den einzelnen Nyamas sagt und welche Konsequenzen ihre Einhaltung hat.

40. Shauchât svânga-jugupsâ parair asamsargah     Zurück zum zweiten Kapitel

Shauchât = von Reinheit; svânga = seine Glieder, d. h. sein Körper; jugupsâ = Abscheu; paraih = mit anderen; asamsargah = kein Kontakt

Durch die Reinigung entsteht Ekel gegenüber dem eigenen Körper und eine Abneigung, in physischen Kontakt mit anderen zu kommen.

Diesen Vers mögen die wenigsten. In manchen Kommentaren über die Raja Yoga Sutras werden die Verse immer so abgewandelt, dass westliche Menschen keinen Anstoß daran nehmen …Ich habe versucht, die wörtliche Übersetzung herauszufinden und es heißt tatsächlich so, man kann es nicht ändern.

Frage: Ist das nicht auch unterschiedlich? Manchmal hat man zum Beispiel keine Lust auf Sexualität.

Antwort: Grundsätzlich, nicht nur im Yoga, sondern im Leben ganz allgemein, bleibt nichts gleich, sondern es gibt Wellen der Befindlichkeit.

Wir müssen jetzt aber verstehen, wie das Wort Ekel hier gemeint ist. Das heißt nicht, dass es uns wirklich anekelt, sondern es bedeutet, dass die Fähigkeit entsteht, nicht mehr so sehr an den menschlichen Körper verhaftet zu sein. Wenn wir den Körper so rein wie möglich zu machen versuchen, erkennen wir, dass er letztlich immer irgendwelche Unreinheiten hat und das hilft uns, zu spüren: Ich bin nicht der Körper. Das führt auch dazu, dass wir im anderen Menschen auch weniger den Körper, die äußere Erscheinungsform sehen als vielmehr seine innere Qualität, seine Göttlichkeit.

Letztlich ist Shaucha, Reinheit, eine Hilfe, uns vom Physischen zu lösen. Manche Menschen interpretieren Verhaftungslosigkeit so: Ich kümmere mich nicht um den physischen Körper, deshalb lasse ich meine Haare wachsen und verfilzen, wasche mich nicht, putze mir die Zähne nicht usw. – gut, heutzutage passiert das nicht mehr. Aber als ich mit Yoga angefangen habe, um 1980, in den Nachwehen der Hippiebewegung, da gab es schon einige, die barfuß mit ungewaschenen Füßen und verklebten Haaren und nicht gerade wohlriechend ins Yogazentrum kamen und denen man zuerst Shaucha klarmachen musste. Es gab dort einen extra Stapel Handtücher, die für diese Art Menschen bestimmt war, damit sie als erstes ihr Gesicht, Füße und Hände wuschen. Heutzutage ist diese Art der äußerlichen Vernachlässigung in den Yogakreisen im Westen etwas außer Mode gekommen; in Indien gab es das aber immer.

Aber Patanjali sagt, nicht Vernachlässigung und Verdreckung sind ein Zeichen für das Nicht-Verhaftetsein an den Körper, sondern wenn wir uns um Sauberkeit bemühen, hilft uns das, uns besser davon lösen zu können.

Das ist meine Abmilderung der Bedeutung dieser Yoga Sutra. Swami Vishnu hat sie in ähnlicher Form interpretiert. Aber er hat auch gesagt, ab einer gewissen Stufe der spirituellen Entwicklung, wenn die Reinheit sehr stark ist, hat man keine Lust mehr, mit anderen auf physische Weise in Kontakt zu kommen. Aber auch hier muss man aufpassen. Wenn man mit einem Partner zusammenlebt, gibt es Phasen, wo man weniger Lust auf sexuelle Kontakte hat – zum Beispiel bei Frauen während der Periode, nach der Schwangerschaft, in den Wechseljahren oder bei bestimmten hormonellen Umstellungen. Aber das sind vorübergehende Schwankungen, die nicht wirklich aus Shaucha und einer wahrhaftigen Vairagya (Leidenschaftslosigkeit) kommen. Man sollte damit den Partner nicht vor den Kopf stossen, indem man ihm zu verstehen gibt, dass man endgültig keine Lust mehr hat …!

Frage: Seitdem ich Yoga übe, passiert es mir auch, dass ich sexuellen Kontakt meide, dass ich keine Lust habe.

Antwort: Ja, dann ist das in Ordnung, aber es muss nicht immer so sein und auch nicht so bleiben. Ich selbst habe ja auch Jahre als Mönch gelebt, zehn Jahre nach einem formellen Gelübde und davor war ich eigentlich auch schon enthaltsam. Aber irgendwann habe ich festgestellt, dass es für mich auf Dauer nicht die geeignete Lebensform ist.

41.Sattvashuddhi-saumanasyaikâgryendriya-jayâtmadarshana-yogyatvâni cha     Zurück zum zweiten Kapitel

Sattvashuddhi = Reinheit des Geistes; saumanasya = heiteres Gemüt; aikâgrya = Sammlung, Fixierung der Aufmerksamkeit; indriyajaya = Beherrschung der Sinne; âatmadarshana = Vision des Selbst; yogyatvâni = Eignung zu; cha = und

Durch die Reinigung entstehen auch geistige Klarheit, Heiterkeit, Zielgerichtetheit, Kontrolle der Sinne und Eignung für die Verwirklichung des Selbst.

Shaucha (Reinheit) wird zu Sattvashuddi, dem sattwigen Prinzip der Reinheit. Ein großer Teil des Yoga besteht darin, dass wir uns bemühen, sattwig zu leben, uns sattwig zu ernähren, zu kleiden, sattwige Musik zu hören, Sattwa zu erzeugen. Je mehr Sattwa, desto mehr Reinheit ist da. Und daraus entsteht auch geistige Klarheit und Heiterkeit. Ihr könnt auch einmal in eurer Wohnung schauen, wo ist vielleicht etwas, was nicht so sattwig ist, und wenn es ein Erbstück von der Urgroßmutter ist, ein uraltes Gemälde, auf dem eine Schlacht abgebildet ist. Natürlich müsst ihr dabei auch das Ahimsa-Prinzip (Nichtverletzen) beachten – wenn etwas anderen Familienmitgliedern am Herzen liegt, dann wirft man es natürlich nicht gleich weg. Aber wenn es niemand eigentlich mag, tut man es mindestens auf den Speicher oder gibt es weiter, wenn es jemand anders haben will. So kann man in verschiedener Art schauen, die Umgebung sattwig zu machen. Das gibt Klarheit, Heiterkeit, Zielbewusstheit, Kontrolle der Sinne und macht einen geeignet für die Verwirklichung des Selbst.

Natürlich machen wir im Yoga noch mehr, um Reinheit zu erreichen: Kriyas (Reinigungsübungen), Asanas (Stellungen), Pranayama (Atmung), all das trägt sowohl zur Reinigung des physischen Körpers wie auch des Geistes bei.

42. Samtoshâd anuttamah sukha-lâbhah     Zurück zum zweiten Kapitel

Samtoshâd = von Zufriedenheit; anuttamah = unübertroffen; sukha = Glück; lâbhah = Gewinn

Aus Zufriedenheit entspringt höchstes Glück.

Das ist vollkommen klar. Freude kommt, wenn wir zufrieden sind. Nun gibt es aber unterschiedliche Arten von Zufriedenheit. Zufriedenheit kann sattwig (rein), rajasig (unruhig) oder tamasig (träge) sein.

Tamasige Zufriedenheit wäre: „Ist ja eh alles egal.“

Rajasige Zufriedenheit ist: „Ich bin zufriedener als alle anderen“, „Ich bin der zufriedenste Mensch auf Erden“ und wenn man daraus ein dickes Ego züchtet.

Sattwige Zufriedenheit ist, das Beste aus allem zu machen. Sattwige Zufriedenheit heißt nicht Untätigkeit, sondern die Gewissheit, dass, was auch immer kommen mag, letztlich zu unserem Besten ist und dass wir daraus lernen können. Sattwige Zufriedenheit führt dazu, dass wir zwar aktiv sind, etwas tun, aber dabei innerlich loslassen, wissen, wir können den Ausgang letztlich nicht bestimmen, aber wie auch immer es kommt, irgendwie ist es gut für uns.

Wir haben schon an anderer Stelle die verschiedenen Fragen durchgesprochen, die man sich selbst stellen kann, um diese innere Einstellung zu erreichen. Gerade in einer schwierigen Situation ist es wichtig, sich zu fragen: Was ist hier meine Aufgabe, was kann ich in der Situation lernen und was kann ich tun, um wieder glücklich zu sein, entweder in der Situation oder wie kann oder muss ich die Situation ändern.

43. Kâyendriya-siddhir ashuddhi-kshayât tapasah     Zurück zum zweiten Kapitel

Kâya = der Körper; indriya = Sinnesorgane; siddhih = Kräfte; ashuddhi = Unreinheit; kshayât = bei Zerstörung; tapasah = durch Askese, Selbstzucht

Die Auflösung von Unreinheiten durch Übungen der Selbstzucht führt Kräfte des Körpers und der Sinne herbei.

Also Tapas, Askeseübungen, führen zur Auflösung von Unreinheiten und damit zu (übernatürlichen) Kräften des Körpers und der Sinnesorgane.

Hier muss man sich bewusst sein, dass Patanjali eine regelmäßige Asana- und Pranayama-Praxis bereits als Tapas einstufen würde. Anders als in den meisten Kommentaren erwähnt, ist mit Asana eigentlich die Meditationshaltung gemeint, also das ruhige Sitzen. Trotzdem kann man das, was Patanjali über die Meditationshaltung sagt, auch als Grundaussage für die anderen Yogastellungen anwenden. Aber auch wenn wir Tapas konkret als Askese ausüben, dürfen wir den Körper nicht quälen! Es gibt ja in Indien und auch im Westen die Tradition, den Körper im Namen der Askese zu quälen und zu verunstalten. Im Mittelalter gab es die Geißler, die ihren Körper mit Peitschen und Nägeln zerstört haben – das gibt es in manchen Ländern bis heute. Oder in Indien stehen manche Menschen tage-, wochen- oder jahrelang auf einem Bein, bis Teile des Körpers absterben, verwelken und verledern. Das ist mit Tapas nicht gemeint.

Tapas sollte zur Reinigung führen. Wenn wir Askeseübungen zur Reinigung des Körpers machen, führt das zu Kräften des Körpers und der Sinne. Fasten zum Beispiel ist eine einfache Methode, um ein subtileres Wahrnehmungsvermögen zu entwickeln. Kalte Duschen führen zu einer Abhärtung und Kraft des Körpers, wie auch die Kneippkur. Man sollte sich zum Schluss immer kalt abduschen. Das ist eine der wichtigsten vorbeugenden Maßnahmen gegen Herz–/Kreislaufkrankheiten und Erkältungen. Zuerst empfindet man es zwar als unangenehm, aber nach einer Weile nicht mehr.

Das habe ich im Sivananda Yoga Zentrum in Paris gemerkt. Dort fielen einmal die Heizung und das Warmwasser aus. Wir hatten einen Servicevertrag mit einer Firma, die in solchen Fällen die Reparatur kostenlos ausgeführt hat. Aber unglücklicherweise stand im Vertrag nicht, dass die Reparatur innerhalb von 48 Stunden erfolgen sollte, sondern innerhalb von zwei Wochen! Die Serviceleute kamen also erst nach zwei Wochen und so lange war erstens das Zentrum kalt und zweitens hatten wir nur kaltes Wasser. Für die Schüler haben wir mit Elektroöfen die Zimmer aufgewärmt, aber sonst war es ziemlich kalt. Die ersten Tage war das furchtbar. Nach drei Tagen empfand man das Wasser nicht mehr als kalt, sondern als angenehm. Und nach ein oder zwei Wochen brauchte ich eigentlich kein warmes Wasser mehr. Auch Asanas und Pranayama regelmäßig zu üben, die Asanas länger zu halten als einem Spaß macht, Pranayama länger zu machen, als man zunächst Lust hat, all das führt zu Kräften des Körpers und der Sinne. Die höheren Sinne werden aktiv und wir bekommen Siddhis, übernatürliche Kräfte, wir können Subtiles wahrnehmen.

Darüber hinaus können wir uns natürlich angewöhnen, Dinge zu tun, die wir nicht mögen, in der etwas weiteren Interpretation von Tapas. Auch das führt zu innerer Kraft.

44. Swâdhyâyâd ishta-devatâ-samprayogah     Zurück zum zweiten Kapitel

Swâdhyâyâd = durch Selbststudium; ishta-devatâ = die ersehnte Gottheit; samprayogah = Vereinigung

Durch Studium, das zum Wissen über das Selbst führt, entsteht Vereinigung mit der erwünschten
Gottheit.

Das ist zunächst einmal eine überraschende Aussage: Über Swadhyaya (Selbststudium) bekommen wir Zugang zu unserer persönlichen Gottheit. Im weiteren Sinne ist Swadhyaya zu verstehen als Studium der Schriften und Studium des Selbst. Hier bedeutet Swadhyaya Selbstbefragung, ist der Versuch, immer mehr nach innen zu kommen, weniger zu analysieren, was sind meine Fehler, sondern mehr, wer bin ich selbst. Das bringt uns in Kontakt mit Gott, mit unserem Ishta Devata, unserer Vorstellung von Gott – und zwar noch bevor wir Verbindung zu Atman, dem höheren Selbst, bekommen. Auf einer gewissen Stufe der inneren Erkenntnis und inneren Verwirklichung entsteht so eine Verbindung zu einem persönlichen Aspekt Gottes.

Zum anderen erhebt natürlich auch das Studium der Schriften den Geist und hilft einem, Kontakt zu Gott zu bekommen, so dass wir uns Gott besser hingeben können.

45. Samâdhi-siddhir Îshwara-pranidhânât     Zurück zum zweiten Kapitel

Samâdhi = überbewusster Zustand; siddhih = Leistung, Fähigkeit; Îshwara = Gott; pranidhânât = durch Selbsthingabe

Durch die Hingabe an Gott entsteht die Fähigkeit, Samadhi zu erreichen.

Hier wiederholt Patanjali, was er im ersten Kapitel schon erläutert hat. Hingabe an Gott führt zwar nicht sofort zu Samadhi, aber sie versetzt einen in die Lage, Samadhi zu erreichen. Wenn wir Gott hingegeben sind, kommt Samadhi-siddhir, die Fähigkeit, die Kraft für Samadhi.

Patanjali erwähnt Ishwara-pranidhana (Hingabe zu Gott) an drei Stellen in den Yoga Sutras, aber er führt es nicht übermäßig aus, denn er will Religionskriege vermeiden. Im Hinduismus gab und gibt es als religiöse Hauptströmungen die Shiva-, Krishna- und Devi-Verehrer sowie zahlreiche Nebenrichtungen. Wenn Patanjali die Gottesvorstellung nun irgendwie konkretisiert hätte, hätten vielleicht die Vaishnavas (Anhänger Vishnus) dem widersprochen, oder die Shaivas (Anhänger Shivas) oder die Shaktis (Anhänger der weiblichen göttlichen Energie). So hat er seine Aussage ganz allgemein gehalten, um niemandem auf die Füße zu treten, denn religiöse Gefühle sind sehr schnell zu verletzen.

Das ist mir auch schon öfter aufgefallen bei Seminarteilnehmern, die wirklich gläubige Christen sind. Da muss ich es weitestgehend vermeiden, über Jesus zu sprechen. Denn es geht sehr schnell, dass ich etwas anderes sage, als das, was jemand glaubt. Wenn ich allgemein über Jesus als großen Meister oder als eine Inkarnation Gottes spreche, ist es ok. Sobald ich es etwas konkretisiere, stimmt es meistens mit den Glaubensvorstellungen des Einzelnen nicht überein. Ich habe auch eine gewisse Hingabe an Jesus, wobei ich zugeben muss, dass er nicht mein wichtigster Bezug zum Göttlichen ist. Ich fühle mich durchaus inspiriert, wenn ich das Neue Testament lese oder ein Bild von Jesus sehe oder wenn ich in eine Kirche gehe, wo manchmal sehr gute Schwingungen sind. Aber mein Bezug ist ein etwas anderer als der typisch christliche. Wenn ich dann auf meine Weise versuche, dies darzulegen, fühlen sich manche gekränkt und haben das Gefühl, ich würde negativ über Jesus sprechen, was aber ganz sicher nicht in meiner Absicht liegt. Man muss sehr vorsichtig sein, wenn man mit Menschen spricht, die eine feste religiöse Überzeugung haben.

46. Sthira-sukam âsanam.     Zurück zum zweiten Kapitel

Sthira = unbewegt; sukham = bequem; âsanam = Haltung

Die Körperhaltung soll fest und bequem sein.

Für die Meditation sollte die Sitzhaltung längere Zeit unbeweglich und entspannt möglich sein. Sie sollte auch angenehm sein. Das ergibt sich im Laufe der Zeit.

Das gilt aber auch für die Hatha Yoga Asanas (Yogaübungen). Auch sie sollten fest und angenehm sein, sie sollten keine Quälerei sein, obwohl sie auch mal anstrengend sein dürfen und können.

47. Prayatna-shaithilyânanta-samâpattibhyâm     Zurück zum zweiten Kapitel

Prayatna = Anstrengung; shaithilya = Entspannung; ânanta = das Endlose; samâpattibhyâm = durch Meditation

Die Stellung wird durch Befreien von Spannung und durch Meditation auf das Unbegrenzte gemeistert.

Jetzt erklärt Patanjali, wie wir die Stellung meistern, nämlich nicht mit Gewalt, sondern durch Entspannen und Meditieren. Wir können Vollkommenheit in den Asanas erreichen, indem wir entspannen und über das Unendliche meditieren. Das gilt jetzt auch wieder in der Meditation, wo wir versuchen, erst einmal loszulassen, den Körper zu entspannen. Und dann meditieren wir über das Unendliche.

Es gilt aber auch für die Hatha Yoga Asanas. Wenn wir in der Kobra (Yogastellung) sind, gibt es natürlich gewisse Muskeln, die wir anspannen – Gesäß, mittlerer und unterer Rücken, Latissimus, ein paar Oberarmmuskeln, Schulternmuskeln – aber das Gesicht bleibt entspannt, der Bauch ist entspannt, Zehen sind entspannt usw… Wir lassen in der Stellung los und entspannen. Wenn wir dann in der Asana sind, können wir uns vorstellen, ich meditiere über das Unendliche, ich bin verbunden mit dem Unendlichen, ich bin eins mit dem Unendlichen – das ist eine schöne Weise, Asanas auszuführen.

48. Tato dvandvânabhighâtah     Zurück zum zweiten Kapitel

Tatah = davon (von der Beherrschung der Haltung); dvandva = Gegensatzpaare; anabhighâtah = keine Angriffe

Durch diese Meisterung der Asanas kommen keine Angriffe der Gegensatzpaare.

Die Dvandvas, Zweiheiten –  vom Wortstamm dva, zwei – greifen einen nicht mehr an. Wenn wir die Asana mit dieser inneren Einstellung ausführen, werden wir nicht mehr so schnell berührt von den Gegensatzpaaren wie Hitze und Kälte, Vergnügen und Schmerz, Lob und Tadel, angenehm und unangenehm, gutes Essen oder schlechtes Essen, fades oder versalzenes Essen usw.

Wir lernen es, in der Meditation reglos zu sitzen. Wenn uns eine Fliege über die Nase kriecht, was machen wir? – Ruhig sitzen bleiben. Wenn uns langsam ein Moskito ansaugt, schenken wir ihm in der Meditation Liebe und einen Tropfen Blut, damit es damit glücklich werden kann. Wenn wir allerdings eine Allergie haben gegen Moskitos, was machen wir dann? – Dann verjagen wir es. Oder wenn wir meditieren und der Schweiß rinnt herunter, weil es sehr heiß ist, was machen wir? Sitzen bleiben. Wenn wir allerdings merken, dass der Schweiß langsam in die Augen hineinrinnt, dann müssen wir etwas tun, denn das ist nicht gesund für die Augen. Aber solange er nur die Augenbraue entlang rinnt – dafür haben wir sie ja! – ist es ok. Und wenn uns die Hüfte weh tut, was machen wir? Wir bleiben ruhig sitzen. Und wenn sie extrem wehtut, was machen wir? Wir bewegen uns. Es gibt Grenzen, man muss abwägen und den gesunden Verstand einschalten, denn wir wollen uns nicht irgendwie schädigen. Aber wir lassen los, wir bleiben ruhig sitzen, so weit es möglich ist und so lernen wir Gleichmut.

Einen der großen Glaubenskriege unter Yogis findet man oft bei größeren Gruppen. Es gibt die Partei der Fenster-auf- und die der Fenster-zu-Anhänger, die sich richtig streiten können. Es ist ein weit verbreiteter Irrtum, dass schlechte Luft auf Sauerstoffmangel zurückzuführen ist. Der Mensch verbraucht gar nicht so viel Sauerstoff. Ich habe das interessehalber mal für unsere Yogaräume ausgerechnet. Wenn sich in einem relativ kleinen Raum hundert Leute aufhalten, reicht die Luft einige Stunden aus, selbst wenn der Raum luftdicht abgeschlossen wäre, bevor es zu einem Sauerstoffmangel kommt.

Selbst bei geschlossenen Türen und Fenstern gibt es in der Regel noch genügend Luftaustausch. Was man riecht, ist nicht der Mangel an Sauerstoff, sondern die Ausdünstungen der Menschen. Bei schlechter Luft ist immer noch genügend Sauerstoff da, aber es sind halt Geruchspartikel in der Luft und die sind nicht so schädlich! Umgekehrt erkältet man sich auch nicht von Kühle. Es gibt ausreichend Versuche, die zeigen, dass ein Mensch allein davon, dass er im Kalten sitzt, keine Erkältung bekommt. Ein bisschen zu frieren ist also nicht schlimm und wenn es mal ein bisschen riecht, ist es auch nicht schlimm.

Wir können also ruhig sitzen bleiben und diesen Gleichmut inmitten der Dvandvas (Gegensätze) entwickeln. Für mich persönlich habe ich diesen Gleichmut im Laufe meiner Zeit in Yogazentren entwickelt. Wenn ich Gruppen leite, muss ich abwägen, was will die Mehrheit und entsprechend eingreifen. Aber für mich selbst ist es eine große Quelle von Frieden, dass es mir ziemlich egal ist, ob das Fenster auf ist oder zu. Und das kann man in vielerlei Hinsicht anwenden. Der westliche Mensch ist sehr stark daran gewöhnt, die Umgebung zu manipulieren. Wenn es kalt ist, Heizung auf. Wenn es warm ist, Klimaanlage an. Wir können aber lernen, uns in Gleichmut zu üben. Und Asanas helfen, das zu erreichen.

Natürlich gibt es auch kompliziertere Dvandvas, Gegensatzpaare, die nicht so leicht aufzulösen sind.

49. Tasmin sati shvâsa-prashvâsayor gati-vicchedah prânâyâmah     Zurück zum zweiten Kapitel

Tasmin = nach dieser; sati = gewesen; shvâsa-prashvâsayoh = des Ein-und Ausatmens; gati = Bewegung; vicchedah = Aufhören, Unterbrechung; prânâyâmah = Regulierung des Atems

Die nächste Stufe ist Pranayama, die Kontrolle von Einatmung und Ausatmung.

Pranayama heißt wörtlich „Herrschaft über das Prana“. Prana ist die Lebensenergie. Wir beherrschen die Lebensenergie über den Atem.

50. Bâhyâbhyantara-stambha-vrittir deshakâla-samkhyâbbih paridrishto dîrghasûkshmah

Zurück zum zweiten Kapitel

Bâhya = äußere; âbhyantara = innere; stambha-vrittih = unterdrückte Bewegung; desha = Ort; kâla = Zeit; samkhyâbhih = Zahl; paridrishtah = gemessen, reguliert; dîrgha = verlängert; sûkshmah = subtil, verfeinert

Pranayama ist Einatmung, Ausatmung oder Anhalten des Atems; es wird durch Ort, Zeit und Dauer reguliert und fortschreitend verlängert und verfeinert.

Diesen Vers halte ich für ganz genial. Darin sind alle Pranayama-Techniken zusammengefasst, denn eigentlich bestehen alle Atemübungen darin, dass man einatmet, anhält und ausatmet. Es gibt Ort, Zeit und Dauer. Zum Beispiel durch das linke Nasenloch einatmen, durch das rechte Nasenloch ausatmen, durch den Mund, tiefe Bauchatmung, oder Bauch- und Brustatmung – das sind verschiedene Orte der Atmung. Zeit: Wir haben einen bestimmten Rhythmus, zum Beispiel vier Sekunden lang einatmen, sechzehn Sekunden lang anhalten, acht Sekunden ausatmen. Und Dauer: Wir können vier Runden machen, oder eine halbe Stunde oder zwei Stunden lang üben. Damit sind alle Atemübungen beschrieben. Alle Atemübungen bestehen aus einer entsprechenden Veränderung von Ort, Zeit und Dauer der Ein- und Ausatmung und des Anhaltens.

Und jetzt sagt Patanjali, das Pranayama wird fortschreitend verlängert. Wir machen mehr und mehr Pranayama, gut, vielleicht nicht das ganze Leben lang immer mehr, sonst würden wir irgendwann nur noch Atemübungen machen. Aber wir beginnen mit der Pranayama-Praxis ganz leicht, erhöhen die Menge und Dauer langsam und schrittweise und auch das Atemanhalten wird im Laufe der Zeit typischerweise immer länger.

Und der nächste Schritt ist besonders wichtig: es wird verfeinert, wird subtiler. Am Anfang ist es wichtig, wie man die Hand hält, ob die Schultern gerade und locker sind und nicht hochgezogen, ob das Kinn richtig zur Brust gesenkt ist usw. Irgendwann ist das nicht mehr so wichtig, der Körper ist richtig in der Stellung, wir brauchen uns nicht mehr darum zu kümmern. Das Pranayama wird feiner, subtiler und es ist jetzt wichtig, sich zu konzentrieren. Man nimmt das Prana mehr und mehr wahr und schließlich sitzt man einfach da und steuert das Prana. Man braucht dann gar keine großartigen äußeren Geschichten mehr zusätzlich zu machen. Man hält zwar trotzdem noch die Luft an, atmet auch an der richtigen Stelle aus, aber das ist nicht das Wichtige. Das Wichtige ist die subtile Lenkung von Prana.

51. Bâhyâbhyantar-vishayâkshepî chaturthah     Zurück zum zweiten Kapitel

Bâhya = äußere; âabhyantara = innere; vishaya = Bereich, Sphäre; âkshepî = darüber hinausgehend; chaturthah = die vierte

Die vierte Art des Pranayama geht über die Sphäre von Einatmung und Ausatmung hinaus.

Das ist Kevala Kumbhaka, der meditative Atem. Wir atmen nicht mehr ein und aus und halten die Luft an, sondern der Atem setzt von selbst aus. Auch das können wir zuerst üben, indem wir bewusst wenig Luft einatmen und wenig Luft ausatmen, so dass Ein- und Ausatmung ineinander übergehen und die Entfernung, die der Atem aus den Nasenlöchern macht, sehr klein wird. Und schließlich setzt der Atem ganz aus. Das kann in der Meditation auch von selbst geschehen. Wenn das mal geschieht, lasst es einfach zu. Ihr braucht keine Angst zu haben. Man fällt nicht in Ohnmacht und hat auch keinen Sauerstoffmangel. Das gilt als die höchste Form des Pranayama.

52. Tatah kshîyate prakâshâvaranam     Zurück zum zweiten Kapitel

Tatah = dann, davon; kshîyate = wird aufgelöst, verschwindet; prakâsha = Licht; âavaranam = Bedeckung, Schleier

Dies entschleiert das Licht.

Kevala Kumbhaka als höchste Form im besonderen und Pranayama im allgemeinen entschleiern, enthüllen das Licht. Wenn wir regelmäßig Pranayama üben, haben wir ein Gefühl von Licht, von Leichtigkeit, von Erleuchtung, von Energie, wir fühlen uns sehr licht, leicht und weit.

53. Dharanasu cha yogyata manasah     Zurück zum zweiten Kapitel

Dhâranâsu = für Konzentration; cha = und; yogyatâ = Eignung; manasah = des Verstandes

Und macht den Geist geeignet für Dharana (Konzentration).

Atemübungen sind das Beste, um Konzentrationsfähigkeit zu entwickeln.

Meine große Schwierigkeit am Anfang des spirituellen Weges war, dass ich nicht meditieren konnte, weil mein Geist sehr aktiv war. Ich konnte mich zwar auf äußere Objekte gut konzentrieren. Ich konnte gut lernen und alles Mögliche, aber mich auf OM oder ein Mantra zu konzentrieren, das ging nicht. Ich habe dann jeden, dessen ich habhaft werden konnte, gefragt: Was soll ich tun, um besser meditieren zu können. Daraufhin habe ich natürlich viele Ratschläge bekommen; einer davon war, viel Pranayama zu üben. Das habe ich dann auch gemacht und es hat schließlich dazu geführt, dass mein Geist sich besser konzentrieren konnte.

54. Sva-vishayâsamprayoge chitta-svarûpânukâra ivendriyânâm pratyâhârah     Zurück zum zweiten Kapitel

Sva = eigen, entsprechend; vishaya = Objekte; asamprayoge = nicht in Berührung kommend; chitta = Geist, Verstand; svarûpa = eigene Natur; anukârah = Nachahmung; iva = als ob, wie; indriyânâm = durch die Sinne; pratyâhârah = Abstraktion, Zurückziehen

Pratyahara ist die Nachahmung des Geistes durch die Sinne, die durch das Zurückziehen der Sinne von ihren Objekten entsteht.

Anstatt die Sinne weiterhin unkontrolliert nach außen gehen zu lassen, lernen wir die Fähigkeit, die Sinne nach innen zu bringen und so in unserem Inneren zu bleiben. Im Normalfall gehen die Sinne ständig nach außen. Man hört etwas und will sofort reagieren, denkt darüber nach. Man sieht etwas und denkt darüber nach oder will es gleich haben. Der Mensch sieht eine schöne Blume im Wald – was macht er? Er will sie haben und pflückt sie. Er sieht ein Kleidungsstück in einem Geschäft, das ihm gefällt – was macht er? Er kauft es.

Da gibt es eine schöne Geschichte. Es war einmal ein Minister in einem indischen Königreich. Jeden Tag ritt er mit einem wunderbar geschmückten Pferd, das eine prachtvolle Decke trug, zum Palast. Er selbst war prächtig gekleidet und mit Diamanten und Juwelen geschmückt. Ein alter Bettler im Park sah ihn jeden Tag vorbeikommen. Nach ein paar Jahren sagte er zu dem Minister: „Ich danke dir so sehr.“ Der Minister fragte: „Warum dankst du mir?“

Der Bettler antwortete: „Du hast mich so reich beschenkt, vor allem mit deinen Juwelen.“ Der Minister fürchtete, er hätte vielleicht Juwelen verloren und der Bettler hätte sie gefunden. Deshalb fragte er: „Habe ich dir Juwelen gegeben?“ Da sagte der Bettler: „Nein, aber jeden Morgen und jeden Abend sehe ich dich so geschmückt mit diesen Juwelen. Das ist ein so schöner Anblick für mich.“ Die Moral von der Geschichte: Der Bettler sieht die Juwelen und erfreut sich daran, aber der Minister sieht sie nicht, während er sie trägt. Der Bettler hätte natürlich auch anders empfinden können. Er hätte vor Neid erstarren und denken können: „Der hat all diese Juwelen, und ich armer Schlumpf muss von Bettelgaben leben.“ Aber er hat sich daran erfreut. So können wir uns an Dingen freuen, ohne sie zu besitzen.

Wir können aber auch die Sinne nach innen ziehen und gar nicht mehr an die äußeren Objekte denken. Auch eine Übung, die man ab und zu machen kann, wenn man plötzlich den Wunsch nach irgendetwas hat: Man versucht, den Geist nach innen zu bringen. Es gibt verschiedene Techniken, wie man den Geist von äußeren Objekten wegziehen kann. Die einfachste ist, bewusst auf den Atem zu konzentrieren oder ein Mantra zu wiederholen oder beides zusammen.

55. Tatah paramâ vashyatendriyânâm     Zurück zum zweiten Kapitel

Tatah = dann, davon; paramâ = höchste, größte; vashyatâ = Beherrschung; indriyânâm = über die Sinne

Daraus erwächst die höchste Meisterschaft über die Sinne.

Wenn wir in der Lage sind, den Geist immer dann, wenn die Sinne nach außen gehen, wieder zurückzuziehen und innen zu behalten, so lange wir wollen, ist es Pratyahara.

Volles Pratyahara ist auch, wenn wir in einem Vortrag oder in der Meditation sitzen, über uns jemand mit dem Schlagbohrer bohrt und wir es nicht merken.

Da gibt es eine Geschichte von Swami Sivananda. Einmal sagte er, er wolle den ganzen Tag lang hauptsächlich meditieren und deshalb nicht ins Büro kommen. Seine Schüler dachten in diesem Moment nicht mehr daran, dass das der Tag war, an dem die Straße gemacht werden sollte, die direkt an Swami Sivanandas Kutir (Hütte) vorbeiführte. Den ganzen Tag arbeiteten die Straßenbauer also dort mit dem Preßlufthammer und allem, was so mit dem Straßenbau zusammenhängt. Am Abend, als Swami Sivananda zum Satsang (gemeinsame Meditation) kam, entschuldigten sich die Schüler, dass sie ihn nicht vorgewarnt hatten. Er fragt, wieso und wovor. „Na ja, die Straßenarbeiten …“ Swami Sivananda sagte: „Ich habe nichts gehört“ und er war wirklich total erstaunt, als sie ihm das sagten. Er war nicht nur höflich, sondern er hatte tatsächlich nichts gehört. Er hatte einen Preßlufthammer direkt neben seinem Meditationsraum nicht gehört. Das ist Pratyahara.

Dieses Beispiel soll uns nun nicht frustrieren, sondern uns zeigen, dass wir auch irgendwann einmal so weit kommen werden. Auch wir werden diesen Zustand erreichen.


Drittes Kapitel

Yoga-Asana

Einführung drittes Kapitel
1. Desha-bandhash chittasya dhâranâ
2. Tatra pratyayaikatânatâ dhyânam
3. Tad evârthamâtra-nirbhâsam svarûpa-shûnyam iva
4. Trayam ekatra samyamah
5. Tat-jayât prajnâlokah
6. Tasya bhûmishu viniyogah
7. Trayam antar-angam pûrvebhyah
8. Tad api bahir-angam nirbîjasya
9. Vyutthâna-nirodha-samskârayor
10. Tasya prashânta–vâhitâ samskârât
11. Sarvârthataikâgratayoh kshayodayau chittasya
12. Tatah punah shantoditau tulya-pratyayau
13. Etena bhûtendriyeshu
14. Shântoditâvyapadeshya-dharmânupâti dharmî
15. Kramânyatvam parinâmânyatve hetuh
16. Parinâma-traya-samyamâd atîtânâgata-jnânam
17. Shabdârtha-pratyayânâm itaretarâdhyâsât
18. Samskâra-sâkshâtkaranât pûrva-jâtijnânam
19. Pratyayasya para-chitta-jnânam
20. Na cha tat sâlambanam tasyâvishayî-bhûtatvât
21. Kâyâ-rûpa-samyamât tad grâhya-shakti-stambhe
22. Etena shabdâdy antardhânam uktam
23. Sopakramam nirupakramam cha karma tat-samyamâd
24. Maitry-âdishu balâni
25. Baleshu hasti-balâdîni
26. Pravritty-âloka-nyâsât
27. Bhuvana-jnânam sûrye samyamât
28. Chandre târâ-vyûha-jnânam
29. Dhruve tad-gati-jnânam
30. Nâbhi-chakre kâya-yûha-jnânam
31. Kantha-kûpe kshut-pipâsâ-nivrittih
32. Kûrma-nâdyâm sthairyam
33. Mûrdha-jyotishi siddha-darshanam
34. Prâtibhâd vâ sarvam
35. Hridaye chitta-samvit
36. Sattwa-purushayor atyantâsamkirnayoh
37. Tatah
38. Te samâdhâv upasargâ vyutthâne siddhayah
39. Bandha-kârana-shaithilyât prachâra-samvedanâch
40. Udâna-jayâj jala-panka-kantakâdishv asanga
41. Samâna-jayâj jvalanam
42. Shrotrâkâshayoh sambandha-samyamâd divyam
43. Kâyâkâshayoh sambandha-samyamât
44. Bahir akalpitâ vrittir mahâ-videhâ; tatah
45. Sthûla-svarûpa-sûkshmânvayârthavattva-samymâd
46. Tato ¢nimâdi-prâdurbhâvah kâya-sampat tad
47. Rûpa-lâvanya-bala-vajra-samhananatvâni
48. Grahana-svarûpâsmitânvayârthavattva-samyamâd
49. Tato manojavitvam vikarana-bhâvah
50. Sattva-purushânyatâ-khyâti-mâtrasya
51. Tad-vairâgyâd api dosha-bîja-kshaye kaivalyam
52. Sthâny-upanimantrane sanga-smayâ-karanam punar
53. Kshana-tat-kramayoh samyamâd vivekajam jnânam
54. Jâti-lakshana-deshair anyatânavacchedât
55. Târakam sarva-vishayam sarvathâ-vishayam
56. Sattva-purushayoh shuddhi-sâmye kaivalyam

Einführung drittes Kapitel : Vibhuti Pada – Außergewöhnliche Kräfte     Zurück zum dritten Kapitel

Die beiden ersten Kapitel handeln von Samadhi Pada, der Theorie des Geistes und Sadhana Pada, der spirituellen Praxis.

Das zweite Kapitel hatte drei Hauptthemen:

· Kriya Yoga und Kleshas, die Überwindung des Leidens durch bestimmte Techniken
· Die Lebenseinstellung des Yogis aus der Samkhya-Philosophie heraus. Karma, Identifikation, Unterscheidung: Was bin ich und was bin ich nicht?
· Die Ashtangas, die acht Stufen des Yoga, – der berühmteste Teil der Raja Yoga Sutras. Die ersten fünf davon, Yama, Nyama, Pranayama, Asana und Pratyahara werden im zweiten Kapitel abgehandelt, die letzten drei, Dharana, Dhyana und Samadhi, sind Thema des dritten Kapitels.

Das dritte Kapitel nennt sich Vibhuti Pada. Vibhuti sind kosmische Kräfte. Von Swami Vishnu wird Vibhuti als „göttliche Manifestationen der Kraft“ übersetzt. Gemeint sind die übernatürlichen Fähigkeiten.

Patanjali beschreibt im dritten Kapitel, was geschieht, wenn man in der Lage ist, den Geist wirklich zu konzentrieren. Die Wirkungen der Samyama-Technik (die gleichzeitige Praxis von Konzentration, Meditation und Samadhi) führen im Idealfall bis zu Sarvikalpa Samadhi.

Das dritte Kapitel wird oft stiefmütterlich behandelt, auch das Buch „Meditation und Mantras“ von Swami Vishnu enthält verhältnismäßig wenig Kommentare dazu. Er hat aber in unserer Fortgeschrittenen–Lehrerausbildung erheblich mehr dazu gesagt.

Das dritte Kapitel ist nämlich nicht nur für fortgeschrittene Yogis, welche in der Lage sind, zu Samadhi zu kommen. Es gibt dort eine ganze Reihe von sehr wertvollen, speziellen Techniken zur Kontrolle des Geistes und zur Anwendung geistiger Fähigkeiten, die auch weniger Fortgeschrittene im Sinne der Konzentration auf etwas praktizieren können. Wenn wir uns ganz bewusst auf etwas konzentrieren, bekommen wir Prajna, das Wissen über diese Sache und wir bekommen Jaya, Herrschaft darüber. Das ist eine Technik, wie wir mit verschiedenen Problemen, Schwierigkeiten, Hindernissen und Krankheiten umgehen können. Durch Konzentration können wir Wissen über die Sache oder über ihre Ursache erlangen und die Situation vielleicht schon allein dadurch ändern.

An einer Stelle warnt Patanjali davor, diese Kräfte nicht zu missbrauchen und aufzupassen, dass man sie nicht als Zerstreuungen des Geistes benutzt.

Die westliche Psychologie hat schon eine ganze Reihe der Techniken von Patanjali aufgegriffen: Die Tiefenpsychologie hat einiges übernommen, ebenso die humanistische und die Verhaltenspsychologie. Auch Methoden wie NLP (Neurolinguistisches Programmieren), Mind Control, Positives Denken sind praktisch Raja Yoga Techniken.

Trotzdem ist das dritte Kapitel eigentlich bisher nahezu unerforscht und es gibt hier noch vieles an sehr schönen und wirkungsvollen Techniken zu entdecken.

1. Desha-bandhash chittasya dhâranâ     Zurück zum dritten Kapitel

desha = Ort, Stelle; bandhah = bindend, begrenzend; chittasya = des Verstandes; dhâranâ = Konzentration

Dharana ist das Fixieren des Geistes auf ein Objekt.

Dharana, Konzentration, bedeutet, den Geist auf ein einziges Objekt zu richten.

2. Tatra pratyayaikatânatâ dhyânam     Zurück zum dritten Kapitel

tatra = dort; pratyaya = Bewusstseinsinhalt; ekatânatâ = ununterbrochen als eines; dhyânam = Meditation, Kontemplation

Ein ungebrochener Fluss der Wahrnehmung zwischen dem Geist und den Objekten ist Dhyana, Meditation.

Wenn die Konzentration ungebrochen wird, dann ist es Dhyana. Dhyana ist volle Konzentration auf ein Objekt, vollständige Absorption, so dass man ganz in dieser Konzentration aufgeht.

Es ist eigentlich schwierig, das Wort Dhyana zu übersetzen. Meist wird es als Meditation übersetzt. Nur – Meditation ist ja in der ursprünglichen Bedeutung etwas anderes. Es kommt vom Lateinischen und bedeutet Nachdenken. Als Descartes im 17. Jahrhundert seine „Meditationes“ schrieb, hat er keine Meditationstechniken beschrieben, sondern tiefes Nachdenken über bestimmte Themen.

Wenn wir dagegen heute sagen, ich meditiere jetzt eine halbe Stunde, dann ist damit gemeint, wir setzen uns hin (Asana), regulieren den Atem (Pranayama), und ziehen die Sinne nach innen zurück (Pratyahara) und schließlich konzentrieren wir uns auf etwas (Dharana). Ob wir wirklich den Dhyana–Zustand erreichen oder nicht, können wir im voraus nie genau sagen. Dhyana ist, wenn die Konzentration anstrengungslos ist. Wenn wir zum Beispiel in der Meditation das Mantra „Om Namah Shivaya“ wiederholen und uns dabei bemühen müssen, unsere Konzentration bei der Mantrawiederholung zu halten, weil der Geist immer wieder wegwandert und wir ihn immer wieder zurückholen müssen, dann ist das Dharana. Ist der Geist vollkommen konzentriert, sind wir total absorbiert in der Meditation, und wiederholen „Om Namah Shivaya“, nicht bewusst mit absichtlicher Konzentration, sondern es wiederholt sich von selbst und wir sind ganz verschmolzen darin, dann ist es Dhyana.

Dieses Dhyana kann sogar außerhalb von reiner Meditation passieren. Das haben wir im Rahmen des ersten Aphorismus des zweiten Kapitels im Zusammenhang mit den fünf Zustandsformen des Geistes besprochen: Mudha, Kshipta, Vikshipta, Ekagrata und Nirodhah. Ekagrata, Einpünktigkeit des Geistes, in seiner niederen Ausprägung entspricht Dhyana, in der oberen Stufe Samprajnata Samadhi.

Wenn wir ganz konzentriert sind, auch in unserem täglichen Handeln, würde man das als Dhyana bezeichnen. Es ist das, was in der modernen Glücksforschung als Flow–Erlebnis bezeichnet wird: Man fließt mit der Sache, man handelt nicht, sondern es handelt durch einen hindurch. Das sind die Momente, wo der Mensch das Außergewöhnlichste leistet, sich vollkommen losgelöst und frei fühlt. Boris Becker hat in einem Interview einmal beschrieben, was während seiner besten Spiele in ihm abläuft: Er denkt nicht mehr, macht nichts mehr bewusst, es geschieht einfach. Das ist eine perfekte Beschreibung von Dhyana.

Dharana gibt es in zweierlei Formen: die angestrengte und die entspannte Konzentration. Wenn wir unter Zeitdruck stehen und etwas unbedingt in der nächsten halben Stunde fertig haben müssen, dann ist es die angestrengte Konzentration. Wenn wir in den Yogastunden entspannt sind oder uns mit unserem Hobby beschäftigen, dann ist es typischerweise die entspannte Konzentration. Die entspannte Konzentration kann zu Dhyana führen und einen richtig beleben. Die angespannte Konzentration kann zwar auch effektiv sein, aber sie führt zu Müdigkeit.

3. Tad evârthamâtra-nirbhâsam svarûpa-shûnyam iva samâdhih     Zurück zum dritten Kapitel

tadev (tat + eva) = das gleiche; artha = das Objekt; mâtra = nur; nirbhâsam = leuchtend; svarûpa = eigene Natur, wahre Form; shûnyam = leer; iva = als ob; samâdhih = überbewusster Zustand

Wenn das Bewusstsein des Subjektes und des Objektes verschwindet und nur die Bedeutung verbleibt, wird dies Samadhi genannt.

Das ist die Beschreibung von Sarvikalpa Samadhi. Eine noch höhere Stufe wäre Nirvikalpa oder Asamprajnata Samadhi, der dem Nirodhah-Zustand entspricht: vollkommene Gedankenstille, kein Gedanke mehr im Geist. Das ist das Ziel des Yoga. Darauf kommt Patanjali gegen Ende dieses Kapitels noch zu sprechen. Im 2. und 3.Vers des 1. Kapitels heißt es ja bereits: „Yogash chitta vritti nirodhah“ – „Yoga ist das Zur-Ruhe-Kommen der Gedanken im Geist“ und „Tadâ drashtuh svarûpe ¢vasthânam“ – „Dann ruht der Sehende in seinem wahren Wesen“.

Aber bevor wir dorthin gelangen, kommen wir durch verschiedene andere Zustände. Es reicht nicht aus, dem Geist zu befehlen: „Jetzt höre auf zu denken!“. Das klappt nicht so ganz. Manche Menschen schaffen es zwar, ihre Wortgedanken auszuschalten und glauben dann, sie würden an nichts denken. Das ist aber nicht wirklich Nirvikalpa Samadhi; sie sind nicht selbstverwirklicht. Wenn sie es wären, würde man das auch sonst an ihrem Verhalten merken. Ein Selbstverwirklichter ist schwer zu übersehen. Wenn man ihn anbrüllt, macht ihm das nichts aus. Wenn er sich den Fuß bricht, auch nicht. Wenn er einen Tag nichts zu essen hat, auch nicht. Wenn er jemanden sieht, dem es schlecht geht, dann wird er in Mitgefühl zerfließen und ihm alles geben, was er kann und hat. Manchen Menschen gelingt es, ihre Wortgedanken zur Ruhe zu bringen, dann sind aber immer noch Bilder und Gefühle da. Und manchen gelingt es, Worte und Bilder zur Ruhe zu bringen, aber dann haben sie alle möglichen Gefühle.

Es gibt drei Grundbestandteile von Gedanken: Worte, Bilder und Gefühle, die normalerweise zusammenspielen. Bei manchen Menschen überwiegt ein Aspekt deutlich. Manche sind mehr gefühlsmäßig orientiert, andere eher visuell und wieder andere sprechen mehr auf das Hören an. Man spricht auch von optisch (sehen), auditiv (hören) und kinästhetisch (fühlen) orientierten Menschen. Etwas von Gefühl zu sagen würde zu unwissenschaftlich klingen, deswegen nennt man es kinästhetisch. So weiß wenigstens keiner, was damit gemeint ist.

Darüber hinaus gibt es noch einen vierten Bestandteil der Gedanken, und das ist die eigentliche Bedeutung. Normalerweise gehören alle drei oben erwähnten Bestandteile dazu, um eine Bedeutung zu erfahren. Wenn ich zum Beispiel „Uhr“ sage, was seht ihr dann vor dem geistigen Auge? – Ihr seht irgendeine Uhr vor euch: ein Zifferblatt, eine Armbanduhr, einen Wecker, eine Bahnhofsuhr, meinetwegen auch eine Standuhr oder eine Kuckucksuhr. Und mit dieser Vorstellung ist eine bestimmte Emotion verbunden. Jeder Gedanke beinhaltet eine Emotion. Außer in Sarvikalpa Samadhi gibt es keinen Gedanken ohne Emotion. Wenn ich jetzt zum Beispiel sage: Handgranate, dann hat das eine andere Emotion als die Uhr oder eine Salzkristalllampe, das hat nochmals eine andere Emotion. Für mich erst seit gestern, vorher wusste ich nicht, was das ist. Wer es nicht weiß: das sind diese leuchtenden, wunderschönen Steinlampen. Sie geben erstens ein schönes Licht ab und zweitens soll der Salzkristall alle möglichen Chemikalien, Computerstrahlungen, schädliche Ionen usw., neutralisieren. Wenn man etwas einmal gesehen hat und hört dann das Wort dafür, dann entsteht das Bild des Gegenstandes vor dem geistigen Auge und es ist auch eine Emotion damit verbunden.

Was in Sarvikalpa Samadhi passiert, ist, dass das Bewusstsein von Subjekt und Objekt verschwindet, nur die reine Bedeutung bleibt. Wort, Bild und Gefühl verschwinden. Könnt ihr euch darunter etwas vorstellen? Ich hoffe nicht, denn man kann sich eigentlich nichts darunter vorstellen. Aber wahrscheinlich habt ihr eine Ahnung davon, was damit gemeint sein könnte. Habt ihr so einen Zustand schon einmal erlebt? Es kann zum Beispiel passieren, wenn man in der Meditation ein Mantra wiederholt. Wenn wir uns bemühen, uns zu konzentrieren, ist es Dharana. Wenn wir in das Mantra absorbiert sind, ist es Dhyana.

Wenn plötzlich das Mantra aufhört und vielleicht ein Bild da ist, ist das der Übergang von Dhyana zu Sarvikalpa Samadhi. In dem Moment kann man eine Vision Gottes haben oder es können Bilder entstehen. Nicht jedes Bild oder jede innere Vision muss ein Zeichen für diesen Übergang sein, aber es kann so sein. Und wenn dann plötzlich das Wort verschwindet, auch das Bild verschwindet und kein konkretes Gefühl mehr da ist, man aber in der Essenz des Mantras drin ist, dann hat man Sarvikalpa Samadhi erreicht. Dann existiert auch nicht mehr die Vorstellung oder das Bewusstsein: „Ich wiederhole das Mantra“ oder „Ich will das Mantra wiederholen“, es gibt noch nicht einmal das Gefühl: „Da ist ein Mantra“, sondern man verschmilzt mit der Essenz der Bedeutung des Mantras.

In der Mantra-Theorie finden wir das in ähnlicher Form beschrieben. Dort gibt es vier verschiedene Ebenen von Mantras:

· Para  = Wenn man in die Essenz hineingeht
· Pasyanti  =  die telepathische Sprache, also wenn man dabei ein inneres Bild oder Gefühl hat
· Madhyama  =  die geistige Wiederholung
· Vaikhari =  das gesprochene Mantra

Das gilt allgemein für die Sprache, aber bei Mantras natürlich besonders. Wenn man zum Beispiel in einem anderssprachigen Land lebt, dann übersetzt man ein Wort, das man hört, im Geist zuerst ins Deutsche. Das äußerlich gesprochene Wort ist eine andere Sprache als die innerliche. Aus dem innerlichen Wort entstehen ein Bild und ein Gefühl und aus allem zusammen bekommen wir eine Ahnung der Bedeutung. Wenn wir ein Mantra wiederholen, wiederholen wir es erst laut, dann geistig, verbinden es vielleicht mit einem Bild, einer Visualisierung und dann kommt ein inneres Gefühl dafür. Das Gefühl ist jenseits einer konkreten Sprache, es ist für alle Menschen identisch. Und darüber kommen wir irgendwann zur Bedeutung. Wir erfahren die Bedeutung.

Jetzt sage ich euch ein Wort, mit dem ihr nichts anfangen könnt, zum Beispiel „Jala“. Was für ein Bild entsteht da bei euch? – Wahrscheinlich gar keines und ihr fühlt euch verwirrt. „Jala“ heißt Wasser. Jetzt wiederhole ich noch einmal „Jala“. Was geschieht jetzt? Plötzlich ist das Wort mit eurem Bild und Gefühl für Wasser verbunden. Ein Wort, bei dem nichts auf der Pasyanti–Ebene geschieht, kein Bild oder Gefühl auftritt, schafft keine Bedeutung für uns.

In Dharana gibt es normalerweise Worte, Bilder und Gefühle. In Dhyana werden typischerweise die Worte weniger, es sind eher Bilder oder Gefühle da und wir sind in der Pasyanti-Ebene. Wir fließen mit den Bildern und Gefühlen mit. Deshalb haben Gefühlsmenschen oft in der Meditation schneller Erfahrungen als Wortmenschen. Dem Intellektuellen fällt es oft sehr schwer, den Geist abzuschalten. Er denkt die ganze Zeit. Wer aber sowieso eher ein Gefühlsmensch ist, der macht schnellere Sprünge bis zu Pasyanti. Allerdings heißt das nicht, dass er auch schneller Samadhi erreicht. Denn der weniger gefühlsbetonte Mensch muss sich so anstrengen, bis er überhaupt einmal ein einigermaßen befriedigendes Meditationserlebnis erreicht, dass er seinen Willen bis dahin schon soweit geschult hat, dass er auch die nächsten Stufen noch gehen will. Währenddessen die emotionellen Menschen es relativ zügig schaffen, zu einer schönen Meditation zu kommen, aber oft fehlt ihnen die Ausdauer für die zusätzliche Willensanstrengung, die man braucht, um wirklich zu den höchsten Erfahrungen zu kommen. Oder sie genießen die schönen Erlebnisse in der Meditation so, dass sie gar keine Lust haben, diese zu überwinden und weiterzukommen.

Daneben spielt auch die Subjekt-Objekt-Trennung eine Rolle.

Solange wir in Vaikhari (das gesprochene Mantra) und Pasyanti (telepathische Sprache) sind, gibt es ein Objekt, dessen wir uns bewusst sind. Es gibt ein Ich. Dieses Ich hat einen Gedanken und über diesen Gedanken kommen wir zur Bedeutung des Objektes. Die Para-Ebene, die eigentliche Essenz, die Bedeutung eines Gegenstandes, können wir so, von außen, nicht wahrnehmen, sondern unser Bewusstsein muss mit der Essenz des Gegenstandes verschmelzen. Nur dann erfahren wir den Gegenstand, seine Bedeutung.

Es gibt kein objektives Wahrnehmen. Die Wahrnehmung geschieht immer über die Sinne und den Geist und ist damit gefärbt durch Vrittis (Gedankenwellen), unser Unterbewusstsein und alle möglichen wahrnehmungstheoretischen Abläufe. Ein einfaches Beispiel: Wenn es einem gesundheitlich einmal nicht so gut geht, angenommen, man hat starke Kopfschmerzen, dann erlebt man einen Tag, eine Situation, ganz anders als jemand, dem es gut geht oder als man selbst in einer guten Verfassung. Der Geist prägt die Erfahrung erheblich. Aber wenn wir nicht mehr durch den Geist wahrnehmen, sondern mit unserem Bewusstsein in die Essenz der Sache hineingehen, dann können wir sie direkt wahrnehmen, ohne subjektive Färbung. Das ist dann die objektive, direkte Wahrnehmung, von der Patanjali im ersten Kapitel gesprochen hat. Und das geschieht eben in Sarvikalpa Samadhi.

In Samadhi verschwinden also die Vrittis (Gedanken), so wie wir sie kennen. Wir haben keine Wortgedanken mehr, keine Bildgedanken mehr, keine emotionellen Gedanken mehr. Es verbleibt nur die reine Bedeutung des Objekts. Dabei verschwinden Subjekt und Objekt, das heißt, wir verschmelzen mit unserem Bewusstsein mit diesem Objekt, sind uns in dem Moment unserer selbst nicht mehr als Subjekt bewusst. Auf diese Weise bekommen wir zwei Dinge, nämlich Jaya, Herrschaft und Prajna, Wissen.

4. Trayam ekatra samyamah     Zurück zum dritten Kapitel

trayam = die drei; ekatra = vereint; samyamah = Samyama (ein technischer Ausdruck, der die drei Begriffe Dharana, Dhyana und Samadhi umfasst)

Die Übung dieser drei zusammen ist Samyama.

Wenn Dharana, Dhyana und Samadhi aufeinander folgen, ist es Samyama. Man kann Samyama auch definieren als eine bestimmte Form der Konzentration, die, wenn wir sie perfektionieren, zu Samadhi führt.

Samyama heißt die Konzentration auf eine Sache, ohne darüber nachzudenken, ohne darauf zu reagieren, ohne zu beurteilen und ohne zu analysieren.

Normales Dharana wäre durchaus auch, den Gegenstand anzuschauen und zu beurteilen, zum Beispiel eine Uhr anzuschauen, festzustellen: Sie ist schwarz oder grün, sie ist schön, die Zifferblätter leuchten, das Band ist aus Plastik oder Leder usw.

Die Samyama-Konzentration bemüht sich, die Uhr einfach wahrzunehmen, zu erfassen, zu spüren, zu fühlen. Natürlich sieht man sie auch, man kann am Anfang auch noch das Wort Uhr wiederholen, aber man hält einfach die volle Konzentration bei der Uhr und bei nichts anderem. Und zwar ohne zu beurteilen: Das ist eine schöne Uhr. Das ist eine hässliche Uhr. Das ist meine Uhr. Ohne zu reagieren: Oh, der Sekundenzeiger geht nicht, da muss ich etwas daran machen. Oh, es ist schon zehn Uhr. Wir reagieren nicht, wir analysieren nicht, wir urteilen nicht, wir beurteilen nicht, sondern wir gehen einfach in die Uhr hinein. Das ist eine Übung von Samyama, eine spezifische Form von Dharana, die irgendwann zu Dhyana und schließlich zu Samadhi führt.

5. Tat-jayât prajnâlokah     Zurück zum dritten Kapitel

Tat-jayât = durch seine Beherrschung (tat = das; jaya = Herrschaft) prajnâ = das höhere Bewusstsein; âlokah = Licht (prajnâ = Wissen; loka = Ebene; prajnâlokah = Ebene des direkten Wissens)

Aus seiner (des Samyama) Meisterung entspringt das Licht des direkten Wissens.

Wenn wir Samyama auf irgendeine Sache ausführen, bekommen wir das volle Wissen und die volle Meisterschaft darüber.

Eine ganz praktische Anwendungstechnik: Angenommen, ihr wollt die Uhr reparieren. Ihr könnt jetzt Samyama auf die Uhr ausführen. Ihr konzentriert euch ganz auf die Uhr. Ihr versucht, die Uhr zu erspüren. Und schließlich versucht ihr, mit der Uhr zu verschmelzen. So geht ihr in die Essenz der Uhr hinein. Und dann wißt ihr plötzlich, was an der Uhr kaputt ist. Das ist eine Vorstufe. Und wenn ihr aus Samyama herauskommt, wißt ihr, was ihr machen müsst, um die Uhr wieder zum Laufen zu bringen. Oder, wenn ihr noch tiefer in Samyama hineingeht, repariert ihr die Uhr, ohne etwas zu tun. Allein dadurch, dass ihr euch auf die Uhr konzentriert, könnt ihr die Uhr beherrschen. Gerade wenn ihr dabei seid, wieder herauszukommen – solange ihr drin seid, tut ihr nichts, ihr seid nur darin verschmolzen –, im Moment des Übergangs, könnt ihr die Uhr verändern. Das gilt für jedes beliebige Objekt.

Frage: Wie kommt man überhaupt in diesen Zustand? Von selbst?

Antwort: Ja, von selbst. Das geschieht.

Frage: Wie kommt man denn wieder heraus? Es ist ja kein Beobachter da, der sagt, jetzt hör mal auf …

Antwort: Nein, es ist kein Beobachter da. Weshalb Yogis sich normalerweise vorher Suggestionen geben, um von einer unterbewussten Ebene her wieder herauszukommen.

Swami Vishnu hat sich einmal die Knie ruiniert, weil er acht Stunden am Stück meditiert hat. Anschließend konnte er nicht mehr gehen. Während der Meditation hat er halt nichts gespürt und ist so lange sitzen geblieben. Es war auch nicht so schlimm, es war nur vorübergehend. Später konnte er wieder gehen. Normalerweise ist man in Samadhi auch beschützt. Aber er hat uns schon auch gewarnt und gesagt: „Wenn man in tiefe Meditation geht, soll man das schrittweise machen und seinem Unterbewusstsein im Voraus sagen, wie lange man meditieren will.“ Über zwei Stunden sollte man zunächst nicht hinausgehen.

Aber in Swami Sivanandas Tagebuch, das man später gefunden hat, stand sogar: „Meditation erhöhen, 12, 14, 16 Stunden am Stück“

Aber nehmen wir einmal das Beispiel mit dem Knie. Angenommen, wir haben ein Knieproblem. Da könnten wir Verschiedenes machen: Wir könnten Kriya Yoga machen, also über Tapas (Askese), Swadhyaya (Selbststudium), Ishwara Pranidhana (Hingabe an Gott) erst einmal logisch analysieren, was passiert ist, was den Schmerz ausgelöst haben könnte. Wir können Röntgenbilder anfertigen oder eine Magnetresonanztomographie machen lassen, durch Tasten etwas Genaueres herauszufinden versuchen, Fachbücher lesen – also Selbststudium, Befragung. Wir können auch etwas tun, Tapas: Sei es dass wir warme Umschläge machen, die Stelle einsalben, die Hände auflegen, Energie hinschicken, das Om-Tryambakam-Heilmantra wiederholen, Kohlwickel darauf geben oder operieren lassen. Und wenn alles nichts nützt und der Arzt feststellt, dass es sich um eine degenerative Krankheit wie Arthritis, Arthrose oder Rheuma handelt, dann kann man nochmals alles Mögliche ausprobieren. Zum Beispiel Fasten, auf Trennkost oder Rohkost oder ayurvedische Ernährung umsteigen usw. Und wenn das alles nichts nützt, kommt die nächste Stufe, Ishwara Pranidhana, die Hinwendung zu Gott: Loslassen. Erkennen: Damit muss ich leben, das ist meine Aufgabe, mein Dharma, irgendwie wird es auch seine Richtigkeit haben.

Aber jenseits von Tapas, etwas tun, Swadhyaya, analysieren und Ishwara Pranidhana, loslassen, gibt es als vierte Möglichkeit Samyama, die volle Konzentration auf das Knie. Wir versuchen, das Knie zu spüren, in es hineinzugehen, mit dem Knie zu verschmelzen. Und wenn es uns wirklich gelingt, uns ganz in das Knie hineinzuversetzen, wenn wir fühlen: Ich bin das Knie – nicht mehr: Ich beobachte nicht nur das Knie, sondern ich bin das Knie –, wenn wir alles Bewusstsein dort hineingeben, dann wissen wir vielleicht nachher, was dem Knie fehlt und was wir tun können. Es kann auch sein, dass allein die Tatsache, dass wir mit vollem Bewusstsein in dem Knie sind und das Knie ganz erfahren, uns dauerhaft von allen Knieproblemen heilt. Wichtig ist, hineinzugehen ohne zu denken: Wie furchtbar, wie kann das sein, ich mache jetzt seit zwanzig Jahren Yoga, ernähre mich vegetarisch, mache Sport – und trotzdem habe ich Knieprobleme. Das kann nicht sein. Warum ich?“ oder „Was habe ich schon wieder falsch gemacht? Immer mache ich etwas falsch“. All diese Gedanken müssen weg. Einfach volle Konzentration auf das Knie, ohne zu urteilen, ohne zu analysieren. Aus der vollen Konzentration kann direktes Wissen kommen.

Man kann also die Samyama-Technik zum Beispiel anwenden bei Krankheiten. Bei eigenen Krankheiten, aber auch bei Krankheiten von anderen Menschen. Gute Ärzte sind eigentlich die Ärzte, die eine Krankheit und den Menschen als Ganzes intuitiv erspüren. In der Medizin wird das selten erwähnt, aber es gibt ausreichend Untersuchungen darüber. Ein guter Arzt ist nicht der wissenschaftlichste Arzt, sondern derjenige, der ein Gespür für den Menschen hat. Er stellt Fragen, schaut den Menschen an und erfasst dann in etwa, was falsch ist, was nicht stimmt. Es gibt auch heute solche Mediziner, die man mehr als Heiler denn als Ärzte bezeichnen müsste. Ein zweites Merkmal eines guten Arztes ist, dass er den Placebo-Effekt gut zu nutzen weiß.

Nach der Meinung des Vorsitzenden der englischen Ärzteschaft beruht bei einer normalen Medizin 90 % der Wirkung auf dem Placebo–Effekt, nur 10 % auf der chemischen Zusammensetzung. Die englischen Ärzte haben auch keine Berührungsängste mit Naturheilkunde. In den Krankenhäusern gibt es offiziell angestellte Heiler, die Hände auflegen und alles mögliche andere. Vielleicht macht sich da auch der Einfluss von Prinz Charles bemerkbar. Über ihn wird ja viel gelästert, aber wenig bekannt ist, dass er selbst ökologischen Landbau betreibt und fördert und dass er Schutzpatron der Parapsychologischen Gesellschaft in England ist. Das englische Königshaus tut einiges, um diesen Aspekt zu fördern. Also, ein guter Arzt spürt, fühlt und macht mehr oder weniger Samyama auf den Patienten, wenn auch nur ganz kurz.

Man kann die Samyama-Konzentration auch in den Hatha Yoga-Übungen anzuwenden. Eigentlich kann man sie generell überall einsetzen. Zum Beispiel auch, wenn Menschen mit verschiedenen Beschwerden und Krankheiten in eine Yogastunde kommen. Eine Reaktionsmöglichkeit wäre zum Beispiel, den Menschen zu spüren, zu fühlen. Man kann sich auch innere Fragen stellen und versuchen, das Unterbewusstsein oder das Überbewusstsein daran arbeiten zu lassen.

Wenn jemand in der Familie oder im Freundeskreis irgendwelche Schwierigkeiten hat, kann man versuchen, sich in ihn hineinzuversetzen, in die Krankheit, in das Problem hineinzuspüren. So kann man Wissen über das Problem erlangen und vielleicht auch Wissen über die Heilung oder Lösung. Und angenommen, man wäre in der Lage, in Samadhi hineinzukommen, dann könnte man die Krankheit des Menschen sogar heilen. Wobei hier Yogis sagen würden, das könnte auch ein Missbrauch der Kraft sein, denn ein Yogi wendet die Siddhis nicht an, sie sind eine große Versuchung. Deshalb ist das alles ein zweischneidiges Schwert. Für sich selbst ist es sicher in Ordnung – letztlich ist es unsere Aufgabe, unseren Körper gesund zu halten. Wir haben diesen Körper bekommen und müssen uns um ihn kümmern. Uns selbst können wir mit Samyama auch heilen, da spricht nichts dagegen.

Im Hatha Yoga, in der Phoenix Rising-Therapie und bei manchen Psychotherapien, wo man versucht, einfach nur zu erspüren, wendet man die Samyama-Technik an. Bei den Therapien wird es oft dann aber auch in Worte gefasst. Wenn man es überhaupt nicht in Worte fasst, sondern einfach nur mit dem Bewusstsein voll hineingeht, dann kommt man zur Essenz der Sache.

Aber natürlich ist nicht jedes intuitive Gespür gleich Samyama. Wir hatten ja von den drei Formen der direkten Wahrnehmung gesprochen: Es gibt die Sinneswahrnehmung, die instinktive Wahrnehmung und die überbewusste Wahrnehmung, die eben aus Samyama kommt.

Frage: Darf man andere nicht heilen, auch wenn es gut für sie ist?

Antwort: Wir müssen aufpassen. Ein großer Meister könnte alle heilen, wenn er wollte. Er tut es aber nicht, wenn er merkt, das ist jetzt nicht seine Aufgabe und in dem Moment auch nicht im Karma der Menschen. Das heißt, man muss vorher das Göttliche anrufen und fragen: „Bitte hilf mir, wenn Heilen jetzt das Richtige ist und halte mich ab, wenn es jetzt nicht das Richtige ist.“ Wir müssen diese Demut haben. Ein ganz großer Meister wird sich nicht mehr um den Körper kümmern und nicht einmal mehr seinen eigenen Körper heilen. Er wird das machen, was notwendig ist und sagen: Gottes Wille geschehe. Ob der Körper gesund ist oder nicht, spielt aus dieser Sicht nicht so eine große Rolle. Wenn er noch Karma hat, das er ausarbeiten, ausleben muss, wird er gesund erhalten, wenn er kein Karma mehr hat, eben nicht. Er wird den Körper natürlich auch nicht missbrauchen, denn dazu gibt es auch wiederum keine Veranlassung, aber wird auch nicht so besorgt um ihn sein. Denn für einen großen Meister spielt es keine Rolle, ob er noch im Körper ist oder woanders, ob der Körper Schmerzen hat oder nicht – was ist der Unterschied? Er fühlt das ganze Universum. Wieso sollte er jetzt dieser einen Zelle so viel mehr Aufmerksamkeit schenken! Aber das liegt, glaube ich, noch eine gute Weile vor uns!

Samyama ist eine entspannte Konzentrationsform, Konzentration auf eine Sache an sich, die im Idealfall bis zu Samadhi führt. Als typische Yoga-Aspiranten werden wir normalerweise nicht geradewegs in Samadhi eingehen, wenn wir uns um Samyama bemühen. Deshalb werden auch die Wirkungen nicht gleich so weitreichend sein wie von Patanjali beschrieben, aber es werden sich doch gewisse Wirkungen einstellen, die in diese Richtung gehen. Deshalb kann man auch als normaler Aspirant diese Konzentrationstechniken benutzen. Wir können sie nutzen, wir können sie gebrauchen – nur müssen wir aufpassen, dass wir sie nicht missbrauchen. Es sind nämlich sehr, sehr machtvolle Techniken.

Man sollte sich allerdings nicht einzig und allein auf diese Technik spezialisieren. Ich hatte einmal in einem Raja Yoga-Kurs eine Teilnehmerin, die sagte, sie halte nichts von Affirmationen (Bejahung, Zustimmung, Bekräftigung), Visualisierung und Geisteskontrolle. Das einzig Notwendige sei es, den Geist auf etwas zu konzentrieren, ohne zu beurteilen. Wenn sie nicht so viele psychische Probleme gehabt hätte, hätte ich sie bei dem Glauben gelassen. So habe ich versucht, ihr klarzumachen, dass das allein nicht alle anderen Techniken ersetzen kann, mit denen man an sich selbst arbeiten sollte. Es gibt eine gewisse Gefahr dabei. Wenn man in bestimmte unangenehme psychische Zustände wie Depression, Trauer und ähnliches, mit dem ganzen Bewusstsein hineingeht, kann es zwar sein, dass es hilft, aber es kann genauso gut sein, dass es stattdessen noch tiefer in diese Zustände führt.

In vielen Situation muss man auch erst einmal prüfen, ob man nicht die anderen Techniken anwenden kann, die Patanjali in den vorherigen Kapiteln erwähnt hat. Wir können zum Beispiel unseren Geist ablenken, an etwas anderes denken, an einen Aspekt der Wahrheit. Ihr erinnert euch an das erste Kapitel: Wenn Hindernisse im Geist kommen, sollte man sich auf einen Aspekt der Wahrheit konzentrieren.

Oder im zweiten Kapitel die Anwendung von Tapas (Askese), Swadhyaya (Selbststudium), Ishwara Pranidhana (Hinwendung zu Gott): versuchen, etwas zu begreifen, zu studieren, zu verändern oder loszulassen, Hingabe an Gott, Gottesverehrung. Manchmal hilft es auch, die richtige Lebenseinstellung zu haben. Und manchmal ist es erforderlich und hilfreich, die ersten Stufen wie Yama (Nichtverletzen, Wahrhaftigkeit, Nichtstehlen, Enthaltsamkeit und Aufgabe von Gewinnsucht), Nyama (ethisch-moralische Regeln für unser Privatleben), Pranayama, Asana, Pratyahara (die Sinne nach innen zurück ziehen) bewusst zu kultivieren.

Pranayama bereitet den Geist für Dharana vor. Das sind die Voraussetzungen, um den Geist richtig reif zu machen für die höheren Stufen der Konzentration und Transzendation des Normalbewusstseins. Wenn wir hier im dritten Kapitel fortgeschrittene Techniken wie die Samyama-Konzentration kennen lernen, müssen wir uns bewusst sein, dass sie auf den vorhergehenden als Fundament aufbauen und dass sie die anderen Techniken nicht ersetzen, sondern ergänzen.

Allergroßartigste Yogis brauchen natürlich gar nichts. Sie bringen nur einfach den Geist zur Ruhe: Yogash chitta vritti nirodhah. Und um das zu erreichen, machen sie die Samprajnata-Meditation in den Stufen, wie wir es kennengelernt haben: Savitarka, Nirvitarka, Savichara, Nirvichara, Sasmita, Asamprajnata Samadhi.

6. Tasya bhûmishu viniyogah     Zurück zum dritten Kapitel

Tasya = seine; bhûmishu = in Stufen; viniyogah = Anwendung

Die Anwendung des Samyama (die gleichzeitige Praxis von Konzentration, Meditation und Samadhi) erfolgt in Stufen.

Das heißt zum einen: Eines geht ins andere über. Zum anderen: Wir können unseren Fortschritt nicht erzwingen. Es geschieht schrittweise. Aber es heißt auch, wir können Samyama üben, selbst wenn wir nicht in Sarvikalpa Samadhi sind. Der Fortschritt kommt allmählich, eine Stufe nach der anderen.

7. Trayam antar-angam pûrvebhyah     Zurück zum dritten Kapitel

Trayam = drei; antar-angam = innerer, innerlich; pûrvebhyah = in Bezug auf die vorangegangenen

Diese drei sind innerlicher als die vorhergehenden.

Dharana, Dhyana und Samadhi sind innerlicher als die ersten fünf Stufen des achtstufigen Yoga, nämlich Yama, Nyama, Pranayama, Asana und Pratyahara (Abziehen oder Zurückziehen der Sinne).

8. Tad api bahir-angam nirbîjasya     Zurück zum dritten Kapitel

Tat = das; api = auch; bahi–angam = äußerlich; nirbîjasya = samenlos (Samadhi)

Aber sogar diese sind äußerlich (verglichen) mit dem samenlosen Zustand.

Nirbija, ohne Samen, ist ein anderer Ausdruck für Asamprajnata Samadhi oder Nirvikalpa Samadhi.

9. Vyutthâna-nirodha-samskârayor abhibhava-prâdurbhâvau nirodha-kshana-chittan-vayo nirodha-parinâmah     Zurück zum dritten Kapitel

Vyutthâna = ausgehend (ersetzend, was zu verschwinden hat); nirodha = eingehend (das, was dem ausgehenden Eindruck entgegengesetzt ist); samskârayoh = von den Eindrücken; abhibhava = Unterdrückung, latent werdend; prâdurbhâvau = Erscheinung; nirodha-kshana = der unveränderte Gemütszustand im Augenblick der Unterdrückung; chitta = Verstand; anvayah = Durchdringung; nirodha = Unterdrückung; parinâmah = Umwandlung

Durch den ständigen Ersatz von störenden Gedankenwellen durch solche der Kontrolle wird der Geist transformiert und erlangt Meisterschaft über sich selbst.

Auch das geschieht wieder Schritt für Schritt. Wir lassen eine störende Gedankenwelle nach der anderen verschwinden, so dass irgendwann diese Nirodha-parinamah entsteht. Parinamah bedeutet eine Veränderung, eine Transformation. Nirodha-parinamah ist also die Transformation des Geistes, die dazu führt, dass wir irgendwann immer in Nirodhah, im Zustand frei von gedanklichen Ablenkungen, sein können, wenn wir wollen. Aber das geschieht eben dadurch, dass wir eins nach dem anderen beherrschen.

Ein Beispiel, das Swami Vishnu gerne gebraucht hat, war: Angenommen, man wollte ein farbiges Meditationstuch in ein goldenes Tuch umwandeln. Was müsste man machen? – Einen Faden nach dem anderen durch einen Goldfaden ersetzen. Wie lange dauert das? – Sicher sehr lange. Wir bräuchten vielleicht geeignete Hilfsmittel dazu wie Nadel, Faden, eine Lupe. Aber in einem Jahr oder so hätten wir es geschafft.

Natürlich könnte man sagen: Dann schaffe ich mir doch gleich ein goldenes Tuch an, wozu soll ich die anderen Fäden erst alle mühsam herausziehen und ersetzen. Aber genau das ist die Schwierigkeit mit unserem Geist. Wir können nicht sagen, ich lege diesen Geist ab und schaffe mir gleich einen ganz neuen an, der „richtig“ funktioniert. Das klappt nicht. Wir müssen diesen Geist ganz allmählich zu einem goldenen Geist machen. Und das machen wir, indem wir eine Gedankenwelle nach der anderen ersetzen. Schrittweise lassen wir die alten tamasigen und rajasigen Wünsche langsam weg und ersetzen sie durch sattwige Wünsche. Wir schaffen Furchen für positive, geduldige, verständnisvolle, liebevolle Reaktionen des Geistes auf irgendwelche Zumutungen oder scheinbare Zumutungen unserer Umwelt und anderer Menschen. Und das wird langsam zu einem neuen Teil unseres Geistes, unserer Persönlichkeit.

Natürlich müssen wir im Laufe der Entwicklung auch die sattwigen Wünsche und Gedanken überwinden, wie Krishna schon im 2. Kapitel der Bhagavad Gita zu Arjuna sagt: „Überwinde Rajas und Tamas und mache deinen Geist sattwig. Hänge aber an keinen Gunas (Sattwa=Reinheit, Rajas=Unruhe, Tamas=Trägheit).“

So bekommen wir schließlich einen Geist, der insgesamt beherrschbar ist. Zum Schluss erreichen wir volles Nirodhah, aber vorher kommt Kshana-chittan-vayo, die Herrschaft über den Geist. Diese Herrschaft über den Geist führt zum dauernden Nirodhah, dem Zur-Ruhe-Kommen der Gedanken im Geist.

10. Tasya prashânta–vâhitâ samskârât     Zurück zum dritten Kapitel

Tasya = sein (des Nirodha–Parinâma); prashânta = ruhig, ungestört; vâhitâ = Fluss; samskârât = durch (wiederholten) Eindruck

Sein Fluss wird durch Wiederholung ungestört.

Wenn wir regelmäßig unsere Gedanken beherrschen, positive Gedanken erzeugen, dann führt das schließlich zu einem ungestörten Fluss.

Den Geist zu erziehen ist wie einen Hund zu erziehen. Wenn man in der Erziehung konsequent ist, dann macht er alles, was man will. Wenn man inkonsequent ist, hat man ein ständiges Tauziehen. Und das ist weder für den Hund noch für den Menschen gut. Kindererziehung ist wieder etwas anderes, denn wir wollen unsere Kinder ja nicht dressieren. Außerdem lässt sich der Mensch glücklicherweise nicht dressieren. Wir hatten in diesem Jahrhundert genügend Experimente, wo Diktatoren versucht haben, ihre Untertanen umzuerziehen. Es hat nicht geklappt. Das einzige, was sie geschafft haben, war, den Glauben an Gott zu ruinieren. Das ist zum Beispiel der Hauptunterschied zwischen Ost- und Westdeutschen. In West-Deutschland glauben 73 % der Menschen an Gott, in Ostdeutschland nur 20 %. In den letzten Jahren ist die Tendenz allerdings wieder leicht steigend.

Man kann den Menschen nicht dressieren, weil wir nicht nur Samskaras (Eindrücke aus früheren Leben) haben, sondern auch Buddhi (Intellekt, Vernunft). Es ist auch nicht Aufgabe der Kindererziehung, das Kind zu dressieren. Aber ein Hund hat kein Buddhi, deshalb kann man ihn abrichten. Und unseren unterbewussten Geist, die Teile des Geistes, die im Unterbewussten sind, nämlich Manas und Chitta, und die uns zunächst einmal stören, können wir auch abrichten. Wenn dieser Teil des Geistes langsam beherrscht ist, wird er zu unserem gehorsamen Diener. Wir fühlen uns dann wohl und der unterbewusste Geist fühlt sich auch wohl.

11. Sarvârthataikâgratayoh kshayodayau chittasya samâdhi–parinâmah     Zurück zum dritten Kapitel

Sarvârthatâ = auf vieles gerichtet, Zustand mentaler Zerstreutheit; ekâgratayoh = Sammlung, Konzentration; kshayodayau = Verfall und Aufstieg; chittasya = des Verstandes; samâdhi = überbewusster Zustand; parinâmah = Wandlung

Die Transformation, die zur Fähigkeit, in Samadhi einzutreten, führt, entsteht allmählich durch das Ausschalten der Ablenkungen und Entwicklung der Konzentration auf einen Punkt.

Im Grunde genommen ist das eine Wiederholung dessen, was Patanjali im ersten Kapitel gesagt hat, nämlich die Praxis von Abhyasa (Übung) und Vairagya (Leidenschaftslosigkeit, Verhaftungslosigkeit).

12. Tatah punah shantoditau tulya-pratyayau chittasyaikâgratâ-parinâmah     Zurück zum dritten Kapitel

Tatah = dann; punah = wieder; shânta–uditau = gesunken und aufgestiegen; tulya = genau gleich; pratyayau = Kenntnisse, Verstandesinhalt in zwei verschiedenen Augenblicken; chittasya = des Verstandes; ekâgratâ = Sammlung, Konzentration; parinâmah = Wandlung

Die geistige Konzentration auf einen Punkt tritt ein, wenn die Inhalte des Geistes, die aufsteigen und vergehen, in zwei verschiedenen Augenblicken genau dieselben sind.

Dieser Aphorismus beschreibt noch einmal von einem anderen Standpunkt aus, was Sarvikalpa Samadhi ist. Ekagrata ist Einpünktigkeit des Geistes. Im Grunde genommen sind Sarvikalpa Samadhi und Ekagrata gleichbedeutend. Man kann auch sagen, Ekagrata hat zwei Stufen: die eine ist Dhyana, die zweite Sarvikalpa Samadhi. Das ist der Zustand, in dem zwei aufeinanderfolgende Gedanken gleich sind. Und das können sie nur dann wirklich sein, wenn unsere Aufmerksamkeit nicht zwischen Worten, Bildern und Emotionen hin- und herspringt, sondern das geht nur, wenn wir in der vollen Essenz eines Objektes sind.

13. Etena bhûtendriyeshu dharma-lakshanâ-vasthâ-parinâma vyâkhyâtâh     Zurück zum dritten Kapitel

Etena = durch dieses; bhûta = die Elemente; indriyeshu = in den Sinnesorganen; dharma = Eigenschaft; lakshana = Charakter; avasthâ = Zustand; parinâmah = Wandlung, Veränderung; vyâkhyâtâh = werden erklärt

Durch dies werden Veränderungen in der Form, der Zeit und dem Zustand der Elemente und der Sinnesorgane erklärt.

Wenn wir uns auf diese Weise konzentrieren, verändert sich unsere Wahrnehmung von Form, Zeit und Sinnesorganen. Wir nehmen nicht mehr Formen wahr, es gibt kein Zeitempfinden mehr, wir spüren die Elemente nicht mehr und die Sinnesorgane sind nicht mehr aktiv.

Zeit kann es nur geben, wenn Dinge sich verändern. Wenn zwei Gedanken identisch sind, gibt es keine Zeit mehr. Es gibt auch keinen Zustand und keine Sinneswahrnehmungen mehr, denn es gibt niemanden mehr, der etwas wahrnimmt.

In dem Maße, in dem wir in Ekagrata hineingehen, verändern sich all diese Dinge. So ist auch unser Geist nicht mehr durch sie begrenzt.

14. Shântoditâvyapadeshya-dharmânupâti dharmî     Zurück zum dritten Kapitel

Shânta = das Abgeklungene, Latente; udita = das Aufgekommene, Manifestierte; avyapadeshya = das Unmanifeste, in der Zukunft Liegende; dharma = die Eigenschaften; anupâtî = aufeinander bezogen, gemeinsam; dharmî = die Grundlage, der die Eigenschaften innewohnen

Es gibt eine Substanz, die durch alle Veränderungen der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft hindurch stetig bleibt.

Also bei all diesen Parinama, Veränderungen, bleibt etwas gleich, und das ist natürlich unser Selbst, Purusha oder der Atman.

15. Kramânyatvam parinâmânyatve hetuh     Zurück zum dritten Kapitel

Krama = Abfolge, Naturgesetz; anyatvam = Unterschied, Verschiedenheit; parinâma = Wandlung; anyatve = in Abänderung; hetuh = Ursache

Ursache der verschiedenen Umwandlungen sind die verschiedenen Naturgesetze.

Die Naturgesetze sind die Ursache für alles, was sich im Leben verändert. Sie sind auch die Ursache für das, was Patanjali als nächstes beschreibt, nämlich die sogenannten übernatürlichen Kräfte. Auch diese Kräfte sind Naturgesetze, aber eben auf einer anderen Ebene. Es sind überphysische Naturgesetze. Und sie sind nicht nur überphysisch, sondern auch überparapsychologisch, also überastral. Alle Umwandlungen unterliegen Naturgesetzen. Auch das, was scheinbar als Siddhis, übernatürliche Kräfte, bezeichnet wird, entspricht in Wahrheit der Natur – nur ist uns das nicht ohne weiteres einsichtig, weil es Gesetze auf einer anderen Ebene sind.

Hier machen wir einen kurzen Sprung zum ersten Vers des vierten Kapitels, wo Patanjali sagt, Siddhis werden als Ergebnis der Geburt, durch medizinische Kräuter, Mantras, Übungen der Selbstzucht oder durch Samadhi erreicht.

· Durch Geburt: Manche Menschen haben einfach von Anfang an irgendwelche übernatürlichen Fähigkeiten, wahrscheinlich, weil sie in früheren Leben viel spirituelle Praktiken gemacht haben und von daher weiter entwickelt sind.

· Durch medizinische Kräuter und Drogen: Das kennt man zum Beispiel bei schamanistischen Kulturen. Gewisse Kräuter und Essenzen bringen den Geist in einen anderen Bewusstseinszustand. Mittels Drogen kann man zu allen möglichen Bewusstseinserweiternden Zuständen und Erfahrungen kommen. Aber das ist eine gefährliche Sache, weshalb wir das im Yoga nicht anwenden.

· Dann natürlich Mantras, was in diesem Zusammenhang auch alle Formen von Zeremonien und Ritualen mit einschließt. Ich habe mal ein Feuerlauf–Ritual miterlebt. Zuerst wurden bestimmte Rituale gemacht. Anschließend konnte man über glühende Kohlen gehen, auch darin stehen oder sie in die Hand nehmen. Der Körper war immun gegen die Kraft des Feuers. Solche Veränderungen können mittels Ritualen oder auch durch Tapas, Askeseübungen, hervorgerufen werden, wobei eine intensive Asana- und Pranayamapraxis von Patanjalis Standpunkt aus bereits zur Askese zählt. Oder auch Fasten: Fasten macht den Geist leicht, durchlässig, empfänglich für Subtiles.

· Und natürlich Samadhi.

Hier im dritten Kapitel spricht Patanjali über Samyama (die gleichzeitige Praxis von Konzentration, Meditation und Samadhi), das in Samadhi mündet und welche Kräfte man dabei erlangen kann.

Aber im vierten Kapitel sagt er: Nicht jeder, der übernatürliche Kräfte hat, hat deshalb auch gleichzeitig Samadhi erreicht. Deshalb müssen wir aufpassen und vorsichtig sein. Übernatürliche Kräfte sind nicht das Hauptkriterium zur Beurteilung eines Meisters.

Es wird keinen Meister geben, der nicht irgendwelche übernatürlichen Kräfte irgendwann einmal manifestiert. Er kann gar nicht anders. Selbst wenn er es abstreitet. Man braucht nur mit Schülern eines Meisters zu sprechen, dann erfährt man alles Mögliche, was in Gegenwart der Meister geschehen ist. Es gibt auch einige solcher Geschichten über Swami Vishnu. Und uns hat er immer erzählt, er hätte keine Siddhis – das war schon fast nicht mehr Satya! (wahrhaftig) Aber er hat diese Kräfte nicht bewusst angewendet. Er hat nicht versucht, etwas zu machen. So etwas geschieht bei Meistern einfach. Wenn der Geist zu einer gewissen Konzentration fähig ist, kann man gar nicht anders, dann geschehen Wunder von selbst.

Und es gibt andere Menschen, die aus irgendwelchen der oben genannten Gründe bestimmte Fähigkeiten haben, aber keine Meister sind. Wenn jemand einem etwas über seine Vergangenheit sagen oder sein Mantra auf Anhieb zusagen kann, oder aus der Hand heraus etwas manifestiert, heißt das nicht notwendigerweise, dass er ein Meister ist. Es gibt genügend Scharlatane. Und manchmal sind es auch einfach nur Taschenspielertricks.

In seiner Jugend hat Swami Vishnu sich hobbymäßig mit Zauberkünsten beschäftigt. Im Sivananda–Ashram gab es auch regelmäßig wie hier die Bunten Abende, wo jeder etwas aufgeführt hat. Im Rahmen eines solchen Abends hat Swami Vishnu einmal ein paar Zaubertricks aufgeführt. Anschließend hat Swami Sivananda ihn gebeten, ihm zu zeigen, wie das funktioniert und Swami Vishnu hat ihm die Tricks dahinter gezeigt. Daraufhin hat Swami Sivananda gesagt: „Du als Swami solltest von heute an niemals mehr solche Zaubertricks vorführen. Du magst sagen, es sind Zaubertricks, aber die Leute werden denken, dass es Siddhis sind. Und es kann sein, dass du irgendwann einmal in Versuchung gerätst.“ Deshalb hat Swami Vishnu diese Zaubertricks danach nie mehr vorgeführt.

Swami Vishnu hat uns immer davor gewarnt, zu leichtgläubig zu sein. Auch später noch hat er oft Pseudomeister, die irgendwelche angeblichen übernatürlichen Kräfte demonstrierten, mit Video aufgenommen, das Video dann im Zeitlupentempo abgespielt und so versucht, den Trick dahinter herauszufinden.

Am Anfang des dritten Kapitels hat Patanjali generell gesagt: Durch Anwendung von Samyama (Konzentration, Meditation und Samadhi) erreichen wir Prajna, direktes Wissen und Jaya, Herrschaft, über alles. Nun kommt er zu den praktischen Anwendungen und zeigt uns auf, wie wir Samyama auf bestimmte Dinge anwenden können.

Das klingt teilweise ganz phantastisch. Er beschreibt zum Beispiel, wie wir die Vergangenheit und die Zukunft erkennen können, hellsichtig werden, wie wir die Sprache der Wesen verstehen können, ohne die Sprache systematisch zu lernen, wie wir frühere Leben kennen lernen oder die geistigen Vorstellungen eines anderen wissen können – also Telepathie -, wie wir unsichtbar und unhörbar werden können, wie wir die Zeit unseres Todes erkennen können, wie wir bestimmte Eigenschaften und Kräfte in uns entwickeln, Subtiles wahrnehmen können, wie wir die Welt erkennen, Astrologie, Anatomie und Physiologie verstehen können, ohne sie großartig studieren zu müssen, wie wir Hunger und Durst beherrschen, Kontakt zu höheren Wesen aufnehmen können, intuitive Sinne entwickeln können, wie wir levitieren (frei schweben) und Übernatürliches hören können usw.

Aber das sind nicht nur übernatürliche Kräfte, sondern auch praktische Anweisungen und Anwendungsmöglichkeiten für das eigene Leben.

16. Parinâma-traya-samyamâd atîtânâgata-jnânam     Zurück zum dritten Kapitel

Parinâma = Wandlungen; traya = die drei; samyamât = durch Ausführung von Samyama über; atîta = vergangen; anâgata = künftig; jnânam = Wissen

Mit Anwendung von Samyama in den drei Arten der Veränderungen (Form, Zeit und Zustand) wird Wissen um Vergangenheit und Zukunft erlangt.

Wenn wir wissen wollen, wie die Vergangenheit und Zukunft von etwas beschaffen ist, dann müssen wir  schauen, wie es sich momentan verändert oder wie es sich in einem gewissen Zeitraum verändert hat. So können wir die Gesetze herausfinden, wie es sich in der Vergangenheit verhalten hat und wie es sich in Zukunft entwickeln wird.

Das ist eine Technik, die wir oft auch verstandesmäßig anwenden: Man stellt fest, dass ein Grashalm heute 5 cm hoch ist, vor zwei Wochen war er 2 cm hoch – was ist die logische Schlussfolgerung, wie hoch er in zwei Wochen sein wird? Wahrscheinlich um die 8 cm. Aus Erfahrung wissen wir, dass das nicht immer ganz genau zutrifft. Denn wenn wir ein Baby anschauen, wenn es geboren wird, ist es um die 50 cm groß, mit zwei Jahren etwa ein Meter, mit 4 1/2 Jahren etwa 1,50 m – wenn wir das hochrechnen, wie groß müsste jemand sein, der 100 Jahre ist? – Das klappt also nicht so ganz! Oder mit den Aktienkursen:

Man erstellt Charts über die Kurse und die Kursentwicklung über einen gewissen Zeitraum in der Vergangenheit und nimmt an, dieser Trend setzt sich linear fort – und dann gibt es ab und zu mal Bauchlandungen. In Schweden hat man einmal eine Untersuchung über computergestützte, analysierende Charts wie auch Empfehlungen der besten Banken gemacht. Und als Versuch hat man sie konkurrieren lassen mit einem Baby, das einfach willkürlich auf irgendwelche Kurse gezeigt hat. Und wo wurden wohl nach einem Jahr die höchsten Trefferquoten festgestellt? Ja, bei dem Baby! Es scheint, dass der Zufall besser ist als der beste Experte und die besten Charts.

Das gilt natürlich nicht für alles. Vieles kann man auch mit dem Intellekt erkennen und steuern. Aber es gibt etwas jenseits des Intellekts, und das ist unsere Intuition, die wir wiederum mit Samyama erwecken können. Wenn ihr also von etwas die Zukunft oder auch die Vergangenheit erkunden wollt, dann schaut, wie verläuft die Veränderung in einem gewissen Zeitraum. Dazu konzentriert man sich gleichzeitig entweder auf einen Punkt in der Vergangenheit und den jetzigen Zeitpunkt oder auf zwei auseinanderliegende Punkte in der Vergangenheit und analysiert die Veränderung dazwischen.

Wenn ihr beispielsweise wissen wollt, wie sich ein Mensch in Zukunft entwickeln wird, versucht, euch zu erinnern, wie der Mensch vor einem Jahr war, analysiert, wie er heute ist und nehmt dann den Menschen von heute und den von vor einem Jahr gleichzeitig wahr. Und während ihr das gleichzeitig wahrnehmt, könnt ihr euch auf die Veränderung konzentrieren, die dazwischen passiert ist. Und wenn ihr euch absichtslos und urteilslos auf diese Veränderung konzentriert, versteht ihr intuitiv, wie dieser Mensch in Zukunft sein wird. Das kann manchmal ganz praktisch sein, wenn man seine Beziehung zu einem Menschen analysieren will.

Man kann überlegen, wie ist die Beziehung jetzt, wie war sie vor einem halben Jahr, sich auf die Veränderung konzentrieren, und dann kommt eine Intuition, wie sich die Beziehung in Zukunft entwickeln wird. Wobei wir natürlich wissen müssen, dass die Zukunft nie determiniert ist. Sobald wir – oder der andere – neue Ursachen setzen, entwickelt sich die Zukunft anders. Man kann die zukünftige Entwicklung also nur insoweit erkennen, als keine neuen Ursachen gesetzt werden. Da die meisten Menschen sehr unbewusst leben und nichts wirklich aus ihrem freien Willen entscheiden, sondern sich von ihren Verhaltensmustern bestimmen lassen, hat man in der Regel eine ziemlich hohe Treffsicherheit – wenn man das will. Denn die wenigsten Menschen überlegen sich wirklich, was sie tun könnten und tun dann auch wirklich etwas, um den Lauf der Dinge zu verändern.

Frage: Kann man auch mit der Intuition erspüren, welches Verhalten man selbst oder ein anderer Mensch bei sich ändern, welche neuen Ursachen man setzen sollte?

Antwort: Der Mensch hat ja durchaus einen freien Willen. Er kann entweder dem folgen, was bisher war, einschließlich dem Ablauf seines Unterbewusstseins und seiner Emotionen und seiner Reaktionsschemata. Oder er kann plötzlich innehalten und sagen: „So nicht mehr“. Und dann kann er den Ablauf seines Schicksals, seines Lebens verändern. Er ist nicht ein reiner Spielball von Emotionen und Umständen.

Eine praktische Anwendungsmöglichkeit ist also die Konzentration auf eine Veränderung.

17. Shabdârtha-pratyayânâm itaretarâdhyâsât samkaras tat-pravibhâga-samyamât sarva-bhûta-ruta-jnânam     Zurück zum dritten Kapitel

Shabda = Wort, Ton; artha = Objekt, Zweck; pratyayânâm = Gedanke, Verstandesinhalt; itaretarâ-dhyâsât = infolge des Aufeinanderliegens; samkara = Vermischung, Verwirrung; tat = von ihnen; pra-vibhâga = Trennung, Auflösung; samyamât = durch Ausübung von Samyama über; sarva = alle; bhûta = Lebewesen; ruta = Töne; jnânam = Wissen, Verständnis

Klang, Bedeutung und entsprechende Vorstellungen sind normalerweise im Geist miteinander vermengt; aber wird Samyama auf den Klang ausgeführt, lösen sich Bedeutung und Vorstellung auf, und man erlangt Verständnis der Klänge aller lebenden Wesen.

Hier erfahren wir, wie wir Menschen und auch Tiere verstehen können, deren Sprache wir nicht kennen.

Wie erwähnt, sind normale Gedanken verbunden mit Klängen, Bildern und Vorstellungen. Mit Vorstellungen sind auch Gefühle verknüpft. Wenn wir eine Sprache lernen wollen, können wir auf herkömmliche Weise Wörter, Grammatik usw. lernen und die verschiedenen Bestandteile zusammenzusetzen. Oder wir konzentrieren uns voll auf den Klang der Sprache an sich, und zwar auf ganz entspannte Weise, noch nicht einmal mit der Absicht, verstehen zu wollen.

Und wenn man sich ganz entspannt konzentriert auf die Laute egal welcher Wesen, dann versteht man plötzlich, was sie meinen. Das könnt ihr nächstes Mal ausprobieren, wenn ihr irgendwo seid, wo sich Menschen in einer fremden Sprache unterhalten. Versucht einfach, euch ganz entspannt dem Klang hinzugeben, ihn in euch aufzunehmen, als sei es das schönste Musikstück. Wenn man das eine Weile macht, bekommt man plötzlich ein Gefühl für die Bedeutung – auch für abstrakte Inhalte. Die modernen Super-Learning-Methoden für Sprachen beruhen letztlich auf diesem Prinzip. Statt Grammatik und Vokabeln zu pauken, hört man einfach zu und fängt relativ zügig an, selbst in der Sprache zu sprechen. Teilweise erzielt man damit gute Erfolge. Ob es immer für bestimmte Zwecke ausreicht, sei dahingestellt. Aber auf jeden Fall ist es eine sehr gute Ergänzung zum herkömmlichen Büffeln.

Und wir können es auch mit einer Katze ausprobieren, einem Hund oder einem Vogel, sogar mit einem Bach. Auch Bäche können manchmal etwas ausdrücken. Wenn man sich voll auf das Rauschen konzentriert, erfährt man vielleicht plötzlich, was der Bach einem sagen will.

18. Samskâra-sâkshâtkaranât pûrva-jâtijnânam     Zurück zum dritten Kapitel

Samskâra = Eindrücke; sâkshâtkâranât = durch Beobachtung, durch direkte Wahrnehmung; pûrva = vorher; jâti = Geburt; jnânam = Wissen

Durch die Wahrnehmung von Samskaras (Eindrücke im Geist, im Unterbewusstsein) entsteht das Wissen um die vergangene Geburt.

So geht man in frühere Inkarnationen hinein. Reinkarnationstherapeuten arbeiten unter anderem mit dieser Technik.

Eine Weise, in frühere Leben zu gehen, ist, sich zu entspannen und mit der Vorstellung in die Vergangenheit hineingehen. Diese Methode habe ich einmal im Rahmen eines Workshops als kollektive Rückführung kennen gelernt. Swami Vishnu hat zwar grundsätzlich gesagt, man soll keine Rückführung machen, man soll nicht in frühere Leben gehen, aber er war nicht immer ganz so konsequent, was ja typisch indisch ist. Zweimal im Jahr hat er Festivals veranstaltet, zu denen er bekannte Leute eingeladen hat, einmal auf den Bahamas und im Sommer im Hauptashram in Kanada.

Zu einem solchen Symposium, bei dem es um Yoga und Reinkarnation ging, hat er alle Fachleute eingeladen, die auf diesem Gebiet Rang und Namen hatten. Dazu gehörten Jan Stevenson, Raymond Moody und die bekannteste amerikanische Reinkarnationstherapeutin, die dort einen Workshop für kollektive Rückführung durchgeführt hat. Unter ihrer Anleitung legten wir uns auf den Rücken, entspannten uns, stellten uns vor, eine Wolke kommt herunter, wir setzen uns auf sie, und die Wolke trägt uns in die Vergangenheit. Dann sollten wir von oben hinunterschauen und sowie wir etwas sehen, sollten wir herunterkommen, uns dort niederlassen und schauen, was geschieht. Gut, dabei haben wir dann Verschiedenes gesehen.

Ich habe mich zum Beispiel im Busch in Australien gesehen, umgeben von Koalabären, die ich zu beschützen versuchte und dabei wurde ich von Jägern erschossen. Ich bin da etwas skeptisch. Es ist nicht unbedingt sicher, dass das, was wir auf diese Weise sehen, auch wirklich ein früheres Leben ist. Denn der Geist hat auch eine lebhafte Phantasie. Wir können uns auch einiges ausmalen. Eigentlich kann man nur dann sicher sein, dass es ein früheres Leben ist, wenn man sich mit ausreichender Sicherheit an den Namen erinnert und an konkrete, nachvollziehbare Ereignisse, die man überprüfen kann, zum Beispiel in alten Gemeinde- oder Kircheneinträgen. Es gibt eine ganze Reihe von Menschen, die bei solchen Rückführungen zu so konkrete Angaben kommen, dass man sie über Standesämter oder kirchliche Register nachprüfen kann.

Eine zweite Weise wäre, man nimmt ein Samskara (Eindruck im Geist, Fähigkeit) wahr, der in diesem Leben keine Begründung hat. Jemand hat zum Beispiel große Angst vor Wasser und man kann mit Sicherheit ausschließen, dass er oder sie als Kind ins Wasser gefallen ist. Es könnte ja auch sein, dass man als Baby in die Badewanne gefallen und fast ertrunken ist und daher Angst vor dem Wasser hat. Oder jemand hat Angst vor dem Feuer, weil er als Kind in eine Flamme gefasst oder auf eine heiße Herdplatte gefasst hat oder Zeuge geworden ist, wie jemand im Feuer verbrannt ist. Oder man hat als Kind einen Horrorfilm gesehen, wo Menschen im Feuer umkamen oder als Hexen verbrannt wurden. Das wären alles logische Erklärungen.

Aber angenommen, jemand hat vor etwas Angst, ohne dass es in diesem Leben eine Begründung dafür gibt, dann lässt das auf Eindrücke aus früheren Leben schließen. Man hat zum Beispiel ein Talent, für das es in der eigenen Biographie und in der Genetik der Eltern und Vorfahren keine Begründung gibt. Angenommen, jemand ist sehr musikalisch und weder Vater noch Mutter sind musikalisch und man wurde auch nicht von Kindheit an gefördert. Dann kann man sich auf diesen Samskara konzentrieren, entspannt konzentrieren, mit vollem Bewusstsein. Man kann als Vorarbeit darüber nachdenken, aber das eigentliche Samyama, wenn man versucht, diesen Samskara intuitiv wahrzunehmen, geschieht ohne Nachdenken. Über die Samyama-Konzentration auf dieses Talent oder diese besondere Eigenschaft kommt man in das Leben, in dem der Ursprung für diesen Samskara gelegt wurde. Beispielsweise Angst vor dem Feuer – dann sieht man plötzlich ein Bild, wo man selbst im Feuer umgekommen ist. Angst vor dem Wasser – man merkt vielleicht, wie man in einem früheren Leben im Wasser ertrunken ist. Oder man war schon als Kind von Yoga fasziniert, aber keiner sonst aus der Familie, dann kann man sich vielleicht als Yogi irgendwo sehen.

Frage: Ist das denn zu irgendetwas nutze? Bringt das etwas?

Antwort: Es ist eigentlich nicht notwendig. Es kann einem unter Umständen dabei helfen, mit bestimmten Schwierigkeiten besser fertig zu werden. Auf Schwierigkeiten können wir auf verschiedene Weise reagieren: Wir können mit Tapas (Askese), Swadhyaya (Selbststudium), Ishwara Pranidhana (Hingabe zu Gott) arbeiten – wie bereits erläutert – und mit verschiedenen anderen geistigen oder praktischen Techniken. Oder wir können uns einfach auf die Schwierigkeit an sich konzentrieren und das kann uns manchmal helfen, zur Ursache zu kommen oder die Lösung zu finden.

Allein die Tatsache, dass wir uns darauf konzentrieren, kann oft schon dazu führen, dass es sich auflöst. Wenn es aber etwas ist, was seine Ursache in einem früheren Leben hat, dann kann es sein, dass Bilder aus einem früheren Leben aufsteigen, während wir uns darauf konzentrieren. In einem solchen Fall brauchen wir nicht zu befürchten, verrückt geworden zu sein, sondern wir wissen: Wir sind bewusst in dieses Problem hineingegangen, nicht in der Absicht, unsere früheren Leben zu ergründen, sondern um das Problem zu erfassen, und dabei ist halt jetzt dieses Bild aus einem früheren Leben aufgestiegen. Wenn wir das erkannt haben, kann es uns helfen, mit einer bestimmten vorhandenen Schwierigkeit in unserem jetzigen Leben besser fertig zu werden. Man muss aber damit umgehen können, man darf keine Schuldgefühle entwickeln aus früheren Leben. Man sollte nicht unbedingt in der Vergangenheit wühlen und nicht grundlos in frühere Leben hineingehen. Deshalb hat Swami Vishnu normalerweise auch davon abgeraten.

Die Reinkarnationstherapeuten argumentieren eben damit, dass, wenn jemand unerklärliche emotionale und psychische Reaktionen zeigt, es ihm manchmal helfen kann, in die Vergangenheit zu gehen, um dann loszulassen. Ich will den therapeutischen Wert auch nicht in Abrede stellen. Es gibt Menschen, die dadurch zu einer gewissen Heilung gekommen sind. Aber als Yogis machen wir es normalerweise nicht.

19. Pratyayasya para-chitta-jnânam     Zurück zum dritten Kapitel

Pratyayasya = des Inhalts des Verstandes; para = eines anderen; chitta = Verstand; jnânam = Wissen

Indem man Samyama auf den Geist eines anderen ausführt, lernt man dessen geistige Vorstellungen kennen.

Mit anderen Worten, wenn wir jemanden besser verstehen wollen, können wir versuchen, uns auf seinen Geist zu konzentrieren. Wir versuchen, seine geistigen Vorstellungen zu erspüren und zu erfühlen. Das ist natürlich schwierig, denn im Normalfall konzentrieren wir uns auf den Körper eines Menschen. Wenn wir an einen anderen Menschen denken, haben wir sein äußeres Erscheinungsbild vor Augen. Aber der Körper ist nur der Träger des Geistes. Schwieriger ist es, sich auf den Geist des anderen einzustellen.

Da aber der Körper letztlich ein Ausfluss des Geistes ist, können wir uns auch einfach den anderen vorstellen und uns auf ihn oder sie konzentrieren. Das ist eine nützliche Methode, wenn wir uns mit jemandem verkracht haben und uns gerne wieder vertragen möchten – neben allem anderen natürlich, was wir auch tun sollten: Mit ihm oder ihr sprechen, die Kommunikation aufnehmen, einen Dritten als Vermittler zu Hilfe nehmen, ihm ein Geschenk machen, uns entschuldigen, klar sagen: „So geht es nicht“, auf den Tisch hauen, um Verständigung beten, entsprechende Affirmationen wiederholen, visualisieren, dass man ihm Licht schickt usw. Oder man kann sich eben in den anderen hineinversetzen. Und wenn wir den anderen wirklich von innen heraus spüren, so als ob wir in dem anderen Körper drin wären, identifizieren wir uns mit dem anderen Geist und wissen, was mit dem anderen los ist.

Mit der richtigen Motivation ist das sicherlich positiv nutzbar. Man konzentriert sich auf einen anderen und lernt, ihn zu verstehen. Man kann besser auf ihn eingehen, sich besser mit ihm vertragen, besser mit ihm zusammenarbeiten und ihm vielleicht auch einen Tip geben zur Hilfe.

Aber es kann natürlich auch manipulativ werden. Denn wenn man sich gänzlich in den anderen hineinversetzt und es einem wirklich gelingt, im anderen so zu sein, als sei man selbst in dessen Körper, dann kann man theoretisch auch anfangen, dem anderen Gedanken aufzuoktroyieren, ihm vorzuschreiben, was er tun soll. Hier wird es zur Manipulation und zu einem Missbrauch der Siddhis. Und ein Missbrauch führt immer zu einer karmischen Reaktion.

Deshalb schreckt uns Patanjali im nächsten Vers ab:

20. Na cha tat sâlambanam tasyâvishayî-bhûtatvât     Zurück zum dritten Kapitel

Na = nicht; cha = und; tat = das; sâlambanam = mit Unterstützung; tasya = seine; avishayîbhûtatvât = weil (seines) nicht das Ziel (von Samyama) ist

Aber andere geistige Faktoren, die nicht Gegenstand des Samyama sind, kann man nicht erkennen.

Wir lernen nicht den ganzen Geist des anderen kennen. Wenn wir einen Teilaspekt des anderen erspüren, sollten wir uns nicht einbilden, ihn jetzt vollständig zu verstehen. Dazu ist die menschliche Psyche zu kompliziert. Mit dem einfachen Samyama auf einen Menschen lernen wir ihn noch lange nicht vollständig kennen, sondern nur bestimmte Teile seiner Psyche.

21. Kâyâ-rûpa-samyamât tad grâhya-shakti-stambhe chakshuhprakâshasamprayoge ¢ntardhanam.
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Kâya = der Körper; rûpa = Form, Sichtbarkeit; samyamât = durch Übung von Samyama; tat = von ihm, daher; grâhya = empfänglich, begreiflich; shakti = Kraft, Fähigkeit; stambhe = beim Aussetzen; chakshuh = Auge; prakâsha = Licht; asamprayoge = weil es keinen Kontakt gibt; antardhânam = Verschwinden, Unsichtbar werden

Samyama auf den eigenen physischen Körper ausgeführt, hebt die Fähigkeit eines anderen, ihn zu sehen, auf; das reflektierte Licht des Körpers kommt mit den Augen des anderen nicht in Kontakt, wovon die Kraft der Unsichtbarkeit herrührt.

Hier sagt Patanjali uns, wie man unsichtbar wird.

Ich nehme an, es funktioniert wirklich im wörtlichen Sinn. Wenn jemand volles Samyama beherrscht, kann er sich tatsächlich soweit unsichtbar machen, dass selbst eine Kamera ihn nicht sieht und man ihn nicht fotografieren kann. Es gibt viele Berichte von Menschen, die unsichtbar geworden sind. Es soll Menschen gegeben haben, die gesehen haben, wie Heilige vom einen Moment auf den anderen verschwunden sind. Ich selbst habe so etwas noch nie gesehen und kenne es nicht aus Erfahrung.

Dieser Vers hat aber auch eine praktische Anwendung im abgeleiteten Sinn. Wenn ihr irgendwo in eine Menschenmenge kommt und wollt nicht gesehen werden, ist die beste Technik, sich nur auf euch selbst zu konzentrieren. Nehmt nur euch selbst wahr. Wenn ihr nur euch selbst wahrnehmt und an niemand anderen denkt, dann werden euch die anderen nicht bemerken. Ihr könnt durch die Menge hindurchgehen, ohne dass jemand von euch Notiz nimmt.

Die meisten Menschen machen fälschlicherweise das Gegenteil, wenn sie nicht wahrgenommen werden wollen. Sie denken ständig: „Hoffentlich sieht der mich jetzt nicht.“ – “Jetzt bin ich so ungekämmt oder unrasiert oder ungeschminkt, ich hoffe, keiner sieht mich in dem Aufzug.“ Man denkt also ständig an andere Menschen. Und was passiert logischerweise? Weil man ständig an andere Menschen denkt, weckt man ihre Aufmerksamkeit und wird wahrgenommen.

Natürlich gibt es auch das Gegenteil, nämlich, dass man sich bemerkbar machen will. Schüchterne Menschen zum Beispiel: Sie gehen auf eine Party oder eine Versammlung und nehmen sich vor: „Heute will ich endlich auch mal im Mittelpunkt stehen.“ Und dann überlegen sie ständig: Was müsste ich jetzt machen, damit mich jemand bemerkt? Wie komme ich zu Wort? Wie drücke ich mich jetzt richtig aus? Sehe ich richtig aus? – Sie sind nur auf sich selbst konzentriert. Was ist die Folge? Man sieht sie nicht, nimmt sie nicht wahr!

Wenn ihr wahrgenommen werden wollt, bringt die Aufmerksamkeit weg von euch selbst. Richtet eure Aufmerksamkeit auf die anderen und ihr werdet selbst wahrgenommen. Das ist eine gute Hilfe für schüchterne Menschen, die sich nicht trauen, auf andere zuzugehen. Es ist gar nicht nötig, auf andere zuzugehen. Es reicht, sich auf die anderen zu konzentrieren und sie wahrzunehmen, Interesse für sie aufzubringen. Dann kommen sie von allein auf euch zu – manchmal mehr, als euch lieb ist! Es schadet nichts, wenn man auch mal das erste Wort sagt, um den Kontakt herzustellen. Aber es ist nicht einmal so wichtig.

22. Etena shabdâdy antardhânam uktam     Zurück zum dritten Kapitel

Etena = durch dieses; shabda = Ton; âdi = andere; antardhânam = Verschwinden; uktam = wurde gesagt, beschrieben

Dadurch kann auch das Verschwinden von Lauten und anderen physischen Phänomenen erklärt werden.

Das gilt also nicht nur für das Unsichtbarwerden, sondern auch für das Unhörbarwerden. Wenn ihr voll auf euch selbst konzentriert seid, könnt ihr sogar Mantras singen, ohne dass andere es hören.

Wenn man hingegen selbst sehr konzentriert mit etwas beschäftigt ist, z. B. wenn man ein interessantes Buch liest oder einen Film schaut, und dann nichts hört, wenn jemand hereinkommt, klopft oder etwas sagt, das ist Pratyahara.

23. Sopakramam nirupakramam cha karma tat-samyamâd aparântajnânam arishtebhyo vâ
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Sopakramam = energisch wirksam, aktiv; nirupakramam = langsam wirkend, schlummernd; cha = und; karma = Karma, Handlung, Ursache oder Wirkung einer Handlung; tat = ihnen; samyamât = durch Ausübung von Samyama über; aparânta = des Todes, des Endes; jnânam = Wissen; arishtebhyah = von Vorbedeutungen; vâ = oder

Karma kann entweder ruhen oder aktiv sein; indem der Yogi Samyama auf beide ausführt und durch Vorzeichen, kann er die Zeit des Todes wissen.

Es gibt die drei Hauptformen von Karma: Prarabdha, das Karma, das jetzt aktiv ist, Sanchita, das gespeicherte Karma und Agami, das neu geschaffene Karma.

Wenn wir Samyama ausführen auf das Karma, das jetzt aktiv ist (Prarabdha) und auf das Sanchita–Karma, die Lektionen, die noch vor uns liegen, und uns auf beides konzentrieren, dann wissen wir plötzlich, welche Aufgaben wir noch zu erfüllen haben. Und dann wissen wir auch, wann es vorbei ist. Und wenn es vorbei ist, sterben wir natürlich.

Eigentlich ist es nicht empfehlenswert, den Zeitpunkt des Todes zu wissen. Allein die Vorstellung und Überzeugung, dass wir zu einem bestimmten Zeitpunkt sterben werden, kann dazu führen, dass wir tatsächlich an diesem Tag sterben.

Ein Beispiel dafür ist die negative Beeinflussung durch ärztliche Diagnosen. Bei Untersuchungen hat man festgestellt, dass eine außergewöhnlich große Zahl von Menschen genau dann stirbt, wie es die Ärzte vorausgesagt haben. Wenn die Ärzte eine Lebenserwartung von sechs Monaten oder zwei Jahren diagnostizieren, dann sterben die meisten dieser Patienten auf den Tag genau nach sechs Monaten oder nach zwei Jahren – selbst wenn sich bei der Obduktion nachher herausstellt, dass der Mensch eigentlich gar nicht so krank war oder dass die Krankheit nicht notwendigerweise zum Tod hätte führen müssen. Der Mensch stirbt aufgrund der Suggestion durch die Prognose des Arztes.

Shanmug, einer unserer externen Referenten, hat letztes Mal, als er da war, von einem Arzt erzählt, der folgenden Fall in seiner eigenen Praxis erlebt hat: Er hatte einen Patienten mit einer eigentlich tödlichen Krankheit. Gegen diese Krankheit war ein ganz neues Medikament entwickelt worden, das aber noch nicht zugelassen war, weil es erst noch erprobt werden musste. Jedes Medikament muss erst an hunderten von Tieren, Zellkulturen und schließlich an Menschen erprobt werden, bevor es zugelassen wird. Dieser Patient hatte also eine sehr heimtückische Krankheit mit einer sehr geringen Lebenserwartung. Der Arzt erzählte ihm von dem Medikament, das vielleicht zur Heilung führen könne, das aber noch erprobt werden müsse und das unter Umständen auch zu Nebenwirkungen führen könne. Ob er trotzdem bereit wäre, es auszuprobieren. Der Patient nahm das Medikament und wurde innerhalb von zwei Monaten vollkommen gesund. Eine ganze Weile später hat er in einer Zeitschrift gelesen, dass dieses Medikament für seine damalige Krankheit nun doch nicht eingesetzt werden könne, weil es nicht sehr wirkungsvoll sei. Einen Monat, nachdem er das gelesen hatte, war er tot, nachdem er dazwischen um die drei Jahre vollkommen beschwerde- und symptomfrei gelebt hatte!

Man muss vorsichtig sein mit dem, was man zu Menschen sagt. Worte haben Macht, wie wir im ersten Kapitel gesehen haben, wo Patanjali Wortirrtum als eine der fünf Vrittis (Gedankenwellen) behandelt.

24. Maitry-âdishu balâni     Zurück zum dritten Kapitel

Maitrî-âdishu = über Freundlichkeit usw.; balâni = Kräfte

Indem man Samyama auf Freundlichkeit (und andere Eigenschaften wie Barmherzigkeit, Liebe usw.) ausführt, werden deren Kräfte erlangt.

Ähnliches hat Patanjali nun schon mehrmals erzählt:

Im ersten Kapitel hieß es, indem man sich auf etwas konzentriert, auf eine positive Eigenschaft zum Beispiel, verschwinden die Hindernisse.

Im zweiten Kapitel hat er gesagt, wenn wir negative Emotionen haben, sollten wir über das Gegenteil nachdenken.

Und hier erwähnt er es im Zusammenhang mit Samyama. Wenn wir also nicht nur über eine Eigenschaft nachdenken, sondern tief in die Eigenschaft hineingehen, dann erlangen wir deren Kräfte. Die Eigenschaftsmeditation zum Beispiel beinhaltet verschiedene Techniken, unter anderem die Samyama-Konzentration. Sie beginnt mit der Wiederholung einer Affirmation zu der Eigenschaft, die man entwickeln will, zum Beispiel: „Ich bin geduldig“.

Als zweites denkt man über die Vorteile dieser Eigenschaft nach. Als drittes folgt der eigentliche Samyama-Teil: Man konzentriert sich auf die Eigenschaft an sich, ohne Visualisierung und ohne Affirmation, man erspürt die Eigenschaft als solches, konzentriert sich voll darauf, geht völlig in ihr auf. Das ist der machtvollste Teil dabei. Wenn wir uns auf die Geduld konzentrieren, die Essenz der Geduld, und sie wirklich in uns spüren, dann wird sie sehr machtvoll in uns. Zum Abschluss kann man nachher nochmals eine Visualisierung und eine Affirmation machen.

Es kann aber sein, dass es einem schwer fällt, eine bestimmte Eigenschaft in sich selbst zu spüren. Dafür bietet Patanjali die folgende Lösung an:

25. Baleshu hasti-balâdîni     Zurück zum dritten Kapitel

Baleshu = (durch Samyama) über Kräfte; hasti-balâdîni = Stärke des Elefanten usw.

Indem man Samyama auf die Kräfte verschiedener Tiere ausführt, erlangt man die Kräfte des betreffenden Tieres.

Wenn wir schwach sind und gerne stärker wären, können wir versuchen, uns auf unsere innere Stärke zu konzentrieren. Möglicherweise fällt uns das aber sehr schwer, weil wir vielleicht das Gefühl haben, wenig innere Stärke zu haben. Wenn wir uns dann beispielsweise auf einen Elefanten konzentrieren, werden wir stark wie ein Elefant. Wenn wir Sanftmut entwickeln wollen, dann können wir uns auf eine Kuh konzentrieren. Oder wenn wir Durchsetzungsvermögen und Mut in uns stärken wollen, können wir uns auf einen Tiger konzentrieren.

Hier machen viele Menschen leider oft das Gegenteil. Was muss man machen, um alle negativen Eigenschaften von anderen zu übernehmen? – Sich ständig auf die negativen Eigenschaften der andern konzentrieren, ständig darüber nachdenken, welche Fehler die anderen haben, ständig darüber sprechen, was die anderen alles schlecht und falsch machen. Auf diese Weise werden diese negativen Eigenschaften in einem selbst eben auch stärker. Hingegen, wenn wir uns auf die positiven Eigenschaften von anderen konzentrieren, dann stärken wir diese positiven Seiten auch in uns.

26. Pravritty-âloka-nyâsât sûkshma-vyavahita-viprakrishta-jnânam     Zurück zum dritten Kapitel

Pravritti = höhere Sinnestätigkeit, überphysische Fähigkeit; âloka = Licht; nyâsât = durch Richten oder Projizieren; sûkshma = des Feineren, Subtilen; vyavahita = das Verborgene, Düstere;
viprakrishta = das Entfernte: jnânam = Wissen

Indem man Samyama auf Licht ausführt, erhält man intuitives Wissen über das, was subtil, versteckt oder entfernt ist.

Eine einfache Anwendung ist zum Beispiel Tratak, das Starren auf eine Kerzenflamme. Mir ist es schon so gegangen, dass ich anschließend an Tratak in einer Gruppe die Auras der anderen gesehen habe. Ist euch das schon mal aufgefallen? Man schaut in die Flamme, und dann sieht man darum herum die Aura. Wenn man das regelmäßig macht, eine halbe Stunde bis zu einer Stunde jeden Morgen, kann es auch sein, dass man Astralwesen im Raum wahrnimmt. Denn Tratak ist nicht nur eine Vorbereitungsübung auf die Meditation, sondern auch eine Übung zur Entwicklung von Hellsichtigkeit, wenn man es lange übt, weshalb normalerweise empfohlen wird, Tratak nicht länger als 15 bis 20 Minuten am Tag zu machen. Ab einer halben Stunde kann es nämlich sehr machtvoll wirken und nicht jeder ist darauf vorbereitet. Aber wenn man es eine Weile geübt hat und keine Angst hat, Astralwesen zu sehen, kann man es auf eine oder zwei Stunden verlängern. Das führt zu einigen sehr interessanten Phänomenen.

Es gibt verschiedene Weisen, wie man in die Kerze schauen kann. Man kann entweder versuchen, sie zu fokussieren, sie genau anzuschauen. Oder man kann versuchen, die Kerze als Ganzes wahrzunehmen, indem man mit dem sogenannten weichen Blick durch sie hindurchschaut. Das letztere wäre Samyama: Den weichen Blick auf die Flamme richten, durch sie hindurchschauen, sie aber trotzdem wahrnehmen, ohne sie zu fokussieren, also die entspannte Konzentration auf die Flamme. Wenn man das länger ausübt, führt es dazu, dass man das Feinstoffliche, Versteckte oder weit Entfernte erkennt.

27. Bhuvana-jnânam sûrye samyamât     Zurück zum dritten Kapitel

Bhuvana = sonnensystem; jnânam = Wissen; sûrye = über die Sonne; samyamât =durch die Übung von Samyama über

Indem man Samyama auf die Sonne oder das Sonnensystem ausführt, erlangt man Wissen um die Welt.

Die Sonne ist nicht nur das Zentralgestirn unseres Planetensystems, sondern sie ist Surya Bhagavan, der Sonnengott. Es gibt ein Astralwesen, das die Sonne bewohnt, von dem wir, die Erde, abhängig sind. Das Sonnensystem ist ein organisches Ganzes. Indem wir uns auf das Zentrum des Ganzen, die Sonne, konzentrieren, erlangen wir Wissen um die Welt.

Physiker müssten sich also auf die Sonne konzentrieren, um schneller die Zusammenhänge der Natur und des Sonnensystems zu verstehen.

In Indien gibt es auch die Tradition, auf die Sonne selbst Tratak auszuführen, direkt in die Sonne zu schauen. Dazu muss man aber bestimmte Techniken lernen, sonst erblindet man. Von Swami Sivananda gibt es Photos, wo er längere Zeit direkt in die pralle Mittagssonne hineinschaut. Er hat die subtile Technik dafür gelernt und keine Augenprobleme dadurch bekommen.

28. Chandre târâ-vyûha-jnânam     Zurück zum dritten Kapitel

Chandre = (durch Ausführung von Samyama) über den Mond; târâ = Sterne; vyâuha = Organisation, Verkettung; jnânam = Wissen

Indem man Samyama auf den Mond ausführt, erreicht man Kenntnis der Astrologie.

Das ist auch eine sehr interessante Sache. Es ist zwar für einen spirituellen Aspiranten nicht notwendig, aber vielen Menschen tut es durchaus gut, sich mit Astrologie zu beschäftigen. Weniger mit der vorausschauenden Astrologie, die einem sagt: Nächstes Jahr wirst du Millionär oder übernächstes Jahr findest du deinen Lebensgefährten oder ähnliches, sondern mit der Persönlichkeitskonstellation.

Astrologie kann helfen, bestimmte Charakterzüge der eigenen Persönlichkeit zu erkennen, Aufgaben und Schwierigkeiten im eigenen Leben zu erkennen, zu akzeptieren, in einen größeren Rahmen einzuordnen. Heutzutage werden ja viele Horoskope per Computer erstellt. Nur, das Programm allein taugt letztlich nichts. Denn ein guter Astrologe nutzt seine Intuition. Er lernt zwar auch sein Handwerkszeug, lernt, was die einzelnen Konstellationen zu bedeuten haben, wie sie zu interpretieren sind usw. Aber dann schaut er dieses Horoskop, das Schaubild mit den einzelnen Planetenkonstellationen an und lässt es auf sich wirken. In meiner Anfangszeit als spiritueller Aspirant habe ich auch drei Semester lang bei einem recht guten Astrologen etwas Astrologie studiert.

Sein Vorgehensweise war: Er malt das Horoskop auf, dann stellt er sich davor und schaut es sich an, lässt es auf sich wirken, ohne darüber nachzudenken, was die Konstellationen zu bedeuten haben. Er ist voll konzentriert, lässt es auf sich wirken, und dann kennt er alle Themen dieses speziellen Menschen, dieses speziellen Lebens. Wenn er das Gesamtbild so intuitiv erfasst hat, deutet er anschließend noch die einzelnen Planeten, untersucht die Mondeinflüsse usw. Aber sein eigentliches Wissen kommt daher, dass er das Horoskop als Hilfe zur Konzentration nimmt. In früheren Zeiten war es noch anders. Damals haben die Astrologen zur Deutung direkt in den Himmel geschaut. Dann war es natürlich gut, wenn der Mensch nachts und nicht während der Monsunzeit geboren war, dann konnte nämlich der Astrologe direkt in den Himmel schauen. Wenn er das gemacht hat und die Bewegungen der Gestirne und Planetenkonstellationen gesehen hat, wusste er instinktiv, was es mit diesem Menschen auf sich hat, der zu diesem Zeitpunkt geboren wurde.

In der indischen Astrologie hat der Mond eine besondere Bedeutung. Er ist der wichtigste Teil des Horoskops. Deshalb heißt es, wenn man sich besonders auf den Mond konzentriert, erkennt man das Hauptthema im Leben von sich selbst oder eines anderen Menschen.

29. Dhruve tad-gati-jnânam     Zurück zum dritten Kapitel

Dhruve = (durch Samyama) über den Polarstern; tat–gatih = ihrer Bewegung; jnânam = Wissen

Durch das Ausführen von Samyama auf den Polarstern kommt das Wissen um die Bewegung der Sterne.

Wer in seinem astronomischen Wissen weiterkommen will, sollte auf den Polarstern meditieren. Oder nachts den Polarstern anschauen und auf sich wirken lassen, er hat eine besondere Bedeutung für das ganze Weltall.

Auch die Wissenschaftler kommen ja letztendlich auf diese Weise zu ihren Resultaten. Wissenschaftliche Resultate sind nur zum Teil logisches Denken, Experimente und Berechnungen. Der Rest ist Intuition. Jemand beschäftigt sich intensiv mit etwas, konzentriert sich, meditiert darauf, absorbiert das Problem und dann versteht er es plötzlich. Einstein und Newton sind dafür die besten Beispiele.

30. Nâbhi-chakre kâya-yûha-jnânam     Zurück zum dritten Kapitel

Nâbhi-chakre = (durch Ausübung von Samyama) über das Nabelzentrum; kâya = der Körper; vyûha = Anordnung, Organisation; jnânam = Wissen

Durch das Ausführen des Samyama auf das Nabelzentrum kommt das Wissen um die Struktur des Körpers.

Nabhi Chakra, das Nabelchakra, ist der energetische Mittelpunkt und Schwerpunkt des Körpers. Wenn wir uns darauf konzentrieren, kennen wir die Struktur des Körpers.

Das gilt einmal für die ganze Anatomie. Wenn jemand Medizin studiert oder Heilpraktiker werden will, würde man ihm – neben allem anderen, was er rational zu lernen hat – raten, sich regelmäßig auf sein Nabelchakra zu konzentrieren. Dann kommt ein intuitives Verständnis für den menschlichen Körper.

Zum zweiten lässt sich das auch anwenden bei einer bestimmten körperlichen Krankheit. In diesem Fall könnte man sich, wie schon im obigen Beispiel erwähnt, auf den betreffenden Körperteil und die betreffende Krankheit konzentrieren. Oder man könnte sich alternativ auch auf das Nabhi Chakra als Grundlagenchakra für alle körperlichen Vorgänge konzentrieren. Die Körperenergien sind konzentriert im Nabelchakra, der Sonne des ganzen Körpers.

Deshalb ist es auch wichtig, sich bei den Asanas ab und zu auf den Bauch zu konzentrieren. Nicht umsonst raten wir ja den Schülern in der Anfänger- und Mittelstufe, sich auf den Bauch zu konzentrieren: einatmen – Bauch hinaus, ausatmen – Bauch hinein. Das hilft, Zugang zur Struktur und zu den Bedürfnissen des Körpers zu bekommen. Ich glaube, die richtige Bauchatmung ist ein entscheidender Punkt, dass die Schüler lernen, gewisse negative Gewohnheiten von selbst abzulegen.

Und meine Beobachtung ist, dass in Yogasystemen, wo kein Wert auf die Atmung gelegt wird, mindestens nicht auf die Bauchatmung – da gibt es ja einige –, die Menschen ihre schlechten Gewohnheiten nicht ablegen. Bei Schulen, die den Atem einfach nur fließen lassen und die Übungen sehr genau ausführen, mag die körperliche Exaktheit richtig sein, aber es entsteht kein intuitives Wissen um die Struktur und die Notwendigkeiten des Körpers. Währenddessen, wenn wir uns auf den Nabel konzentrieren – wir selbst und wenn wir unsere Schüler dazu veranlassen –, geschehen viele Sachen von selbst. So ist es also wichtig, auch wenn wir dann den vollständigen Atem lernen und fortgeschrittene Atemübungen machen, uns immer wieder auf den Bauch zu konzentrieren.

31. Kantha-kûpe kshut-pipâsâ-nivrittih     Zurück zum dritten Kapitel

Kantha-kûpe = (durch Ausführung von Samyama) über die Kehle („Halsbrunnen“); kshut = Hunger; pipâsâ = Durst; nivrittih = Aufhören

Durch Ausführen des Samyama auf die Höhlung der Kehle hören Gedanken an Hunger und Durst auf.

Sich regelmäßig auf die Höhlung unterhalb des Kehlkopfes zu konzentrieren – vielleicht auch eine Methode, eine Schlankheitskur zu begleiten!

Das Interessante ist, in diesem Bereich liegt ja auch die Schilddrüse. Und die Schilddrüse hat sehr viel zu tun mit dem Metabolismus, dem Stoffwechsel des Körpers, und sehr viel mit Appetit haben oder keinen Appetit haben. Indem man sich darauf konzentriert, kann sich die Schilddrüsenfunktion verändern.

Patanjali sagt hier sogar, dass Hunger- und Durstgefühl ganz schwinden können.

32. Kûrma-nâdyâm sthairyam     Zurück zum dritten Kapitel

Kûrma-nâdyâm = (durch Übung von Samyama) über den Nerv, er Träger des Prana ist, das Schildkröten-Nadi; sthairyam = Festigkeit

Durch Ausführen des Samyama auf Kurma–nadi, das Schildkröten-Nadi (die Nervenzentren, die das Prana kontrollieren), wird Festigkeit erlangt.

Das Schildkröten-Nadi ist letztlich das gleiche wie die Sushumna (feinstofflicher Kanal in der Wirbelsäule). Wenn wir das Prana in der Sushumna beherrschen, erlangen wir Festigkeit.

33. Mûrdha-jyotishi siddha-darshanam     Zurück zum dritten Kapitel

Mûrdha = Scheitel; jyotishi = Licht; siddha = vollkommene Wesen, Meister im Besitz überirdischer Kräfte; darshana = Vision

Durch Ausführen des Samyama auf das Licht am Scheitel des Kopfes erhält man die Kraft, Siddhas wahrzunehmen.

Siddhas sind vollkommene Wesen, große Meister und solche, die uns weiter segnen, auch nachdem sie ihren Körper verlassen haben. Es gibt eine Tradition, in der manche Meister, wenn sie fast selbstverwirklicht waren, sich entschieden haben, nicht ganz mit Brahman zu verschmelzen, sondern stattdessen auf subtile Weise weiter zu existieren, um Menschen inspirieren zu können. Das sind dann die Siddhas. Hanuman zum Beispiel gilt als einer der bekanntesten, auch Dattatreya und verschiedene Hatha-Yoga-Meister. Und es heißt, immer wenn ein ernsthafter Aspirant, ein Schüler auf dem spirituellen Weg, in Schwierigkeiten ist und um Hilfe bittet, sind diese Siddhas auch da, um ihm zu helfen. Wenn wir uns in einer solchen Situation auf das Licht am Scheitel des Kopfes konzentrieren, kann es passieren, dass wir sie tatsächlich auch sehen.

Dieser Vers ist auch ein Hinweis darauf, dass wir die Gnade der Meister spüren können, indem wir uns vorstellen, dass Licht von oben in uns hineinströmt. Dadurch bekommen wir tatsächlich die Gnade der Meister. Wir können uns den Meister im Geist auch vorstellen, wie er über uns ist, wie er uns segnet, die Hand hochhält, die Hand auflegt, einen anschaut und Licht schickt oder – für Menschen im Westen nicht unbedingt eine geeignete Vorstellung –, dass er die Füße über uns hält. Sie hat den Hintergrund, dass der Meister ein Kanal göttlicher Energie ist und die Energie über seine Füße weitergibt. Aber es kann auch passieren, dass man es sich gar nicht vorstellt, sondern man stellt sich nur das Licht vor und plötzlich ist diese Vision da, der Meister ist da.

34. Prâtibhâd vâ sarvam     Zurück zum dritten Kapitel

Prâtibhâd = von Intuitivem (Wissen); vâ = oder; sarvam = alles, jedes

Durch Intuition ist alles Wissen verfügbar.

Das ist jetzt wieder ein Generalvers, der anschließend näher ausgeführt wird.

35. Hridaye chitta-samvit     Zurück zum dritten Kapitel

Hridaye = (durch Übung von Samyama) auf das Herz; chitta = Verstand, Geist; chitta–samvit = Verstehen, Wahrnehmung des Geistes

Durch Ausführen des Samyama auf das Herz wird Verstehen der Natur des Geistes erlangt.

Nicht über den Intellekt, sondern über das Herz können wir den Geist auf intuitive Art verstehen. Wenn wir einen anderen Menschen verstehen wollen, muss das Herz dabei sprechen. Und wenn wir uns selbst verstehen wollen, auch.

Wenn es einem schwer fällt, sich auf den Geist des anderen zu konzentrieren, weil man ihn sich eben körperlich vorstellt, kann man versuchen, sich stattdessen auf das Herz zu konzentrieren. Wir können versuchen, uns von unserem Herzen her in den anderen hineinzuversetzen und ihn so besser zu verstehen, die Natur seines Geistes über das Herz zu erfassen. Oder wir können gleichzeitig unser Herz und das Herz des anderen spüren, uns darauf konzentrieren, dann stellen wir eine Herz-zu-Herz-Verbindung her, über die wir den anderen besser verstehen können.

36. Sattwa-purushayor atyantâsamkirnayoh pratyayâvishesho bhogah parârthât svârtha-samyamât purusha-jnânam
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Sattva-purushayoh = von Sattva (Reinheit, eine der drei Gunas), das den verfeinerten Purusha darstellt; atyanta = äußerst; asam kirnayoh = des Unvermischbaren, Bezeichnenden; pratyaya = Wahrnehmung; avisheshah = Nicht-Unterscheidung; bhogah = Vergnügen, Genießen, Erfahrung; parârthât = außer dem (Interesse) eines anderen; svârtha = Eigeninteresse; samyamtât = durch Übung von Samyama über; purusha = Purusha; jnânam = Wissen

Vergnügen ist das Ergebnis eines Mangels an Unterscheidung zwischen Purusha (das höchste Selbst) und Sattwa (Reinheit). Wissen um Purusha rührt vom Ausführen des Samyama auf die Interessen des Selbst anstatt auf die Interessen des Individuums her.

Jetzt geht Patanjali tiefer.

Es gibt die verschiedenen Eigenschaften (Gunas) in uns: Sattwa (rein), Rajas (unruhig) und Tamas (träge). Wenn wir uns träge und müde fühlen, überwiegt Tamas. Wenn wir sehr unruhig sind, ist Rajas vorherrschend und wenn wir sehr ruhig und ausgeglichen sind, ist hauptsächlich Sattwa da. Auch wenn wir uns über etwas freuen, überwiegt Sattwa. Denn die Eigenschaft von Sattwa ist Freude. Und selbst eine sinnliche Freude, wie es hier mit bhogah gemeint ist, kommt letztlich aus Sattwa heraus. Wir identifizieren uns mit diesem Gefühl der Freude, also mit Sattwa, und haben deshalb den Eindruck, dieses oder jenes Objekt hat mir Vergnügen gegeben.

Aber das ist nur ein Irrtum. Denn wir vergessen zu unterscheiden zwischen Purusha und Sattwa. Sattwa spiegelt die Freude des Selbst wieder; Purusha, das Selbst, ist Freude an sich. Zur Erkenntnis des Purusha gelangen wir, indem wir Samyama ausführen auf die Interessen des Selbst statt des Individuums.

Man könnte es auch als Gebet formulieren: „Nicht mein Wille, sondern dein Wille geschehe.“

Man könnte auch darüber meditieren: Was wäre im Interesse meines wahren Selbst?

Immer, wenn man in einer Situation nicht weiß, was ist jetzt das Richtige, was soll ich tun, dann kann man mit dieser Frage anfangen: Was liegt im Interesse meines individuellen Selbst, auf der Ebene, wo ich alles Mögliche haben will, Sicherheiten brauche usw. und was wäre im Interesse meines höheren Selbst? Wenn wir darüber meditieren, lernen wir, uns nicht mehr mit unseren Interessen als Individuum, als diese eine körperliche Erscheinungsform, zu identifizieren mit ihrem individuellen Denken, Gemüt und Emotionen, sondern statt dessen mit dem, was unser tieferes Selbst sagt.

37. Tatah prâtibha-shrâvana-vedanâdarshâsvâda-vârtâ jâyante     Zurück zum dritten Kapitel

Tatah = daher, davon; prâtibha = intuitiv; shravana = Gehör; vedana = Gefühls-…; âdarsha = Seh…; âsvâda = Geschmacks…; vârtâ = Geruchs-…; jâyante = erzeugt, geboren

Daraus entstehen intuitives Gehör, Blick, Geschmack und Geruch.

Swami Vishnu gibt in seinem Kommentar hier noch ein anderes kosmisches Gesetz an, das wir auch schon vorhin kennen gelernt haben, nämlich das Gesetz der Entsagung. Wenn wir einer Sache wirklich vom Herzen her entsagt haben – nicht aus Egoismus, um zu zeigen, wie großartig wir sind, worauf wir alles verzichten können, auch nicht aus einer Laune heraus –, sondern für Gott, für das Selbst, für das, was wir von innen heraus spüren, was getan werden muss – wenn wir das tun, dann kommt alles im Überfluss auf uns zu. Wir bekommen sowohl äußere Dinge, die wir brauchen oder haben wollen, als auch Intuition, geistige Kräfte, usw. Wenn wir geistigen Kräften hinterher rennen, bekommen wir durch Übung zwar auch eine gewisse Meisterschaft, aber eigentlich gerade dann, wenn wir sie vermeiden, kommen sie trotzdem.

Patanjali sagt also hier, wenn es uns nur um das Selbst geht, bekommen wir trotzdem intuitives Gehör, Blick, Geschmack und Geruch und letztlich auch feineres Gefühl.

38. Te samâdhâv upasargâ vyutthâne siddhayah     Zurück zum dritten Kapitel

Te = sie; samâdhav = im Samadhi; upasargâh = Hindernisse; vyutthâne = Auswärtsgerichtetsein; siddhayah = Kräfte

Aber diese sind Hindernisse für den Zustand von Samadhi, obwohl sie dem weltlichen Geist als Kräfte gelten.

Hier warnt er uns wiederum. Die verschiedenen Kräfte, die kommen, sind eigentlich Hindernisse. Übernatürliche Visionen, die man sehen kann, übernatürliche Dinge, die man hören kann – man spricht gemeinhin von Hellsicht, aber das gilt für alle Sinne, es gibt hellsehen, hellhören, hellriechen, hellschmecken – erscheinen der Welt als Kräfte und daher auch als erstrebenswert, aber sie sind Versuchungen. Es gibt ja alle möglichen Seminare, wo man Hellsichtigkeit und verschiedenes anderes erlernen können soll. Aber all das sind Hindernisse oder man kann auch sagen, es sind Zerstreuungen.

Die Menschen sind dann nur noch daran interessiert, Auras zu sehen, ihren physischen Körper zu verlassen, Bilder, Lichter zu sehen, irgendwelche übersinnliche Erfahrungen zu machen usw. Das hält einen auf einer Zwischenebene, statt dass man zum eigentlichen Ziel, der Einheit mit dem Absoluten, weiter voranschreitet. Es kann sogar gefährlich sein, sich in der Astralwelt zu verlieren. Wenn man nicht ganz gefestigt ist, kann man letztlich von Astralwesen beherrscht werden. Es kann sein, dass niedere Astralwesen unsere Energie wegsaugen und dass unsere spirituelle Kraft, Ojas, die wir durch jahre-, vielleicht jahrzehntelange spirituelle Praxis angesammelt haben, relativ schnell verschwindet.

Macht korrumpiert und absolute Macht korrumpiert absolut. Wenn wir zu Sarvikalpa Samadhi kommen, entsteht so etwas wie absolute Macht. Da müssen wir uns vor Machtmissbrauch hüten.

Ungeachtet dessen, dass er uns davor warnt, fährt Patanjali fleißig fort, uns andere Siddhis zu erklären:

39. Bandha-kârana-shaithilyât prachâra-samvedanâch cha chittasya para-sharîraveshah
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Bandha = Bindung; kârana = Ursache; shaithilyât = durch Lösung; prachâra = Durchgänge, Kanäle; samvedanât = vom Wissen über; cha = und; chittasya = vom Verstand; para = von einem anderen; sha-rîra = Körper; âveshah = Eingang

Ist die Ursache der Bindung ausgeschaltet, kann der Geist, durch das Wissen um seine Kanäle, in den Körper eines anderen eintreten.

Hier beschreibt Patanjali also, wie man seinen eigenen Körper verlassen und in den Körper eines anderen eintreten kann. Die Technik ist natürlich, dass man aufhören muss, sich an seinen eigenen Körper zu verhaften, sich mit seinem eigenen Körper zu identifizieren. Wenn wir erst einmal erkennen: Ich bin nicht der Körper, dazu noch die Nadis (Energiekanäle) kennen und spüren, dann können wir durch bestimmte Nadis mit unserem Astralkörper unseren physischen Körper verlassen und in den Körper eines anderen eintreten. Genaueres will ich darüber jetzt nicht sagen.

Wir können diesen Vers aber auch für etwas Freundlicheres benutzen als den Körper eines anderen einzunehmen. Wir können uns nämlich in einen anderen Menschen hineinversetzen, was wiederum eine positive Eigenschaft eines spirituellen Aspiranten ist. Und dazu ist auch eine Voraussetzung, dass wir die Ursache der Bindung ausschalten.

Die meisten Menschen sind so sehr mit sich selbst beschäftigt, dass sie sich nicht oder nur sehr wenig in einen anderen hineinversetzen können. Sie sind nur in sich selbst verliebt oder verstrickt oder im Krach mit sich selbst. Alles, was darüber hinausgeht, ist für sie nicht so wichtig. Viele Menschen können den anderen auch nicht zuhören. Sie warten nur darauf, dass sie sie unterbrechen und ihren eigenen Senf dazugeben können.

Wenn zum Beispiel in einer Yogastunde ein Schüler ein ganz bestimmtes Problem hat und uns etwas fragt, gibt es, wie wir von Patanjali schon wissen, verschiedene Möglichkeiten: Wir können die Frage an Gott weitergeben: Bitte, lieber Gott, sag mir, was ich diesem Schüler raten soll, oder lieber Swami Sivananda, du hast mir diesen Schüler gebracht, hilf mir, die richtige Antwort zu finden. Und plötzlich weiß man die Lösung.

Die andere Möglichkeit, auf die dieser Aphorismus jetzt zielt, wäre, sich ganz in den Menschen hineinzuversetzen, ihn ganz zu spüren, von innen heraus. Dann kommt auch ein bestimmtes Wissen darüber, was ihm helfen kann. Wenn wir uns wirklich vollständig in den Menschen hineinversetzen, können wir auf diese Art sogar heilen. Aber damit sollte man nun wieder vorsichtig sein. Denn das kann Kräfteverbrauch bis zur Kräfteverschwendung oder Missbrauch der höheren Kräfte sein. Wir sollen nicht durch die Gegend laufen und ständig durch unser Prana und unsere Willenskraft andere Menschen heilen. Wir können ruhig als Instrument des Göttlichen fungieren und dem anderen Menschen Energie schicken, aber nicht in Kombination mit dieser Technik, sich in den anderen Menschen, in seine Krankheit, hineinzuversetzen, ihn von innen heraus zu spüren und dann von innen heraus diese Krankheit zu heilen. Das wäre ein unzulässiger Eingriff in das Gesetz des Karma.

Auch wenn man einmal Streit mit jemand hat, sich mit jemandem nicht mehr so gut versteht oder nicht mehr so gut zusammenarbeitet, kann es sehr helfen, sich in ihn hinein zu versetzen.

Als nächstes können wir lernen, wie man Levitation (Schweben) übt.

40. Udâna-jayâj jala-panka-kantakâdishv asanga utkrântish cha     Zurück zum dritten Kapitel

Udâna = eines der fünf Prânas, Lebensströme; jayât = durch Meisterung; jala = Wasser; panka = Schlamm; kantakâdishu = Dornen usw.; asangah = Nichtberührung; utkrântih = Levitation, Schweben; cha = und

Durch Meisterung des Udana (Energie hinter den Steuerungssystemen des Körpers) entsteht Levitation sowie die Fähigkeit, nicht von Wasser, Schmutz, Dornen etc. berührt zu werden.

Das ist übrigens auch das Flugmantra der „TM“-Organisation (Transzendentale Meditation von Maharishi Mahesh Yogi). Vielleicht habt ihr euch schon gefragt, was die dort machen, wenn sie angeblich fliegen lernen. Die meisten fliegen nicht, sondern hopsen, was keine außergewöhnliche parapsychologische Sache ist. Aber ich habe auch schon mit Leuten gesprochen, die das selbst gemacht haben. Die TM–Technik besteht darin, den Geist ganz ruhig zu machen.

Im Abstand von vier bis fünf Sekunden, wenn der Geist ganz ruhig ist, wiederholt man dieses Levitationsmantra. Dabei entsteht tatsächlich das Gefühl, abzuheben. Derjenige, der mir das erzählt hat, sagte, er wisse in dem Moment nicht, ob er tatsächlich schwebe oder ob er nur das Gefühl habe, sich zu erheben. Natürlich hat man in dem Fall die Augen nicht offen. Manche sagen, es entsteht so etwas wie eine starke Energie, und diese Energie schlägt dann den Körper nach unten, so dass er beginnt, mehrmals hoch- und runterzuspringen.

Die Verse im dritten Kapitel geben jeweils Techniken für bestimmte Kräfte an. Gleichzeitig sind sie auch Mantras. Durch die Wiederholung des Mantras mit voller Konzentration und Glauben an seine Macht entfalten sich die durch das Mantra beschriebenen Qualitäten. Man kann also entweder die beschriebene Technik benutzen oder das Mantra wiederholen.

In diesem Vers besteht die Technik darin, Udana zu meistern. Dazu muss man wissen, was Udana ist.

Es gibt fünf verschiedene Hauptpranas:

· Prana = die Energie hinter der Atmung und Selbsterhaltung.
· Apana = die Energie hinter Ausscheidung, Geschlechtsverkehr, Sexualität, Familiensinn, Arterhaltung
· Udhyana = die Energie hinter dem Kreislauf, der Bewegung, Muskelenergie
· Samana = die Energie hinter der Verdauung
· Udana = die Energie hinter den Steuerungssystemen des Körpers, hinter den Hormonen, der nervlichen Steuerung, des ganzen Nervensystems, verantwortlich für Schlafen, Träumen, das Verlassen des physischen Körpers mit dem Astralkörper sowohl im Moment des Schlafens als auch bei der Meditation oder Tiefenentspannung als auch im Moment des Todes.

Und hier sagt Patanjali interessanterweise, durch Meisterung dieses Udanas entsteht Levitation.

Ich bin jetzt nicht sicher, was wirklich damit gemeint ist. Denn Udana Vayu ist wie gesagt dazu da, den physischen Körper zu verlassen, ist eigentlich mehr verantwortlich für den Astralkörper als für den physischen Körper. Von daher würde man eher dazu neigen, anzunehmen, dass damit weniger die körperliche Levitation gemeint ist als die Fähigkeit, mit dem Astralkörper den physischen Körper zu verlassen. Das wiederum ist eine Erfahrung, die viele Menschen schon gemacht haben. In einer typischen Yogalehrerausbildung mit 40 Teilnehmern haben fünf bis zehn schon die Erfahrung gemacht, ihren Körper verlassen zu haben. Und wenn wir Udana meistern, können wir das bewusst machen.

Aber es mag auch sein, dass sich auch der physische Körper erheben kann. Ich habe das zwar noch nie erlebt, außer Hüpfen – aber Hüpfen ist eben Hüpfen und keine Levitation. Aber es gibt Beschreibungen, wo es manchen Menschen passiert sein soll. Dem Padre Pio soll das ab und zu mal geschehen sein. Und auch von dem heiligen Franziskus gibt es Geschichten, nach denen er sich während des Gottesdienstes erhoben haben und plötzlich ein, zwei Meter über dem Boden geschwebt haben soll. Und von einem anderen Heiligen heißt es, er habe sich immer Backsteine oder Metall in die Taschen gesteckt, weil es ihm unangenehm war, sich während des Gottesdienstes so zu erheben.

41. Samâna-jayâj jvalanam     Zurück zum dritten Kapitel

Samâna = eine der fünf Prana–Energien; jayât = durch Meisterung; jvalanam = Auflodern (des gastrischen Feuers)

Durch Meisterung des Samana (die Energie hinter der Verdauung) kommt flammendes Feuer.

Samana Vayu ist die Energie hinter der Verdauung, das Verdauungsfeuer. Wenn wir dieses meistern, können wir zum einen alles verdauen und zum anderen können wir auch Feuer ausstrahlen. Es gibt im Himalaya Yogis, die ganz nackt dort leben, auf Gletschern sitzen, sich mit ihrer Körperwärme Eis zu Wasser schmelzen und denen das gar nichts ausmacht. Wenn wir Samana meistern, haben wir das nötige Feuer für alles.

Eine konkrete Methode, wie das Samana zu meistern ist, beschreibt Patanjali nicht. Als Hilfstechnik könnte man jetzt zum Beispiel das Mantra, also diesen Sanskrit-Aphorismus, wiederholen. Ihr könnt das vielleicht einmal ausprobieren, wenn es euch kalt ist. Nur, ihr müsst es dann genau richtig aussprechen und betonen. Wenn man ein Mantra falsch ausspricht, kann es eine ganz andere Bedeutung bekommen und zu ganz anderen Ergebnissen führen. Deshalb braucht man gerade bei diesen machtvollen Mantras Grundkenntnisse mindestens in der korrekten Aussprache des Sanskrit. Es ist nicht wirklich notwendig, das alles zu beherrschen, aber es ist eine Technik, die funktioniert. Ich kenne Leute, die mit diesen beiden Mantras gearbeitet haben und sagen, sie hatten beim einen tatsächlich das Gefühl, sich zu erheben und beim anderen konnten sie willkürlich jegliche Hitze erzeugen, in sich und im Raum um sich herum.

42. Shrotrâkâshayoh sambandha-samyamâd divyam shrotram     Zurück zum dritten Kapitel

Shrotra = Ohr; âkâshayoh = Raum, Äther; sambandha = Beziehung; samyamâd = durch Übung von Samyama; divyam = göttlich, hyperphysisch; shrotram = Hören

Indem man Samyama auf die Verbindung zwischen Akasha (Äther) und Ohr ausführt, erlangt man überphysisches Hören.

Das können wir gerade mal ausprobieren.

Schließt die Augen. Jetzt konzentriert euch zunächst einmal auf eure Ohren, und zwar weniger auf die physischen Ohren oder das Bild von den Ohren, sondern auf das Fühlen eurer Ohren. Spürt nach, wie weit ihr die Ohren nach innen spüren könnt. Dann werdet euch bewusst, wie weit ihr die Energie der Ohren nach außen spüren könnt. Wenn man sich so entspannt konzentriert, fühlt man meistens die Ohren wie einen Trichter. Und jetzt versucht, weit nach außen zu spüren und spürt gleichzeitig den physischen Ort der Ohren und den Raum weit weg von den Ohren. So spürt ihr die Verbindung zwischen dem Raum weit weg und den Ohren. Und dann werdet euch bewusst, ob ihr vielleicht einen inneren Klang hört.

Das gleiche kann man mit den Augen machen. Konzentriert euch jetzt auf die Augen. Werdet euch bewusst, wie sich die Augen anfühlen. Geht mit eurem Bewusstsein zunächst durch die Augen in die Höhle des Kopfes, dann spürt die Augen nach vorn, werdet euch bewusst, wie weit ihr die Augen und die Energieausstrahlung der Augen nach vorne spüren könnt. Jetzt spürt gleichzeitig den Raum weit vor euren Augen und die Augen selbst. Spürt also Sambhanda, die Verbindung der Augen mit dem Raum und macht euch bewusst, ob ihr dabei mit geschlossenen Augen etwas sehen könnt.

Wer von euch hat einen überirdischen Klang gehört oder Farben gesehen?

Wenn man das länger macht, ist es eine Möglichkeit, überphysisches Hören und Sehen zu entwickeln. Und es ist durchaus in Ordnung, sich auf so etwas zu konzentrieren. Patanjali hat ja im ersten Kapitel der Yoga Sutras erwähnt, dass man den Geist leicht zur Stille bekommt, wenn die höheren Sinne, also überphysisches Hören und Sehen, aktiv werden. Das kann man zum Beispiel auch in der Tiefenentspannung sehr leicht üben, indem man sich nicht nur auf die körperliche Entspannung konzentriert, sondern die Verbindung der Ohren mit dem Raum herstellt. Selbst wenn man dabei nichts hört, kann ein schönes Ausdehnungsgefühl entstehen und es kann einen auch sehr entspannen.

Es gibt eine ähnliche Technik, mit der man den physischen Körper verlassen kann. Man führt Sambhanda aus auf den Körper und die Verbindung mit dem Raum darüber. Man spürt erst den Körper, dann den Raum darüber, die Verbindung zum Raum und dann spürt man nur noch den Raum darüber und plötzlich ist man oben. Je mehr man in der Lage ist, sich zu entspannen und zu konzentrieren, desto einfacher geht es. Es hat durchaus einen Vorteil, das einmal zu erfahren, denn dann weiß man ganz sicher, ich bin nicht der Körper. Wenn man viel liest und die Wissenschaft einem immer weismachen will, dass der Mensch der Körper ist und der Geist nur ein Ausfluss irgendwelcher Gehirnverbindungen und dass die ganze spirituelle Erfahrung nur auf irgendwelchen eigenartig verlaufenden Gehirnwindungen beruht, auf Selbstbetrug und Hormon–Botenstoffen oder so ähnlich, ist eine solche Erfahrung sehr nützlich. Denn wenn man wirklich einmal den physischen Körper verlassen hat, die Welt von oben gesehen hat, dann weiß man es, man hat es erfahren und die Bücher können behaupten, was sie wollen.

Eigentlich ist das ja ein großes Paradoxon bei der modernen Psychologie und Medizin. Die moderne Physik hat sich Ende des letzten und Anfang dieses Jahrhunderts revolutioniert aufgrund von ein paar ganz kleinen Phänomenen, die nicht mit dem Weltbild der Physik übereingestimmt haben. Noch gegen Ende des letzten Jahrhunderts hat die englische Royal Academy of Science Queen Victoria gemeldet, das Universum sei fast ganz enthüllt, es gebe praktisch nichts mehr zu entdecken. Und in Amerika entstand ein ähnlicher Bericht an den Senat. Einer namens Kelvin hat einem brillanten Studenten abgeraten, Physik zu studieren, weil er gemeint hat, es gäbe in der Physik nichts mehr zu entdecken.

Dann verliefen einige Versuche komisch, nicht so, wie sie hätten sollen und darauf haben sich die Physiker gestürzt. Daraus entstanden die Atomwissenschaft, die Relativitätstheorie, Quantenphysik usw. Also aufgrund von ein paar Ausnahmen von der Regel – man hätte ja auch sagen können, 99 % der Fälle sind abgedeckt, das 1 % spielt keine große Rolle – hat sich das Weltbild der Physik radikal geändert.

In der Psychologie und Medizin dagegen wird immer nur die Mehrheit berücksichtigt und man beschäftigt sich damit. Aber wenn nur ein einziger Mensch von unheilbarem Krebs geheilt wird, dann müsste das untersucht werden, denn das ist das Interessante. Und wenn ein einziger Mensch in der Lage ist, seinen physischen Körper zu verlassen und von oben sich und die Welt zu sehen – und solche Fälle sind in der Parapsychologie-Forschung unter wissenschaftlichen Bedingungen dokumentiert –, wenn es dort einen einzigen gibt, dann müsste man sich darauf stürzen, Erklärungen dafür suchen. Statt dessen hält man dieses materialistische Weltbild, das die Physik längst hinter sich gelassen hat, weiter aufrecht und bringt es sogar immer mehr in die Medizin und die Psychologie hinein, wo es überhaupt nichts verloren hat.

Daher ist es durchaus gut für einen selbst, ein paar solcher Dinge zu beherrschen.

Eine andere Sache wäre, und da bin ich ein bisschen skeptisch, es auch ein paar Menschen beibringen, um es so Wissenschaftlern dokumentieren zu können. Wenn zum Beispiel zehn Leute in einem Raum kollektiv einen Meter hochsteigen, das könnte die Wissenschaft es vielleicht nicht mehr ohne weiteres ignorieren. Es müsste sie eigentlich revolutionieren. Aber wahrscheinlich würde es nur ein Riesenspektakel geben und dem authentischen spirituellen Interesse eher schaden.

43. Kâyâkâshayoh sambandha-samyamât laghu-tûla-samâpattesh châkâsha-gamanam
Zurück zum dritten Kapitel

Kâya = Körper; âkâshayoh = Raum, Äther; sambandha = Beziehung; samyamât = durch Übung von Samyama; laghu = leicht; tûla = Watte; samâpatteh = durch Verbindung; cha = und; âkâsha = Raum, Äther; gamanam = hineingehen, hindurchgehen

Indem man Samyama auf die Verbindung zwischen Akasha (Äther) und Körper und auf die Spannkraft leichter Gegenstände ausführt, erhält man die Fähigkeit, durch den Raum zu reisen.

Hier ist die Astralreise beschrieben. Den ersten Teil, wie man den Körper verlassen kann, habe ich bereits erwähnt.

„Spannkraft leichter Gegenstände“ gibt eine andere Technik an. Wir können uns konzentrieren auf Gegenstände, die im Wind schweben. Dann bekommen wir auch die Fähigkeit, im Wind zu schweben und damit Astralreisen zu machen. Leichter, meine ich, ist die erste Methode.

44. Bahir akalpitâ vrittir mahâ-videhâ; tatah prakâshâvarana-kshayah     Zurück zum dritten Kapitel

Bahih = außen, außerhalb; akalpitâ = unvorstellbar; vrittih = Gedankenwellen, Zustand des Verstandes; mahâ–videhâ = die übernatürliche Kraft, außerhalb des (physischen oder mentalen) Körpers zu verweilen; tatah = daher, davon; prakâsha = Licht; âvarana = Verhüllen; kshayah = Verschwinden

Durch die Ausführung von Samyama auf geistige Veränderungen jenseits von Ego und Intellekt kommt die Fähigkeit, außerhalb des physischen Körpers zu verbleiben.

Jetzt erklärt Patanjali, wie man den physischen Körper dauerhaft verlässt, wenn man will, ohne dass der physische Körper gleich stirbt. Das geht auch dann, wenn das Karma noch nicht vollständig abgearbeitet ist.

Im ersten Kapitel hatten wir von Jivanmukti und Videhamukti gesprochen. Jivanmukti ist die lebendige Befreiung, die Befreiung, während man weiter in seinem physischen Körper lebt, Videhamukti ist die Befreiung ohne den Körper.

Mahavideha, wahrhafte Nichtkörperlichkeit, wird erreicht, wenn wir es schaffen, jenseits der Vrittis (Gedanken) zu kommen. Man kann den Körper einfach so verlassen, indem man sich nicht mehr mit dem physischen Körper, dem Ego und dem Intellekt identifiziert – und damit ist man dauerhaft davon befreit.

Wollt ihr das gerade mal ausprobieren? – Wartet aber, bis wir mit allen Kapiteln durch sind!

Es gibt noch eine zweite Interpretation dieses Aphorismus. Die Fähigkeit, sich mit dem physischen, mentalen und anderen Körpern nicht mehr zu identifizieren entsteht, wenn wir jenseits von Ego und Intellekt spüren, wer wir wirklich sind. Wir spüren dann diese Mahavideha, diese große Körperlosigkeit. Und es ist wiederum ganz praktisch, sich öfter mal selbst zu fragen: Was ist jenseits von Ego und Intellekt? Diese Frage geht ja schon über Emotion und Prana und was sich da sonst noch alles anklammert, hinaus.

45. Sthûla-svarûpa-sûkshmânvayârthavattva-samymâd bhûta-jayah     Zurück zum dritten Kapitel

Sthûla = grob; svarûpa = wirkliche Form, Natur; sûkshma = subtil; anvaya = alles durchdringend; artha-vattva = dem Zwecke förderlich, Funktion; samyamat = durch Ausführung von Samyama; bhûta = Elemente; jayah = Herrschaft, Meisterschaft

Durch die Ausführung von Samyama auf die Elemente in ihren groben, beständigen, subtilen, durchdringenden und funktionellen Zuständen können sie vom Yogi kontrolliert werden.

Wenn wir uns ganz bewusst auf ein Element konzentrieren, bekommen wir die Herrschaft darüber.

Eine Technik dafür ist zum Beispiel die Samanu-Konzentration (bestimmte Atem- und Konzentrationstechnik), wo wir uns auf die Reinigungswirkung der Elemente konzentrieren.

In den Hatha Yoga-Schriften wie der Gheranda Samhita und der Yoga Vasishta sind diese Techniken detailliert beschrieben.

46. Tato ¢nimâdi-prâdurbhâvah kâya-sampat tad dharmânabhighâtas cha    Zurück zum dritten Kapitel

Tato = daher, davon; animâdi = Animan usw.,die Gruppe der acht Siddhis, zu denen Animan, den Körper klein wie ein Atom zu machen, gehört; prâdurbhâvah = Erscheinung; kâya = physischer Körper; sampat = Vollkommenheit; tat = von ihnen (den Elementen); dharma = Funktionen; anabhighâ-tah = Nichtüberwältigung; cha = und

Aus der Fähigkeit, die Elemente zu kontrollieren, entspringen die acht Siddhis, wie z. B. den Körper klein wie ein Atom zu machen, sowie Vollkommenheit und Unverwundbarkeit des Körpers.

Die acht Maha Siddhis, die großen Kräfte, sind:

· Fähigkeit, winzige Größe anzunehmen, sich zu verkleinern zum Atom
· Fähigkeit zu kolossaler Größe
· Fähigkeit zu Schwerelosigkeit
· Fähigkeit, sich ganz schwer zu machen, zu großem Gewicht
· Jede Wunscherfüllung und alles Wissen
· Eintritt in den Körper eines anderen
· Unbehinderter Wille
· Göttliche Macht.

Auf eine gewisse Weise bekommen wir diese acht Fähigkeiten auch im Kleinen am Anfang unseres spirituellen Weges.

Wir sind in der Lage, winzige Größe anzunehmen. Es macht uns zum Beispiel nichts aus, die Toiletten zu putzen und ähnliche Arbeiten zu verrichten oder uns mal tadeln zu lassen.

Aber gleichzeitig auch zu kolossaler Größe: Wenn wir aufgefordert werden, vor fünfhundert Leuten einen Vortrag zu halten, dann machen wir das halt.

Meistens fällt uns das letztere schwerer als das erste. Aber wir können beides. Und wir verhaften uns an keines von beidem.

Schwerelosigkeit: Wir können uns an andere anpassen, wir brauchen nicht immer diese große Schwere zu haben, wo es um uns selbst geht. Wir sind in der Lage, auch mal das zu tun, was die anderen wollen und doch ganz autonom zu bleiben.

Großes Gewicht: Wir können wenn nötig auch auf unserem Standpunkt beharren, uns durchsetzen.

Wir haben die Fähigkeit zu jedem Wunsch oder Wissen. Wir können uns ab und zu unsere Wünsche erfüllen. Umgekehrt heißt Herrschaft über den Wunsch auch, dass wir in der Lage sind, den Wunsch nicht zu erfüllen. Beides gehört zum Yogi. Er ist in der Lage, sich mal einen Wunsch zu erfüllen und alles Mögliche dafür zu tun, er ist aber auch in der Lage, den Wunsch nicht zu erfüllen, ohne sich deshalb frustriert zu fühlen. Und damit erwirbt er auch das Wissen, das er braucht.

Eintritt in den Körper eines anderen auf andere als wörtliche Weise: Man kann sich in einen anderen Menschen hineinversetzen, mit ihm fühlen.

Unbehinderter Wille und göttliche Macht: Durch regelmäßige Übung der Yogapraktikten, Innenschau, Hingabe an Gott, Anwendung der Raja Yoga-Techniken zur Persönlichkeitsentfaltung entwickeln wir allmählich eine starke Willens- und Gedankenkraft.

47. Rûpa-lâvanya-bala-vajra-samhananatvâni kâya-sampat     Zurück zum dritten Kapitel

Rûpa = Schönheit; lâvanya = Anmut; bala = Stärke; vajra-samhana-natvâni = stählerne Härte, außergewöhnliche Festigkeit; kâya = Körper; sampat = Vollkommenheit

Vollkommenheit des Körpers ist Schönheit, gutes Aussehen, Kraft und absolute Festigkeit.

Durch die Konzentration auf die Elemente könnt ihr das auch alles bekommen, wenn ihr wollt. Da der Körper aus den Elementen, kann man ihn durch Konzentration auf die Elemente vervollkommnen.

Es gibt eine Tradition im Hatha Yoga, deren Hauptziel es ist, den physischen Körper unsterblich zu machen. Wobei damit nicht wirklich unsterblich gemeint ist, sondern die Absicht, ihn sehr dauerhaft zu machen, ein paar tausend Jahre alt werden zu lassen. Zu den spezifischen Techniken dabei gehören in Abständen von einigen Jahren jeweils mehrere Monate dauernde „Verjüngungskuren“, mit allen möglichen Kriyas (Reinigungshandlungen), Mudras, Asanas, wo vor allem Kopfstand und Schulterstand sehr sehr lange gehalten werden, mit besonderer Diät und Kräutern, und auch die Elementekonzentration. Durch die Elementekonzentration bekommt man Herrschaft über die Elemente und so kann man den physischen Körper etwas länger erhalten.

Ein Bekannter von mir behauptet, er hätte jemanden gekannt, der 1500 Jahre alt gewesen sei, aber vor zehn Jahren sei er gestorben. Ich muss zugeben, ich bin bei solchen Geschichten etwas skeptisch. Es wird viel behauptet und die Inder kennen typischerweise ihr Geburtsdatum nicht. Heutzutage vielleicht schon, aber die Älteren eher nicht. Deshalb weiß keiner so genau, wie alt jemand dann wirklich ist. Aber ich habe auch selbst schon außergewöhnliche Dinge gesehen, so dass ich auch nicht ausschließe, dass es so etwas gibt.

Dann gibt es heutzutage Menschen, die ihre Zellen unsterblich machen wollen. Ich persönlich sehe keinen großen Sinn darin. Ob der physische Körper nun ein paar Jahrzehnte länger lebt oder nicht, was bedeutet das schon? Das Selbst ist unsterblich. Meistern sei es unbeschadet, ihr Leben zu verlängern, wenn sie feststellen, dass sie noch einiges zu tun haben, noch Karma ausarbeiten müssen. Sie machen das dann bewusst noch in diesem Körper, anstatt im nächsten Leben wieder von vorne anzufangen, viele Jahre unbewusst zu verbringen, bis im nächsten Leben dann langsam die Spiritualität wieder erwacht. In einem solchen Fall kann man sich sagen: Ich mache lieber etwas, damit der physische Körper etwas älter wird. Wir machen hier ja auch einiges dafür: Asanas, Pranayama, richtige Ernährung, Stressabbau durch Tiefenentspannung und Meditation usw. Damit erhöhen wir unsere Lebenserwartung wahrscheinlich um zehn bis fünfzehn Jahre; aber sehr viel mehr wird es wohl nicht ausmachen, also sicher nicht Hunderte von Jahren.

Diejenigen, die in diesem Jahrhundert die physische Unsterblichkeit am lautstarksten propagiert haben, sind nicht übermäßig alt geworden. Es gibt auch einen Klub der Unsterblichen. Habt ihr von dem schon einmal gehört? Sie sagen, Tod, Sterben, ist nur ein geistiger Irrtum. Wenn man nicht ans Sterben glaubt, stirbt man auch nicht. Nach der Satzung wird man aus dem Klub ausgeschlossen, wenn man krank wird. Denn wer schwere Krankheiten bekommt, hat sich nicht an die geistigen Grundlagen des Vereins gehalten, heißt es. Ein paar Krankheiten, die als Reinigungsprozesse gelten, sind zugelassen. Somit stirbt auch fast niemand aus diesem Verein der Unsterblichen. Das Durchschnittsalter ist etwa Ende Dreißig!

Trotzdem, die Herrschaft über den Körper kann über die Elementekonzentration erreicht werden.

48.  Grahana-svarûpâsmitânvayârthavattva-samyamâd indriya-jayah     Zurück zum dritten Kapitel

Grahana = Kraft der Erkenntnis; svarûpa = wahre Natur; asmitâ = Egoismus; anvaya = alles durchdringen; arthavattva = Zweckdienlichkeit, Funktion; samyamât = durch Übung von Samyama; indriya = Sinnesorgane; jayah = Herrschaft

Meisterung der Sinnesorgane wird durch das Ausführen von Samyama auf ihre Kraft der Wahrnehmung, ihre wahre Natur, ihre Beziehung zum Ego, ihre Beherrschung und ihre Funktion erlangt.

Auf diese Weise könntet ihr euer Hören, Sehen, Riechen usw. verbessern.

Aber die Meisterung ist hier zweifach zu verstehen.

Zum einen kann man die Sinnesorgane besser benutzen und zum zweiten kann man sie auch besser beherrschen.

Samyama ausführen auf die Kraft der Wahrnehmung heißt, ganz bewusst etwas anzuschauen und sich dabei auf die Wahrnehmungskraft zu konzentrieren. Oder man kann sich auf die wahre Natur der Kraft der Wahrnehmung als solches konzentrieren, auf ihre Beziehung zu unserem Ego, auf ihre Funktion und schließlich auf ihre Beherrschung. Das enthüllt einem dann intuitiv, wie man das Organ beherrscht, so dass man nicht mehr durch das Organ nach draußen gezogen wird. Zum anderen können wir damit erreichen, dass die Organfunktion besser erfüllt wird.

Vielleicht eine praktische Anwendung für Menschen, die sehr am Essen hängen. Wir sind ja in unserer Zivilisation eine Gesellschaft von Eßgestörten. Viele denken, sie seien zu dick, manche denken, sie seien zu dünn. Fast niemand meint, das richtige Gewicht zu haben. Zwischen 10 % der weiblichen Jugendlichen, nach anderen Untersuchungen sogar 20 %, haben die Eß-Brechsucht oder die Freß-Fastsucht, sind also total essensgestört. Vieles kompensieren wir über das Essen. Und die Hauptsünde heutzutage ist es, zu viel zu essen.

Diesen Sinn könnte man beherrschen, indem man Samyama ausführt auf den Geschmack an sich. Was ist Geschmack an sich? Was ist die Natur des Schmeckens? Wie bezieht sich mein Ego auf dieses Schmecken? Was bedeutet für mich Beherrschung dieses Geschmacksinns? Und was ist eigentlich die ursprüngliche Funktion des Geschmackssinns? Das könnte man zunächst einmal als Anlass nehmen für Swadhyaya, für Selbststudium, logisches Nachdenken. Das ist noch nicht Samyama. Auch das kann schon helfen. Paradoxerweise, wenn ich jetzt darüber spreche, sammelt sich Speichel im Mund. Geht es euch auch so? – Die Kraft des Geistes! Man spricht nur über Geschmack und die Kraft der Wahrnehmung – wenn ihr euch noch dazu einen Obstkuchen oder eine saftige Mango vorstellt ….! Danach geht man über das Nachdenken hinaus, führt Samyama darüber aus, das heißt, man spürt einfach und geht in das hinein, worüber man vorher nachgedacht hat – man versucht, die Natur des Schmeckens, des Geschmacksinns, seine Funktion, die persönliche Beziehung dazu usw. jetzt intuitiv zu erfassen. So können wir unseren Eßsinn beherrschen, wenn wir wollen.

Aber statt zu versuchen, den Eßsinn zu beherrschen, ist es meist sinnvoller, aufzuhören zu denken, wir müssten aussehen wie eine Barbiepuppe.

49. Tato manojavitvam vikarana-bhâvah pradhâna-jayash cha     Zurück zum dritten Kapitel

Tatah = daher, davon; manojavitvam = Flüchtigkeit; vikarana-bhâvah = Unabhängigkeit von Werkzeugen; pradhâna = Prakriti, die Natur, Schöpfung; jayah = Herrschaft, Meisterschaft; cha = und

Daraus folgt die unmittelbare Fähigkeit, Wissen ohne Gebrauch der Sinne und vollständige Meisterschaft über Prakriti zu bekommen.

Wenn wir die Sinnesorgane meistern, können wir darüber die Fähigkeit zur direkten Wahrnehmung ohne Sinne erwerben. Patanjali sagt hier, wir bekommen direktes Wissen ohne Einschaltung des Geistes, einfach indem wir uns in etwas anderes hineinversetzen. Aber wir können ebenso, wenn wir unseren Geist beherrschen, ihn ohne die Sinne zu einem Objekt oder einem Wesen hinschicken und es so intuitiv wahrnehmen. Auch bei geschlossenen Augen können wir zum Beispiel in einen Raum nebenan schauen.

50. Sattva-purushânyatâ-khyâti-mâtrasya sarva-bhâvâdhishthâtritvam sarvajnâtritvam cha
Zurück zum dritten Kapitel

Sattva = Reinheit, eine der drei Gunas, Eigenschaften der Natur; purusha = Purusha, das individuelle Selbst; anyatâ = Unterscheidung; khyâti = Gewahrung; mâtrasya = nur; sarva = alle; bhâva = Daseinszustände, -formen; adhishthâtritvam = Vorherrschaft, Allmacht; sarva–jnâtritvam = Allwissenheit; cha = und

Nur durch die Verwirklichung des Unterschiedes zwischen Sattwa (Reinheit) und Purusha (das höchste Selbst) erlangt man Allmacht und Allwissenheit.

Diese Unterscheidung zwischen unserem wahren Selbst, Purusha, und Sattwa, der Reinheit, hatten wir schon einmal. Reinheit ist das, womit man sich als spiritueller Aspirant gerne identifiziert: Freude, Wonne, Schönheit, Reinheit, Wissen, Licht, Liebe und all das. Sattwa ist zwar positiver als Rajas und Tamas, aber auch die Identifikation mit Sattwa ist und bleibt eine Identifikation, die uns bindet. Und darüber hinaus gelingt es uns nie, unser Leben wirklich in jeder Hinsicht und vollständig sattwig zu machen. Denn Sattwa ist eine Guna (Eigenschaft der Natur) und die Gunas sind parinama, d. h., in ständiger Veränderung. So ist es alles im Leben mal schön, mal nicht so schön – Sattwa, Rajas und Tamas lösen sich ab, wobei wir danach streben, Sattwa immer weiter zu erhöhen.

Aber es gibt immer noch einen Unterschied zwischen diesen wunderschönen sattwigen Visionen, den wunderschönen Wonneerfahrungen der Anandamaya Kosha oder auch Sarvikalpa Samadhi und unserem wahren Selbst. Indem wir uns auf diesen Unterschied zwischen Sattwa und Purusha konzentrieren, erreichen wir Allwissenheit. Denn Sattwa war die erste Manifestation der Prakriti (Schöpfung, Natur), die von Purusha ausging.

Indem wir den Unterschied zwischen Sattwa und Purusha erfassen, kommen wir zurück zu diesem Urpunkt, von dem die Schöpfung und unsere eigene Verwicklung in Prakriti ausgeht. Wir erkennen intuitiv das Prinzip, das Warum und Wie der Schöpfung. Was jetzt nicht notwendigerweise heißt, dass wir es wirklich in allen Details wissen ––dazu müssen wir nochmals die spezifischen Samyamas ausführen – aber wir haben das generelle Wissen darüber, die richtige Antwort auf die Frage: Warum ist das Universum zustande gekommen? Was ist die Ursache für das Universum? Die richtige Antwort ist: Man kann es in Worte nicht fassen. Verwirkliche den Unterschied zwischen Purusha und Sattwa, dann weißt du es.

Das zweite wichtige Stichwort ist Allmacht. Allmacht ist auf zwei Weisen zu verstehen. Einmal hat man jetzt alle Siddhis, das ist der machtvollste Zustand. Man kehrt zurück zum Beginn der Schöpfung, ist in diesem Urprinzip, und hat von daher die Fähigkeit, die ganze Schöpfung zu ändern. Aber insbesondere hat man die Fähigkeit, die Schöpfung zu verlassen, wenn und wann man will, d. h., in Nirvikalpa Samadhi, Asamprajnata Samadhi einzugehen oder auch wieder zurückzukehren, wenn wir wissen, dass der Körper  noch Karma abzuarbeiten hat. Wir haben diese ursprüngliche Macht zurückgewonnen, in die Welt hinein- und aus der Welt herauszugehen.

51. Tad-vairâgyâd api dosha-bîja-kshaye kaivalyam     Zurück zum dritten Kapitel

Tad–vairâgyât = durch Nichtanhaften (an den in Vers 50 erwähnten Siddhis); api = sogar; dosha = Bindung; bîja = Samen; kshaye = bei Zerstörung; kaivalyam = Befreiung

Durch das Nichtverhaftetsein sogar an diese, die Allmacht und Allwissenheit des Purusha, kommt die Zerstörung des letzten Samens der Bindung, und man erlangt Befreiung.

Mit der Verwirklichung des Unterschiedes zwischen Purusha und Sattwa, dem subtilsten Teil von Prakriti, haben wir vollkommene Allmacht erlangt. Wenn wir uns daran nicht verhaften, tad-vairagyad, also auch diesem entsagen, dann kommen wir zu kaivalya, zur Befreiung. Api dosha bija kshaye: Der letzte Samen der Bindung wird zerstört.

Jetzt kommt noch einmal eine Warnung:

52. Sthâny-upanimantrane sanga-smayâ-karanam punar anishtaprasangat     Zurück zum dritten Kapitel

Sthâni = hyperphysische Wesenheit; upanimantrane = eingeladen; sanga = Anhaften, Vergnügen; smayâ = Stolz, Gefallen; akarana = Vermeidung; punah = wieder; anishta = Unerwünschtes, Schlechtes; prasangât = infolge Wiederbelebung

Laden ihn himmlische Wesen ein, sollte der Yogi nicht Vergnügen oder Stolz fühlen, denn es besteht die Gefahr der Wiederbelebung des Schlechten.

Es gibt, wie bereits besprochen, verschiedene Versuchungen durch astrale Wesen. Es kommen Engel, wunderschöne Gandarvas und Apsaras usw., mit herrlicher Musik, die einem himmlische Erfahrungen, Gefühle, Bilder versprechen, einen die Gesetze verschiedener Ebenen lehren wollen. Da gilt es, vorsichtig zu sein, denn das ist nicht das Ziel!

53. Kshana-tat-kramayoh samyamâd vivekajam jnânam     Zurück zum dritten Kapitel

Kshana = Augenblick; tat-kramayoh = seine Ordnung, Aufeinanderfolge; samyamât = durch Ausübung von Samyama; vivekajam = „geboren aus der Wahrnehmung der Wirklichkeit“, Unterscheidungskraft; jnânam = Wissen

Durch die Ausführung von Samyama auf einen Augenblick und seine Folge erreicht man Unterscheidungskraft.

Wenn wir einen gewissen Augenblick sehen, diesen Moment, und überlegen, was daraus entstehen könnte, dann bekommen wir Unterscheidungskraft. Wir merken, was da ist, was für einen Wunsch wir gerade haben. Wir konzentrieren uns auf diesen Augenblick, wo wir gerade dabei sind, eine Dummheit zu begehen. Und wir konzentrieren uns auf die Folge. Dann kommt die Unterscheidungskraft: Lieber nicht –  in Anlehnung an einen Vers aus dem zweiten Kapitel: „Heiam dukam anagatam“: „Leid, das sich noch nicht manifestiert hat, sollte vermieden werden“ – ein wichtiger Vers, den wir öfter vergessen.

Viele Menschen machen das leider nicht – einen Augenblick innezuhalten und sich auf die Folgen und Auswirkungen eines Wunsches oder einer Handlung zu konzentrieren –, sondern sie tun es einfach. Das ist die einfache Interpretation dieses Verses.

Er hat aber auch eine tiefere, philosophischere Ebene. Wenn man über den Augenblick und seine Folge nachdenkt, kommt man zur letzten Unterscheidungskraft, nämlich, dass Zeit eine Illusion ist.

Er ist im Kleinen anzuwenden wie auch im Großen, wie fast alle Verse des dritten Kapitels.

Eine weitere interessante Interpretation ist die von Swami Vishnu: Leben im Hier und Jetzt. Man konzentriert sich auf das Jetzt, statt immer in der Zukunft zu leben. Nicht ständig überlegen: Was könnte ich noch machen, was muss ich noch tun, ich werde glücklich sein, wenn …

Dabei ertappe ich mich immer, wenn es um den Ashram hier geht. Ich denke immer, wenn die und die Mitarbeiter so und so lange da sind und sich in dieses und jenes Gebiet eingearbeitet und richtig eingelebt haben und wenn die Mannschaft vollständig ist, dann wird alles glatt laufen. Eigentlich müsste ich es besser wissen.

Ich bin jetzt seit 18 Jahren in solchen Yogazentren und es war nie so gewesen, dass alles auf ideale Weise besetzt ist. Ich weiß nicht, ob das bei allen spirituellen Organisationen so ist oder ob es eine spezifische Energie ist gerade von Swami Vishnu. Im Sivananda-Ashram in Rishikesh habe ich immer das Gefühl, dass es dort viel gemütlicher zugeht. Dort gibt es ein Büroteam, dessen Mitglieder durchschnittlich schon 20 bis 30 Jahre da sind und wenn in einer Abteilung mal jemand ausfällt, ist es nicht tragisch, dann gibt es mindestens fünf andere, die dort auch Bescheid wissen. So hat man es mir mindestens erklärt, aber wahrscheinlich sieht es auch nur von außen so leicht aus und in Wirklichkeit ist es dort genauso wie hier und wie überall.

Man denkt, in Zukunft wird es so sein, anstatt jetzt im Augenblick, in diesem Moment zu sein, zu leben, zu genießen. Deshalb bemühe ich mich immer wieder darum, diesen Moment, mit allem Chaos, das ab und zu herrscht, als das Leben anzunehmen. Swami Vishnu sagte: „Chaos muss herrschen, dann kann sich das Karma richtig ausarbeiten.

Sobald alles unter Kontrolle ist, lernt man nichts Neues mehr.“ Swami Vishnu hat in den Sivananda Zentren auch immer für Chaos gesorgt, wenn es irgendwo einmal funktioniert hat. Wenn wir in einem Center mal ein Team hatten, in dem sich alle gut verstanden haben, konnte man sicher sein, dass Swami Vishnu bald anruft und denjenigen versetzt, der für die Harmonie im Team vielleicht am notwendigsten war. Oder er versetzt einen neuen Mitarbeiter dorthin, der ein richtiger Krawallstifter ist und sich woanders hoffnungslos mit allen überworfen hat. Viele solcher Dinge hat Swami Vishnu im Bewusstsein gemacht, Diener und Kanal Gottes zu sein. Irgendwie hat er gespürt, das muss er jetzt machen und hat es halt gemacht. Ob er das bewusst gemacht hat, um jemanden nicht zu sehr in Trägheit und Ruhe verfallen zu lassen, weiß ich nicht. Aber es hieß dann so schön: „Swami Vishnu wirft wieder eine Bombe!“ Irgendwie habe ich das Gefühl, er macht es hier mit uns im Yoga Vidya-Ashram auch. Aber das ist dann eine Notwendigkeit, damit wir Neues lernen.

Wir ruhen uns nicht aus, sondern wir lernen, immer wieder im Moment zu sein, zu tun, was jetzt in diesem Moment notwendig ist und wir lernen, alle Verhaftungen aufzugeben. Wir müssen immer wieder bereit sein, Projekte oder unsere Aufgaben aufzugeben, etwas anderes zu tun, wenn es notwenig ist, ohne uns dabei zu verheddern. Indem wir Konzentration auf den Augenblick üben: Was liegt in dem Moment an? Was ist in dem Moment zu tun? Was lerne ich in dem Moment? Wie manifestiert sich Gott in diesem Moment? Wie offenbart er sich in diesem Moment, bekommen wir Unterscheidungskraft?

54. Jâti-lakshana-deshair anyatânavacchedât tulyayos tatah prapratipattih     Zurück zum dritten Kapitel

Jâti = Klasse; lakshana = Merkmal; deshaih = Ort, Position; anyatâ = Trennung, Unterschied; anavac-chedât = infolge der Abwesenheit von Definition; tulyayoh = der zwei gleichen; tatah = davon; prati-pattih = Verständnis, Wissen (des Unterschiedes)

Die Unterscheidungskraft führt auch zum Wissen um den Unterschied zwischen zwei ähnlichen Objekten, wenn ihr Unterschied nicht durch Klasse, Charakteristika oder Ort bestimmt werden kann.

55. Târakam sarva-vishayam sarvathâ-vishayam akramam cheti vivekajam jnânam     Zurück zum dritten Kapitel

Târakam = transzendent, das, was zum Überqueren hilft; sarva–vishayam = alle Objekte gleichzeitig erkennend; sarvathâ–vishayam = allen Objekten zu jeder Zeit und in jedem Raum angehörend; akra-mam = ungeordnet; cha = und; iti = fertig, Ende; vivekajam = aus Unterscheidungskraft; jnânam = Wissen

Das höchste Wissen, geboren aus der Unterscheidungskraft, transzendiert alles, es nimmt alles gleichzeitig in Zeit und Raum wahr und transzendiert alles, sogar die Weltprozesse.

Wenn wir diese Unterscheidungskraft, Viveka, gut trainiert haben, wenn wir ganz in der Gegenwart leben, wenn wir uns auf diesen Augenblick und seine Folge bzw. eigentlich sogar auf das Geschehen zwischen Augenblick und Folge konzentrieren, dann sind wir in allem. Aus dieser Unterscheidungskraft transzendieren wir alles.

In dieser Viveka stehen wir zwischen Purusha (das höchsten Selbst) und Prakriti (Natur, Schöpfung, Universum) und haben die Wahl, entweder das Universum als Ganzes gleichzeitig wahrzunehmen – was Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, Hier, Jetzt und Überall gleichzeitig einschließt – , oder Prakriti, die Schöpfung als Ganzes wahrzunehmen, oder uns als reines Bewusstsein in uns zurückzuziehen und einfach nur zu sein, d. h. Purusha zu verwirklichen.

56. Sattva-purushayoh shuddhi-sâmye kaivalyam     Zurück zum dritten Kapitel

Sattva = Reinheit; purusha = Bewusstsein; shuddhi = Reinheit; sâmye = Gleichheit; kaivalyam = Befreiung

Kaivalya, Befreiung, ist erlangt, wenn Gleichheit zwischen Sattwa und Purusha vorhanden ist.

Wenn Purusha (das höchste Selbst) in sich selbst ruht, hört Prakriti (Natur, Universum, Schöpfung) auf zu arbeiten. Das Universum hört für einen selbst, für diese individuelle Manifestation des Purusha, auf zu existieren. Die Natur hört auf, für uns zu bestehen und wir sind endgültig befreit. Man ruht im Unendlichen. Man ist das Unendliche. Für die anderen, die diese Erfahrung nicht haben, bleibt die Welt jedoch bestehen.


Viertes Kapitel : Kaivalya Pada – Befreiung

Einführung
1. Janmaushadhi-mantra-tapah-samâdhi jâh siddhayah
2. Jâty-antara-parinâmah prakrity-âpûrât
3. Nimittam aprayojakam prakritînâm varana-bhedas
4. Nirmâna-chittâny asmitâ-mâtrât
5. Pravritti–bhede prayojakam chittam ekam
6. Tatra dhyânajam anâshayam
7. Karmâshuklâkrishnam yoginas tri-vidham
8. Tatas tad-vipâkânugunânâm evâbhi-vyaktir
9. Jâti-esha-kâla-vyavahitânâm apy ânantaryam
10. Tâsâm anâditvam châshisho nityatvât
11. Hetu-phalâshrâyalambanaih samgrihîtatvâd eshâm
12. Atîtânâgatam svarûpato ¢sty adhva-bhedâd
13. Te vyakta-sûkshmah gunatmânah
14. Parinâmaikatvâd vastu-tattvam
15. Vastu-sâmye chitta-bhedât tayor vibhaktah
16. Na chaika-chitta-tantram vastu tad-apramânakam
17. Tad-uparâgâpekshitvâch chittasya vastu
18. Sada jnâtash chitta-vrittayas tat-prabhoh
19. Na tat svâbhâsam drishyatvât
20. Eka-samaye chobhayânavadhâranam
21. Chittântara-drishye buddhi-buddher
22. Citer apratisamkramâyâs tad-âkârâpattau
23. Drastri-drishyoparaktam chittam sarâartham
24. Tad asamkhyeya-vâsanâbhish chitram api
25. Vishesha-darshina
26. Tadâ hi viveka-nimnam kaivalya-prâgbhâram
27. Tach-chhidreshu pratyayântarâni samskârebhyah
28. Hânam eshâm kleshavad uktam
29. Prasamkhyâne ¢py akusîdasya sarvathâ
30. Tatah klesha-karma-nivrittih
31. Tadâ sarvâvarana-malâpetasya jnânasyâ-nantyâj
32. Tatah kritârthânâm parinâma-krama-samâptir
33. Kshana-pratiyogî parinâmâparânta-nigrâhyah
34. Purushârtha-shûnyânâm gunânâm pratiprasavah

Einführung     Zurück zum vierten Kapitel

Das dritte Kapitel hat schon mit der Befreiung geendet und eigentlich beschreibt jedes Kapitel irgendwo die Befreiung sowie Mittel und Wege, sie zu erreichen. Denn Patanjali hält sich nicht ganz an sein Schema, nachdem er im ersten Kapitel Samadhi Pada, die Theorie des Geistes, im zweiten Kapitel Sadhana Pada, die spirituelle Praxis, im dritten Kapitel Vibhudi Pada, die verschiedenen höheren Kräfte des Geistes und im vierten Kapitel Kaivalya, die Befreiung, behandeln will. Er beschreibt eigentlich in jedem Kapitel, was Befreiung ist und verschiedene Techniken, wie man dorthin kommt.

1. Janmaushadhi-mantra-tapah-samâdhi jâh siddhayah    Zurück zum vierten Kapitel

Janma = Geburt; aushadhi = Drogen; mantra = Mantra, Sanskritwort oder -wortgruppe mit besonderem Klang und besonderer Wirkung; tapah = Askese, Selbstzucht; samâdhi = überbewusster Zustand; -jah= entstanden durch; siddhayah = übernatürliche Fähigkeiten

Siddhis werden als Ergebnis der Geburt, durch medizinische Kräuter, Mantras, Übungen der Selbstzucht oder Samadhi erlangt.

Den ersten Vers haben wir schon behandelt (3. Kapitel, Vers 15).

Übernatürliche Kräfte kann man nicht nur durch spirituellen Fortschritt erlangen, sondern auch auf anderen Wegen.

Wenn jemand übernatürliche Kräfte zur Schau stellt, kann man zuerst einmal überprüfen, ob er irgendeinen Zaubertrick anwendet. Vieles, was als übernatürlich erscheint, beruht einfach nur auf Taschenspieler- und Schauspielertricks. Swami Vishnu hatte als Jugendlicher das Hobby, den Trick hinter angeblichen übernatürlichen Kräften von Menschen herauszufinden. Als Jugendlicher war er ein großer Skeptiker, der von Spiritualität, Heiligen usw. wenig gehalten hat. Denn es gibt in Indien sehr viele Pseudomeister und Pseudoheilige – und nicht nur in Indien.

Einmal sah er unterwegs, wie jemand auf dem Rücken auf dem Boden lag und einen riesigen Stein auf dem Bauch trug. Alle dachten, das muss ein großer Heiliger sein, haben sich verneigt und ihm Geld gegeben. Swami Vishnu hat sich überlegt: Wie ist das möglich? Und er dachte: Irgendwann muss der ja mal aufs Klo gehen. Ich warte hier einfach lang genug. Gegen Abend kamen Schüler von dem Heiligen, die den Weg absperren wollten. Aber Swami Vishnu weigerte sich, wegzugehen. Es wurde immer später und irgendwann fragte der Mann, der dort lag: „Du willst jetzt nicht gehen?“ Swami Vishnu antwortete: „Nicht, bevor ich deinen Trick herausgefunden habe.“ – was ja an sich schon eine Anmaßung ist, jemandem, der als heilig gilt, einen Trick zu unterstellen! Daraufhin fragte der Mann: „Wieviel Geld hast du dabei?“ „Ja, so ein paar Paisas“ „Gut, gib sie mir, dann zeige ich es dir“. Swami Vishnu gab ihm seine paar Münzen. Der Mann öffnete seine Beine. Zwischen den Oberschenkeln lag ein kleinerer Stein, auf dem der riesige Felsblock so lag, dass es ausgesehen hatte, als ob der Fels auf seinem Oberschenkel und Bauch ruhen würde. Bei solchen Dingen muss man also durchaus kritisch sein.

Zur Zeit gibt es ja auch eine Frau, von der Zeitschriften häufig berichten, die propagiert, wochenlang nichts mehr zu essen und von der alle meinen, sie würde ohne Nahrung leben. In Interviews sagt sie selbst, dass sie ab und zu Schokolade isst und Tee mit Zucker und Milch trinkt. Ich selbst habe sie nicht gesehen, aber man hat mir erzählt, ihre Freunde hätten zum Teil bleibende Nierenschäden und jemand sei gestorben, nachdem er den dreiwöchigen Prozess ohne Nahrung und ohne Flüssigkeit, den sie empfiehlt, durchgemacht hat. Aber die Menschen laufen in Scharen zu ihr. Denn Eßstörungen sind die kollektive Psychose unserer Zivilisation und viele halten es für die beste Heilung, nichts mehr zu essen. Dann laufen sie solchen Lehren hinterher.

Swami Vishnu hat öfter versucht, uns zu desillusionieren und gesagt: „Hört auf mit eurem naiven Glauben.“ Aber er sagte, in Indien sei das auch nicht anders. Einmal wollte er zeigen, wie leicht man auf irgendwelche Vorspiegelungen hereinfällt:

Eines Abends gab er vor einem Publikum von etwa hundert Zuhörern einen Vortrag. Am Ende des Vortrags kam ein sehr asketisch wirkender Inder kurz herein, setzte sich einen Augenblick für eine Meditation hin und ging dann wieder hinaus. Swami Vishnu stellte ihn mit den Worten vor: „Das ist ein ganz großer Yogi aus dem Himalaya. Seit zwanzig Jahren spricht er nicht mehr. Morgen früh wird er zum ersten Mal seit zwanzig Jahren wieder etwas sagen, aber nur zehn Minuten lang.

In diesen zehn Minuten wird er denen, die dann anwesend sind – und es dürfen maximal nur zehn Leute sein – eine Minute lang ganz wichtige Ratschläge geben. Das macht er nur zwischen 2.30h und 2.40h nachts. Jeder, der dabei sein will, muss vorher 2000 Mark bezahlen. Anmeldung ist nicht möglich. Die ersten, die kommen, dürfen rein.“ – Das hat er bei einem Vortrag von ungefähr hundert Leuten gesagt. Nachts um ein Uhr warteten über zweihundert Leute vor dem Hotel. Swami Vishnu hat sie alle hereingelassen und den großen Meister enthüllt, der gar kein Inder war, sondern ein Westler, der sich das Gesicht gefärbt hatte. Und er hat gesagt: „So naiv und leichtgläubig seid ihr hier. Ohne irgendetwas zu prüfen, glaubt ihr sofort, dass jemand anders im Besitz der alleinigen Weisheit ist.“ Denn die meisten der Zuhörer waren auch Menschen, die Swami Vishnu nicht kannten und gar nicht wissen konnten, ob er selbst tatsächlich authentisch war oder nicht. Natürlich hat er ihnen das Geld auch wieder zurückgegeben und sie darauf hingewiesen, dass sie sich das eine Lektion sein lassen sollten.

Wenn man einen Meister einmal geprüft hat, dann folgt man ihm natürlich. Aber man sollte nicht naiv sein und sich von Showbusiness beeindrucken lassen. Es gibt eine ganze Reihe von Leuten, die ein Riesen–Showbusiness aufgezogen haben. Mit ein bisschen psychologischer Marktforschung kann man die meisten Menschen betrügen. Mit ein bisschen Show könnten wir den Ashram hier auch noch viel mehr zum Blühen bringen. Aber erstens liegt das nicht in meiner Natur und zweitens hat mich Swami Vishnu gründlich davon bekehrt. Natürlich, einfach, authentisch zu sein, wirkt langfristig besser.

Natürlich gibt es nicht nur Zaubertricks, sondern auch echte Siddhis. Aber selbst diese sind kein verlässliches Zeichen dafür, dass jemand tatsächlich ein großer Meister ist.

Als ich in München lebte, kam einmal ein neuer Meister, von dem hieß es, er hätte alle möglichen Kräfte. Eine ganze Reihe von Leuten aus dem Sivananda-Yogazentrum sind zu ihm gegangen. Er hat den Anwesenden auf Wunsch eine persönliche Einweihung gegeben und ihnen auf den Kopf zugesagt, welches ihr Mantra ist, welches ihr Meister ist, und verschiedene andere Sachen.

Und er sagte: „Wenn du so weitermachst, wird dein Fortschritt minimal sein. Ich werde dir jetzt die Wirbelsäule reinigen, deine Kundalini erwecken und dann wird dein Fortschritt sehr schnell sein.“ Sie hatten dann auch tatsächlich das Gefühl, die Wirbelsäule öffne sich, Licht, Kundalini-Energie steige hoch. Später stellte sich heraus, dass er ein großes Bankkonto in der Schweiz hatte, sich mit einer ganzen Reihe seiner Schülerinnen mehr oder weniger gleichzeitig verlustierte und sich schließlich irgendwie absetzte. Aber er hatte ganz sicher gewisse Kräfte. Wenn einem jemand das Gefühl vermitteln kann, etwas steige die Wirbelsäule hoch, dann muss das noch lange nicht die Kundalini sein. Es können hypnotische Kräfte oder Energieübertragungen sein. Auch hier dürfen wir nicht zu naiv sein, sondern müssen unser Urteilsvermögen einschalten.

Wobei wir jetzt auch nicht immer das Kind mit dem Bad ausschütten dürfen. Selbst sehr hoch entwickelte Meister können einmal einer Versuchung erliegen. Das heißt noch lange nicht, dass sie deshalb verachtenswert sind oder dass wir das Recht haben, sie zu verachten oder zu verurteilen. Ich habe einmal ein Buch gelesen über westliche Meister in östlichen Traditionen, in dem die ganze spirituelle Szene von Zen-, Yoga-, Sufi- und allen, die irgendwie aus diesen spirituellen Traditionen stammen und ihre eigenen Schulen aufgebaut haben, beschrieben ist. Darunter sind einige, die zweifellos ernsthaft waren und etwas Seriöses aufgebaut haben.

Und plötzlich kam heraus, dass sie einmal in ihrem Leben irgendetwas Komisches oder nicht hundertprozentig Ethisches gemacht haben und schon brach die ganze Organisation zusammen. Auch bei einer relativ geringfügigen Sache ist ein Meister sofort unten durch, nur, weil er nicht ganz so perfekt ist, wie die Schüler es von ihm erwarten. Ein Beispiel eines indischen Meisters fällt mir ein, das übrigens auch allgemein bekannt ist: Er hatte ein spirituelles Zentrum eröffnet und vor drei, vier Jahren kam heraus, dass er vor etwa zehn Jahren ein Verhältnis mit einer anderen Frau gehabt hatte, das zwar nicht lange gedauert hatte, auch sonst keine Folgen hatte – mindestens habe ich es so gehört. Sobald das publik wurde, haben die Ashramleiter ihn aus seiner eigenen Organisation hinausgeworfen. Aber ich weiß natürlich nicht, was da sonst noch dahintersteckt.

Wir müssen uns also vor verschiedenen Sachen hüten. Zum einen dürfen wir uns nicht von Shows beeindrucken lassen, auch nicht von übernatürlichen Kräften, aber es gibt auch echte Meister, die trotzdem auch einmal einen Fehler machen. Man muss letztlich schauen: Ist es wirklich nur ein Fehler oder ist es ein systematisches Vorgehen, bei dem ein Meister seine Schüler und Schülerinnen ausnützt und ruiniert. Das ist natürlich wieder etwas anderes, dann wird es sehr unethisch.

Siddhis können auch erlangt werden als Ergebnis der Geburt. Manche Menschen haben Siddhis von Geburt an, wahrscheinlich durch karmische Eindrücke aus früheren Leben.

Manche Menschen können Kräfte erzeugen durch Drogen, Pilze, Kräuter und ähnliches.

Es gibt auch Rituale und Mantras, mit denen man spezifische übernatürliche Kräfte erzeugt, wie zum Beispiel der Feuerlauf, von dem ich schon erzählt habe.

Ich habe auch einmal eine Zeremonie zu Ehren von Shanmug miterlebt, wo jemand bestimmte Rituale ausführt und anschließend seine Haut mit 108 Speeren durchbohrt. Er trägt ein Gerüst, damit die Speere drin bleiben, dann tanzt er mit all diesen Speeren. Danach werden die Speere herausgezogen. Es fließt kein Blut, es wird nichts infiziert und innerhalb von ein bis zwei Stunden sind alle Wunden zu, man sieht nichts mehr. Swami Vishnu hat für diesen Ritus mehrmals Leute aus Malaysia eingeladen. Für sie ist es eine Form der Verehrung Gottes. Sie empfinden das nicht als etwas Besonderes oder Außergewöhnliches. Es ist nicht wirklich eine Zurschaustellung von übernatürlichen Kräften, sondern es gehört zu einem Ritual, das jedes Jahr in ihrem Dorf gemacht wird. Der Malaye nahm die Einladung von Swami Vishnu an, weniger, um zu zeigen, wie großartig er ist, sondern um diese Energie von Shanmug in Berlin zu verbreiten, das fand er eine gute Sache.

Tschechische Wissenschaftler haben dabei transportable EEGs und EMG–Geräte angeschlossen, so dass er nicht nur die 108 Speere in sich stecken hatte, sondern auch noch 12 Elektroden für EEG und so und so viele für das EKG. Die Wissenschaftler haben die Versuche ausgewertet und dann die Ergebnisse präsentiert: Wie fantastisch das sei, was der für ein EEG und ein EKG gehabt hat. Vom EKG her war seine Herzfrequenz so, dass er fast einen Herzinfarkt hatte. Er hatte einen Puls von fast 200. Und das EEG war so, als ob er im allertiefsten Tiefschlaf wäre – fast keine Hirnwellen. Das fanden sie ganz faszinierend. Aber dass sie hier etwas beobachtet und dokumentiert haben, was ihrem wissenschaftlichen Weltbild total entgegensteht, darüber haben sie kein Wort verloren, geschweige denn, irgendwelche Schlussfolgerungen für ihre eigene Wissenschaftsgläubigkeit daraus gezogen. Sie haben Karten und Auswertungen gezeigt, aber mit keinem Wort erwähnt, dass sie jetzt eigentlich ihr normales materialistisches Weltbild in Frage stellen müssten. Letzten Endes waren ja nicht die Werte von EEG und EKG das Wichtige dabei, sondern die Verehrung Gottes und wie ein solches Phänomen zustande kommen kann.

Rituale und Mantras können außergewöhnliche Kräfte verleihen. Der Malaye befand sich in einem Trancezustand, jenseits des Normalbewusstseins. Er stellte seinen Körper der Gottheit zur Verfügung. Das geschieht über das Ritual. Dabei soll das Göttliche in den Körper eindringen und dann über die 108 Speere die göttliche Energie in alle Richtungen ausstrahlen. Das ist, neben einer einfachen Verehrung, der zweite Sinn dieses Rituals. Man stellt sich als Kanal Gottes zur Verfügung, um spirituelle Energie zu verbreiten. Aber das war nur während des Rituals so. Wenn er sich am nächsten Tag aus Versehen geschnitten hat, hat er geblutet und brauchte ein Pflaster. In Berlin zum Beispiel wurde derselbe Mann, der unter dem Einfluss des Rituals 108 Speere ohne zu bluten und ohne Wunden in sich haben konnte, einen Tag später von einer Biene gestochen. Er reagierte allergisch darauf und musste ins Krankenhaus gebracht werden.

Übungen der Selbstdisziplin, Tapas, haben wir bereits besprochen, auch, dass Patanjali die intensive Übung von Asanas und Pranayama als Tapas bezeichnen würde. Wenn ihr ein paar Monate lang jeden Tag elf bis zwölf Stunden lang Pranayama macht, bekommt ihr bestimmte übernatürliche Kräfte!

Und Samadhi bringt natürlich auch übernatürliche Kräfte.

Im nächsten Vers erklärt Patanjali, dass diese scheinbar übernatürlichen Kräfte nicht wirklich übernatürlich sind.

2. Jâty-antara-parinâmah prakrity-âpûrât     Zurück zum vierten Kapitel

Jâty-antara = in eine andere Klasse, Spezies; parinâmah = Wandlung; prakriti = Natur, natürliche Neigungen; âpûrât = durch Füllen, Überfließen

Alle evolutionären Umwandlungen rühren von der Erfüllung natürlicher Neigungen her.

Alles, auch die Siddhis, geschieht nur aufgrund und in Erfüllung von Naturgesetzen. Alles ist Naturgesetzen unterworfen. Wir kennen nur nicht alle, denn auf anderen Ebenen als der physischen gelten andere Gesetze.

3. Nimittam aprayojakam prakritînâm varana-bhedas tu tatah kshetrikavat     Zurück zum vierten Kapitel

Nimittam = sichtbare Ursache; aprayojakam = nicht unmittelbar verursachend; prakritînâm = die natürlichen zugrundeliegenden Ursachen; varana = Hindernis; bhedah = Beseitigung; tu = andererseits; tatah = davon; kshetrikavat = wie der Bauer

Eine sichtbare Ursache dient nicht notwendigerweise dazu, Veränderungen in der Prakriti zustande zu bringen; sie beseitigt nur Hindernisse, wie ein Bauer (er räumt einige Steine beiseite, um einen Bewässerungskanal zu schaffen).

Ich weiß nicht, ob ihr das Bild versteht. In Indien wird ja fast alles künstlich bewässert. Es gibt riesige Kanäle. Wenn ein Bauer sein Feld bewässern will, muss er ein paar Steine aus dem Bewässerungskanal, aus dieser Schleuse, herausnehmen, damit das Wasser auf sein Feld gelenkt wird. Die Dorfgemeinschaft stellt genaue Regeln und ein ausgeklügeltes System auf, so dass alle Bauern der Dorfgemeinschaft ihre Felder bewässern können, ohne dass jemand zu viel hat oder zu kurz kommt. Zu einem festgelegten Zeitpunkt nimmt man die Steine weg, die den Kanal zum eigenen Feld verschließen. So bekommt man das nötige Wasser in seine Reisfelder. Dann baut man die Steine wieder auf, damit der nächste Bauer dasselbe bei sich machen kann.

Nicht alles, was an spiritueller Erfahrung, Kräften, Fähigkeiten kommt, haben wir notwendigerweise selbst durch unsere Übungen, durch unsere Anstrengung, geschaffen. Wenn man beispielsweise eine Vision Gottes, eine Erfahrung der Einheit oder ein ekstatisches Gefühl beim Mantrasingen oder in der Meditation hat, dann hat man es nicht wirklich durch die ganzen Praktiken erzeugt. Durch diese Praktiken haben wir die Steine – Hindernisse, Unreinheiten –,weggeräumt, die im Wege standen, so dass die göttliche Gnade durch uns hindurch fließen kann. Das, was vorher schon da war, enthüllt sich, das Göttliche kann sich manifestieren. Wir schaffen nicht wirklich Freude in der Meditation, wir räumen nur die Hindernisse aus dem Weg, so dass die natürliche Freude, die immer schon da war, erfahrbar wird. Wir machen uns zum Instrument der kosmischen Energie, die durch uns wirken will. Wir müssen uns nur für sie öffnen.

Wenn es regnet und wir Wasser brauchen, was müssen wir haben? – Ein Gefäß. Was müssen wir mit dem Gefäß machen? – In den Regen halten. Das allein reicht aber nicht aus. Wir müssen es richtig in den Regen halten, wie nämlich? – Mit der Öffnung nach oben. Genauso ist auch die göttliche Gnade immer da. Wir müssen nur unser Gefäß, unser Bewusstsein, unseren Geist, nach oben öffnen. Die meisten Menschen haben ihren Geist nach unten geöffnet. Also spüren sie keine Gnade.

Frage: Wo kommt die Gnade denn her? Es heißt immer, sie kommt von oben.

Antwort: Natürlich kommt sie nicht wirklich von oben, nicht räumlich von oben. Sie kommt nicht von der Sonne und auch nicht vom Polarstern, sondern von höheren Ebenen. Energie strömt ständig von Ishwara, dem Göttlichen, aus und wir können uns dafür öffnen. Wirklich verstehen tut man es, wenn man den Unterschied verwirklicht hat zwischen Sattwa (Reinheit) und Purusha (höchstes Selbst). Bis wir soweit sind, können wir es sehr wohl erfahren und kleine Erklärungen dazu abgeben. Das Göttliche gibt ständig Gnade, Energie in diese physische Ebene hinein und in unser jetziges Bewusstsein. Wir müssen uns nur dafür öffnen.

4. Nirmâna-chittâny asmitâ-mâtrât     Zurück zum vierten Kapitel

Nirmâna = geschaffen, künstlich; chittâni = Mentalkörper; asmitâ = Ichsein, Egoismus, Individualität; mâtrât = allein

Chittas (Gemüt, Gefühle, Emotionen) werden nur vom Egoismus geschaffen.

5. Pravritti–bhede prayojakam chittam ekam anekeshâm     Zurück zum vierten Kapitel

Pravritti = Aktivität, Beschäftigung; bhede = Unterschied; prayojakam = lenkend; chittam = Verstand; ekam = ein; anekeshâm = von vielen

Obwohl die Beschäftigungen der vielen geschaffenen Chittas variieren, werden sie von dem einen Geist kontrolliert.

6. Tatra dhyânajam anâshayam     Zurück zum vierten Kapitel

Tatra = von ihnen; dhyânajam = aus der Meditation geboren; anâshayam = frei von Eindrücken

Von diesen ist der Geist, der aus Dhyana geboren ist, frei von vergangenen Tendenzen, den sogenannten Samskaras.

Für diese drei Verse gibt es zwei Interpretationen. Swami Vishnu interpretiert sie so:

Unser Chitta, der Geist im Sinne von Gemüt, kommt vom Ego her. Das Gemüt beginnt letztlich mit dem Ego. Solange wir im Ego sind, sind wir im individuellen Gemüt. Es gibt sehr viele verschiedene Chittas (Gemüter) – nämlich so viele, wie es Wesen gibt –, aber all diese verschiedenen Gemüter sind letztlich Bestandteil des einen kosmischen Geistes.

Im ersten Kapitel haben wir eine besondere Meditationstechnik kennen gelernt, die in den Stufen von Savitarka, Nirvitarka, Savichara, Nirvichara und Sananda zu Sasmita führt, wo wir versuchen, aufzuhören, uns mit dem Individuum zu identifizieren.

Nicht einmal auf der physischen Ebene sind wir tatsächlich so getrennt, wie wir immer glauben. Sobald wir zwei Minuten lang nicht atmen, sind wir schon tot – gut, erfahrene Pranayama-Yogis können die Luft auch schon mal drei Minuten lang anhalten, aber nach fünf Minuten ist man normalerweise tot. Wir sind also über den Atem verbunden, nicht nur untereinander, sondern mit dem ganzen Universum. Das physische Universum bildet ein organisches Ganzes und wird deshalb in der Vedanta als Viratswarupa bezeichnet.

Auch auf der emotionellen, psychisch-geistigen Ebene sind wir miteinander verbunden. Wir denken nicht im luftleeren Raum. Unsere Gedanken und Gefühle sind nicht nur beeinflusst von dem, was wir mit unseren Sinnen wahrnehmen, von unserer persönlichen Vergangenheit und unseren Gehirnfunktionen, sondern sie sind auch bestimmt durch andere Gemüter, durch individuelle und kollektive Gedankenschwingungen. Alle zusammen bilden wir das kosmische Gemüt, Hiranyagarbha.

Auf der Kausalebene sind wir erst recht nicht getrennt. Gerade auf dieser Ebene stehen wir alle miteinander in Verbindung als Ishwara. Ishwara steht für verschiedene Manifestationen Gottes: Viratswarupa, die ganze physische Welt als physischer Körper Gottes. Hiranyagharba, alle Gemüter als zusammenhängende Teile des kosmischen Gemütes. Ishwara, alle Kausalkörper als Teil des universellen Kausalkörpers. Das ist Vedanta-Philosophie.

Die Samkhya-Philosophie sagt dasselbe mit anderen Worten. Aus dem einen Gemüt, Mahat, sind die einzelnen Chittas (Gemüter) als individuelle Gemüter entstanden. Aber alle diese Chittas werden letztlich beherrscht von dem einen kosmischen Geist, Eka = ein.

Wenn uns das bewusst ist, können wir letztlich auch unser eigenes Gemüt Gott opfern. Wir können sagen: „Oh Gott, du bist alles und überall. Du bist auch mein eigenes Gemüt. Du manifestierst dich auch durch meine Gedanken und Emotionen und auch diese stelle ich dir zur Verfügung. Und all meine Schwächen bist du ja auch. Also stelle ich auch sie dir zur Verfügung. Und was auch immer ich heute tue, mit Körper, Gedanken, Emotionen, aus meiner eigenen Natur, aus meinem Selbst, aus meinen Verhaftungen heraus, all das opfere ich dir, denn du wirkst durch mich.“

So können wir uns von allen Schuldkomplexen und auf die falsche Ebene gesetzte Vollkommenheitsansprüchen befreien. Denn die physische Welt ist unvollkommen, in ständiger Veränderung. Selbst unsere unvollkommenen Gedanken und Emotionen sind Manifestationen des Göttlichen. Und selbst wenn wir mal aus der Rolle gefallen sind – natürlich sollten wir versuchen, zu vermeiden, aus der Rolle zu fallen –, können wir auch das Gott opfern und sagen: „Oh Gott, du hast dich jetzt so manifestiert und auch das opfere ich dir.“ Wenn etwas schiefgegangen ist: „Bitte, Gott, kümmere du dich darum.“ Damit gibt man ohne Zweifel eine gewisse Verantwortung ab und das ist gut so. Aber wir geben nicht alle Verantwortung ab. Vorher und gleichzeitig bemühen wir uns natürlich, uns zu entwickeln, aus Fehlern zu lernen.

Krishna sagt das auch in der Bhagavad Gita (18. Kapitel, 66. Vers):

Sarvadarmân Parityajya
Mâm êkam sharanam vratja
Aham twâ sarvapâpêbhyô
Môksha ishyâmi mâ shuksha

Sarvadarmân Parityajya: Gib alle Pflichten auf. Das beinhaltet auch, alle Vorstellungen von ‚richtig‘ und ‚falsch‘ aufzugeben.
Mâm êkam sharanam vratja: Nimm zu mir allein Zuflucht.
Aham twâ sarvapâpêbhyô: Ich werde dich befreien von sarva papa, von allen Sünden und Fehlern.
Môksha ishyâmi mâ shuksha: Mach dir keine Sorgen. Du kommst zur Befreiung.

Frage: Dann kann ich mir erlauben, was ich will?

Krishna sagt direkt danach: „Erzähle das niemandem, der sich nicht um Selbstbeherrschung bemüht. Erzähl das niemandem, der nicht Gott hingegeben ist. Erzähl das niemandem, der nicht nach Befreiung strebt und erzähl das niemandem, der nicht das Wohl anderer Wesen im Sinn hat.“ – eben um diese Anarchie zu verhindern.

Wem es um all das geht, wer versucht, an sich selbst zu arbeiten, sich Gott hinzugeben, anderen Gutes zu tun, wer nach Befreiung strebt, dem kann man das sagen, denn er bemüht sich ernsthaft, im richtigen Geist, und anschließend kann er sagen: „Oh Gott, was auch immer ich getan habe, überlasse ich dir, einschließlich all meiner Unvollkommenheiten.“ Zuerst bemüht man sich und dann lässt man los. Das ist das Beste. Es gibt kein besseres Rezept für geistige Entwicklung und Zufriedenheit. Alles so gut machen wie man kann und dann loslassen. Nicht so gut machen, wie man denkt, dass man können müsste, auch nicht so gut, wie ein anderer es tatsächlich oder vermeintlich machen kann, sondern mit der inneren Einstellung: Wir sind jetzt in diese Situation hineingestellt worden als Teil Gottes, weil unsere Fähigkeiten und unsere Möglichkeiten in dieser Situation und in diesem Augenblick die richtigen sind. Wären wir nicht der Richtige, hätte Gott jetzt jemand anderen dorthin gestellt.

Wir bleiben uns der Tatsache bewusst, dass letztendlich alle Chittas von dem einen Geist kontrolliert werden. Und der Chitta, der aus Dhyana (Meditation, Kontemplation) geboren ist, ist frei von vergangenen Tendenzen, den sogenannten Samskaras (Eindrücken im Unterbewusstsein). Wenn wir in der Meditation zu höheren Bewusstseinsebenen kommen, ersetzt die Erfahrung der Meditation die alten Samskaras und wir können eine grundlegende Veränderung unseres Charakters erfahren. Wenn wir zur Selbstverwirklichung kommen, werden wir frei von unseren Unvollkommenheiten. Es geht schon darum, uns von diesen Unvollkommenheiten zu befreien, aber ohne Besessenheit, ohne Fanatismus und ohne uns ein schlechtes Gewissen einzureden.

Diese drei Verse haben noch eine andere, etwas eigenartige Bedeutung, die man in manchen Kommentaren findet:

Ein spiritueller Meister hat auch die Fähigkeit, aus seinem eigenen Geist andere Chittas zu schaffen, um so sein Karma schneller auszuarbeiten. Er manifestiert sich also in mehreren Körpern gleichzeitig. Angenommen, man ist ein großer Meister und stellt fest, man hat noch Karma für fünf Leben. Nun möchte man nicht mehr fünfmal geboren werden. Deshalb schafft man sich mehrere Chittas. Mit der Kraft des Geistes lässt man diese Chittas auf der grobstofflichen Ebene existent werden – im schlimmsten Fall geht man in den Körper eines anderen Menschen ein, der gerade im Sterben liegt – Patanjali hat ja oben beschrieben, wie man den Körper eines anderen besetzen kann. Dann arbeitet man das Karma in diesen Körpern aus. Wenn man ein solches Chitta allein aus der Meditation schafft, ohne es mit früheren Samskaras (Eindrücken im Unterbewusstsein) zu verbinden, hat dieses Gemüt keine Samskaras und man kann das Karma vorurteilsfrei ausarbeiten.

Das mutet etwas eigenartig an und mir ist auch kein Meister bekannt, von dem es heißt, dass er so etwas gemacht hat. Zwar gibt es Schüler, die berichten, dass der Meister ihnen erschienen sei. Selbst wenn das mehrere Schüler gleichzeitig berichten, weiß man nicht den Grund. Es kann sein, dass der Meister eben seinen Pflichten gegenüber diesen Schülern, die er vielleicht aus früheren Leben hat, dadurch genügt, dass er sich an verschiedenen Orten gleichzeitig manifestiert. Aber meistens erscheint er nicht willkürlich und auch nicht als Person, sondern meistens ist es so, dass der Schüler eine große Hingabe ausstrahlt. Durch diese Hingabe wird die Energie des Meisters angezogen und kann so unbeschränkt aktiv werden.

Die beiden nächsten Verse haben wir schon behandelt:

7. Karmâshuklâkrishnam yoginas tri-vidham itareshâm     Zurück zum vierten Kapitel

Karma = Handlung; Gesetz von Ursache und Wirkung; ashukla = nicht weiß; akrishnam = nicht schwarz; yoginah = von einem Yogi; tri-vidham = dreifach; itareshâm = von anderen

Für einen Yogi ist Karma weder weiß noch schwarz; für andere ist es dreifach.

Für einen Yogi gibt es kein gutes oder schlechtes Karma. Alles, was kommt, sind Aufgaben, Erfahrungen, an denen wir wachsen können, aus denen wir lernen können. Das heutige Vergnügen kann die Ursache für morgigen Schmerz sein. Der heutige Schmerz kann die Ursache für morgiges Vergnügen sein. Ein Yogi sieht und beurteilt die Welt und ihre Erscheinungen nicht mehr nach schön oder nicht schön, angenehm oder unangenehm. Für ihn ist alles gut und richtig so, wie es ist.

Für andere ist es dreifach, nämlich gut, schlecht oder gemischt.

8. Tatas tad-vipâkânugunânâm evâbhi-vyaktir vâsanânâm     Zurück zum vierten Kapitel

Tatah = von da; tad–vipâka = Erfüllung, Früchte tragen; anugunânâm = entsprechend; eva = nur; ab-hivyaktih = Manifestierung; vâsanânâm = Wünsche, Neigungen

Aus diesem dreifachen Karma wird die Erfüllung offenbar, die den Wünschen oder Neigungen entspricht.

Was wir uns wünschen, das tritt ein.

Unsere Neigungen sind aber auch notwendig für uns, für unsere Evolution.

Prakriti (die Schöpfung, die Welt) ist für den Purusha (die Seele, das Bewusstsein) da und zwar aus zwei Gründen: Einmal, damit Purusha die Erfahrungen machen kann, die er sich wünscht und die für ihn notwendig sind. Zum zweiten für die Befreiung des Purusha aus dem Labyrinth der Welt. Diese Welt, das, was auf uns zukommt, ist auf der einen Seite das, was wir uns gewünscht haben und auf der anderen Seite das, was wir brauchen, weil es für unsere Evolution förderlich ist.

Alles, was geschieht, kommt entweder aus unseren Wünschen oder Neigungen heraus. Statt Neigungen könnte man auch sagen, aus den anderen Tendenzen in unserer Natur. Darin ist alles enthalten: Die Aufgaben, die wir zu lösen haben, die karmischen Reaktionen, die kommen, weil wir andere Menschen geschädigt haben oder ihnen besonders gut gesinnt waren usw., unsere Gedanken, unsere Wünsche – all das manifestiert sich als Karma.

Wenn wir das wissen, hören wir auch auf, uns über unsere Umwelt zu beschweren. Wir können trotzdem versuchen, unser Leben so zu gestalten, wie es für unseren spirituellen Fortschritt geeignet ist, aber wir sind uns bewusst, dass wir nicht immer die idealen Umweltbedingungen haben können, dass wir immer und überall unser Karma, unsere Disposition, mitnehmen. Und wir wissen, dass unser Geist, obwohl wir versuchen, an ihm zu arbeiten, ihn zu transformieren, letztlich auch vom kosmischen Geist kontrolliert wird. Unseren Geist, unser Karma, unsere spirituelle Praxis, selbst unsere Unvollkommenheit, all das lassen wir los und sagen: „Oh, Gott, all das bist du. Ich will zwar versuchen, dieses Instrument, meinen Körper und Geist, für dich zu vervollkommnen, soweit ich kann. Aber selbst dieses Bemühen opfere ich dir, denn letztlich drückst du dich auch darin aus.“

9. Jâti-esha-kâla-vyavahitânâm apy ânantaryam smriti-samskârayor ekarûpatvât     Zurück zum vierten Kapitel

Jâti = Klasse; desha = Ort; kâla = Zeit; vyavahitânâm = losgelöst, getrennt; api = sogar; ânantaryam = unmittelbare Aufeinanderfolge; smriti-samskârayoh = von Erinnerung und Eindrücken; ekarûpatvât = infolge der Gleichheit der Erscheinung oder Form

Es gibt eine unmittelbare Aufeinanderfolge – Wunsch, gefolgt von der passenden karmischen Situation –, die von der Erinnerung und den Samskaras (Eindrücken im Unterbewusstsein) herrührt, selbst wenn sie durch soziale Stellung, Ort und Zeit unterbrochen sein mag.
Das ist das Gesetz des Karmas.

Aus unseren Wünschen folgt irgendwann einmal das Resultat. Oder aus unserer Handlung folgt die Reaktion. Aktion führt zu Reaktion. Handlung und Wunsch bergen ihre Erfüllung in sich. Daneben gibt es Lektionen, die gelernt werden müssen. Aktion und Reaktion, Wunsch und Ereignis, Handlung und darauffolgendes Ereignis, sind unmittelbar miteinander verknüpft, auch wenn es äußerlich so scheint, als hätten sie keinen Zusammenhang, als läge alles Mögliche dazwischen. Es mag sein, dass wir heute jemanden gequält haben und in 25 Jahren werden wir auf dieselbe oder ähnliche Art und Weise gequält. Das erscheint dann zu jenem Zeitpunkt in 25 Jahren als blindes Schicksal, denn wir haben ja dann in dem Moment nichts Schlimmes getan, aber es rührt eben von der Ursache her, die wir vor langer Zeit gesetzt haben.

Oder vor zehn Jahren haben wir uns etwas gewünscht und jetzt plötzlich haben wir es. Oftmals wollen wir es dann gar nicht mehr oder es passt gar nicht mehr in die aktuelle Lebenssituation hinein. Dazwischen hat sich scheinbar vieles geändert – Ort, Zeit und Stellung. Das Karma muss aber trotzdem geerntet werden.

Vom Standpunkt der vorhandenen Samskaras aus, der Eindrücke in unserem Gemüt, folgt das eine direkt auf das andere. Für unser momentanes Bewusstsein sieht es so aus, als läge eine große Zeitspanne dazwischen.

10. Tâsâm anâditvam châshisho nityatvât     Zurück zum vierten Kapitel

Tâsâm = sie, von denen; anâditvam = kein Anfang; cha = und, auch; âshishah = der Wille zu leben; ni-tyatvât = Ewigkeit, Dauer

Die Wünsche haben keinen Anfang, denn der Wille zu leben ist ewig.

Deshalb heißt es, diese Maya, die Welt der Täuschung, ist anadi, ohne Anfang. Nadi hat zwei Bedeutungen: ‚Energiekanal‘ und ‚Anfang‘. Wobei ich jetzt nicht sicher bin, ob bei beiden Bedeutungen das „a“ und „d“ jeweils das gleiche ist, denn im Sanksrit gibt es zwei verschiedene „d“ und ein kurzes und ein langes „a“.

Wünsche haben keinen Anfang. Die Maya hat keinen Anfang.

Stellt euch als Analogie die Traumwelt vor. Wann hat die Handlung eures Traumes angefangen? Angenommen, ihr träumt, ihr wärt Wissenschaftler und wolltet nun analysieren und zurückverfolgen, wie alt diese Traumwelt ist. Wann hat sie angefangen? Manche Menschen halten es für absolut phantastisch, wenn sie im Traum innerhalb weniger Minuten einen Zeitraum von zwanzig Jahren erlebt haben. Aber das ist ein Irrtum. In Wirklichkeit träumen sie innerhalb von ein paar Minuten Milliarden und Abermilliarden von Jahren. Denn wir träumen von der fertigen Welt und die Welt ist Milliarden oder Billionen oder Trillionen Jahre alt.

Die Schöpfung ist ohne Anfang. Aber sie hat glücklicherweise ein Ende. Wann nämlich? Wann hat die Schöpfung ein Ende? Wie heißt dieses Kapitel? – Kaivalya, Befreiung. Ist die Befreiung erreicht, dann verschwindet die Welt für uns. Dann erkennen wir: Es gab die Welt nicht wirklich.

Wann hat die Traumwelt ein Ende? – Wenn wir aufwachen. Was passiert dann mit den ganzen Menschen im Traum? Habt ihr euch das schon mal überlegt? Man hatte einen Traum mit so vielen Menschen, Tieren, Pflanzen, Gebäuden und allem Möglichen. Was passiert damit, wenn wir aufwachen? – Es verschwindet für uns. Genauso ist es, wenn man die Selbstverwirklichung erreicht. Als Zwischenzustand gibt es noch Jivanmukta (lebendig Befreiter), wo man zwar die Welt noch so sieht wie die anderen, aber gleichzeitig weiß: In Wirklichkeit bin ich reines Bewusstsein.

11. Hetu-phalâshrâyalambanaih samgrihîtatvâd eshâm abhâve tad-abhâvah     Zurück zum vierten Kapitel

Hetu = Ursache; phala = Wirkung; âshraya = Unterschicht, das, was Halt gibt; âlambanaih = Objekt; samgrihîtatvâd = infolge Zusammenhalts; eshâm = von diesen; abhâve = beim Verschwinden; tad–abhâvah = Verschwinden von diesen

Wünsche werden durch Ursache, Wirkung, Unterstützung und Objekte zusammengehalten; mit diesen verschwinden auch die Wünsche.

Hier gibt Patanjali uns Tips, wie wir die Wünsche beseitigen können. Wenn wir eines dieser vier Dinge ausschalten, können wir die Wünsche ausschalten.

Fangen wir von hinten an, mit den Objekten. Wünsche werden durch Objekte zusammengehalten. Wenn wir einen Wunsch längere Zeit nicht mehr befriedigen, was passiert dann mit dem Wunsch? – Irgendwann hört er auf.

Ein ganz banales Beispiel: Als ich in New York und in Toronto lebte, gab es dort etwas ganz Besonders, das ich nirgendwo anders gefunden habe, und zwar Papaya Juice, Papaya-Saft. Irgendwie schmeckte er ganz toll und ist auch sehr gesund. Nahezu jeden zweiten Tag bin ich mit dem Fahrrad zu einer Papaya Juice-Bar gefahren – wogegen vom yogischen Standpunkt aus auch nichts einzuwenden ist. Es war wirklich reiner, frisch gepresster Saft. Selbst frische Papayas kommen im Geschmack bei weitem nicht an diesen Saft heran. Jetzt, wo ich darüber nachdenke, kann ich den Geschmack wieder deutlich auf der Zunge und im Mund spüren – also, ganz weg ist der Wunsch immer noch nicht, aber er ist jedenfalls schwächer geworden!

In der Anfangszeit in Frankfurt, als ich aus Amerika zurückkehrte, habe ich manchmal gedacht: Ich wünschte, hier gäbe es Papaya juice. Aber wenn ich mir jetzt nicht überlegt hätte, welch abstruses Beispiel ich mir zur Illustration einfallen lassen könnte, dann wäre dieser Wunsch jetzt sicher nicht in mir aufgekommen. Wenn die Objekte nicht da sind, werden die Wünsche normalerweise schwächer.

Das gibt uns auch einen gewissen Trost. Wenn wir etwas vermissen, wissen wir, irgendwann wird es schwächer. Es heißt ja auch so schön: Die Zeit heilt alle Wunden. Wenn man sich als Kind weh getan hat, haben einem die Eltern gesagt: Spätestens wenn du heiratest, hast du es vergessen. Da liegt eine Wahrheit drin.

Das andere ist Unterstützung. Ein Wunsch wird unterstützt, wenn wir ständig an ihn denken. Wenn wir etwas nicht haben und jahrelang daran denken, es haben zu wollen, dann hört der Wunsch natürlich nicht auf. Wir können versuchen, diese Unterstützung loszulassen, nicht daran zu denken. Zum Beispiel, indem wir uns ablenken, an etwas anderes denken oder auch einen Wunsch nach etwas anderem entwickeln. Im ersten Kapitel hat Patanjali uns ja auch diesen Tip gegeben: Wenn irgendwelche Hindernisse auftauchen, sollte man an etwas Positives denken. So ähnlich können wir auch hier verfahren.

Es reicht nicht aus, nur zu sagen: Ich will oder sollte diesen Wunsch nicht mehr haben. Den Trick kennt ihr sicher alle: „Versucht jetzt mal, nicht an eine grüne Ameise zu denken.“ – An was denkt ihr? – Zum ersten Mal in eurem Leben an eine grüne Ameise! Es nützt nicht viel, sich ständig zu sagen, ich darf daran nicht denken.

Wenn wir einen Wunsch loswerden wollen, sollten wir zuerst den klaren Entschluss fassen, diesen Wunsch nicht mehr zu haben. Nach diesem klaren Entschluss müssen wir aufhören, jeden Tag von neuem mit uns selbst zu debattieren. So geht es vielen Menschen. Sie wollen irgendetwas aufgeben, fassen einen Entschluss und am nächsten Tag fangen sie wieder an, mit sich selbst zu diskutieren. Kennt ihr das? – „Nur einmal, und so schlecht ist es ja nun auch wieder nicht, und der andere macht es ja auch, und ich könnte ja auch erst nächste Woche anfangen…..“

Darüber hatten wir gesprochen bei der Schulung des Willens und Entwicklung von Vairagya (Leidenschaftslosigkeit, Wunschlosigkeit). Wir sollten einen Entschluss fassen. Und wenn wir für den Entschluss noch nicht ganz reif sind, verschieben wir ihn und machen ihn etwas kleiner. Zum Beispiel, statt ganz mit etwas aufhören, nehmen wir uns vor: Ich mache es nur noch dreimal die Woche. Aber das, was wir uns vorgenommen haben, halten wir auch ein.

Aber der Entschluss allein reicht nicht aus. Wir müssen ein Konzept für den Moment entwickeln, wenn der Wunsch kommt. Denn er wird mit Sicherheit kommen. Wir müssen uns also überlegen, was will ich machen bzw. denken, wenn der Wunsch wieder auftaucht. Wir müssen den Wunsch bzw. den Gedanken daran durch etwas Positives ersetzen, an etwas anderes denken oder innerlich ein Mantra wiederholen. Wenn wir so vorgehen, gelingt es uns, unseren Entschluss Schritt für Schritt umzusetzen.

Und schließlich: Ursache und Wirkung. Ursache und Wirkung ist letztlich Handlung und Reaktion. Ursprünglich tun wir irgendetwas, erfüllen uns einen Wunsch, und als Wirkung bekommen wir ein Vergnügen. Dieses Vergnügen schafft dann wieder eine Ursache: Irgendwie ist es gut, schmeckt gut, tut gut und wir wollen es noch mal haben. Dadurch unterstützen wir den Wunsch und sorgen dafür, dass wir das nötige Objekt wieder bekommen. Und so geht es immer weiter.

Das Objekt ist wieder eine neue Ursache, es hat Spaß gemacht, wir unterstützen es wieder, wollen es wieder haben, setzen eine neue Ursache, die wieder eine Wirkung nach sich zieht und so sind wir ständig in dieser Kette. Diese Kette können wir überall erkennen. Werbung ist zum Beispiel eine Ursache. Als Wirkung kommt der Wunsch. Wir denken öfter daran, schließlich beschaffen wir uns das Objekt. Das Objekt führt, wenn wir Pech haben, dazu, dass es uns gefällt. Die Konsequenz ist Vergnügen. Das ist eine neue Ursache, die zu neuen Wirkungen führt. Wir wollen es nochmals haben, denken öfter daran, und erfüllen den Wunsch wieder …. So entsteht eine endlose Kette.

12. Atîtânâgatam svarûpato ¢sty adhva-bhedâd dharmânâm     Zurück zum vierten Kapitel

Atita = Vergangenheit; anâgatam = Zukunft; svarûpatah = in ihrer eigenen Form; asti = existiert; adhva–bhedât = wegen unterschiedlichen Pfaden; dharmânâm = von Eigenschaften

Vergangenheit und Zukunft existieren aus sich heraus; die unterschiedlichen Eigenheiten rühren von den verschiedenen Wegen her.

Hier gibt es verschiedene Interpretationen.

Swami Vishnu interpretiert diesen Vers so:

Die Welt existiert getrennt vom Menschen. Die verschiedenen Wege des Individuums erschaffen, was die verschiedenen Eigenschaften, Charakteristika der Welt zu sein scheinen. Damit wird Prakriti (Natur, Universum) von Purusha (bewusstsein) getrennt. Das heißt, die Welt existiert auch ohne unser Zutun. Das klingt banal, aber oft sind wir nicht so ganz davon überzeugt, sondern glauben, dass wir alles nur durch unser Tun schaffen.

Vom absoluten Standpunkt her gesehen gibt es gar keine Welt.

Auf einer gewissen Ebene haben wir natürlich eine Verantwortung und auch einen freien Willen

Aber von einem relativen Standpunkt aus sind beide nicht so groß, wie wir eigentlich denken. Von einem recht hohen Standpunkt aus geschieht alles, wie es geschehen soll. Wie es etwa Krishna in der Bhagavad Gita ausdrückt: Wir sind nur Marionetten in den Händen Gottes.

Diese unterschiedlichen Standpunkte der jeweiligen Philosophiesysteme zu verstehen und einzunehmen, ist sehr wichtig. Sie widersprechen sich teilweise vollkommen, sind aber trotzdem gleichzeitig gültig, je nachdem, von welchem Blickwinkel aus man sie gerade betrachtet.

Es widerspricht sich, dass wir auf der einen Seite einen vollkommenen Willen haben sollen. Auf einer zweiten Ebene haben wir gar keinen freien Willen, sondern alles ist vorbestimmt und auf der dritten Ebene geschieht gar nichts. Trotzdem ist alles wahr. Und das ist die einzige Weise, Wahrheit zu erklären. Sie befriedigt den Intellekt nicht unbedingt, aber die moderne Physik kommt zu den gleichen Schlüssen.

Zum Beispiel gibt es diesen unerklärlichen Dualismus beim Licht. Bis heute weiß niemand genau, was Licht ist. Die einen sagen, Licht ist eine Welle, die anderen sagen, Licht besteht aus Teilchen und neuerdings sagt die Mehrheit der Wissenschaftler, Licht ist sowohl Welle als auch Teilchen. Aber nach allen physikalischen Gesetzen kann eine Sache nicht gleichzeitig Welle und Teilchen sein. Entweder ist Licht ein Teilchenstrom, der von einer Lampe ausgeht und über die Teilchen, die sogenannten Photonen, Licht abgibt. Oder es muss einen Lichtäther geben, der sich bewegt und die Wellen in diesem Äther sind das Licht.

Nun wurden verschiedene Experimente durchgeführt, die eindeutig beweisen, dass Licht aus Teilchen besteht. Es wurde nachgewiesen, dass Lichtteilchen Kraft und Masse haben. Es gibt aber auch andere Experimente, die ganz eindeutig beweisen, dass Licht nicht Teilchen ist, sondern eine Welle. Aber Licht kann nicht gleichzeitig Teilchen und Welle sein! Das geht nicht. Das ist unmöglich. Aber es ist eindeutig so, dass Licht sich manchmal wie Teilchen verhält und manchmal wie eine Welle, obwohl es beides zusammen nicht sein kann. Das ist der sogenannte Teilchen-Wellen-Dualismus, den man inzwischen nicht nur beim Licht findet, sondern bei der Materie an sich.

Materie selbst kann man von einem Standpunkt aus als eine Wahrscheinlichkeitswelle definieren. Mit dieser Theorie kann man einige Phänomene von Materie gut erklären. Das nur als Beispiel. Überall, wo man tiefer in die Wahrheit hineingeht, trifft man auf diese Paradoxone.

Die Wirklichkeit ist nicht wirklich vom menschlichen Intellekt her begreifbar. Es ist ohnehin eine unglaubliche Anmaßung, anzunehmen, die Wirklichkeit müsse für den Menschen logisch ergründbar sein. Inzwischen weiß man, dass der Mensch niemals alles über das physische Universum wissen kann. Nicht deshalb, weil er noch nicht weit genug ist, weil unsere Computer noch nicht fortgeschritten genug sind, weil wir noch nicht genügend Neuronen im Gehirn haben, sondern ganz einfach deshalb, weil die Welt nicht logisch erfassbar ist. Sie verhält sich nicht entsprechend dieser „normalen“ menschlichen Logik, so wenig wie sie sich nach der Logik eines Hundes oder eines Pferdes verhält.

Wenn wir das im Hintergrund haben, können wir auch besser verstehen, dass die Meister und die Schriften manchmal im gleichen Kontext sagen: „Du bist der Meister deines Schicksals“ und kurz danach: „Gott macht alles.“ In der Bhagavad Gita finden wir diese scheinbaren Widersprüche etliche Male. Auf Arjunas Bitte sagt Krishna: „Ich habe schon alles gemacht, du brauchst nichts mehr zu machen.“ Und kurz danach erzählt er ihm: „Es ist deine Pflicht, zu kämpfen“. Und nach einer Weile sagt er: „Du kannst gar nicht anders, als es zu tun. Wenn du es nicht tust, wird die Natur dich dazu zwingen, du hast gar keine freie Wahl.“ Kurz danach erzählt er wieder etwas anderes. Und zwar nicht deshalb, weil Krishna unlogisch ist, sondern weil so die Wirklichkeit beschaffen ist. Er spricht von verschiedenen Standpunkten aus.

Das hilft uns übrigens auch, nicht allzu sehr und zu lange mit einem schlechten Gewissen herumzulaufen, wenn wir etwas falsch gemacht haben oder etwas nicht so gut geglückt ist. Es hilft, Dingen nicht nachzuhängen oder nachzutrauern: „Ach, hätte ich das doch anders gemacht, hätte ich doch schon vor 20 Jahren nach meinem ersten Kontakt mit Yoga weitergemacht, oder hätte ich ….“ Wir können zurückblicken und sagen: Letztlich ist das geschehen, was geschehen sollte. Aber gleichzeitig darf man nicht die Einstellung haben: „Ich kann ja sowieso nichts machen, alles ist Kismet“. In jedem Moment muss ich so entscheiden und handeln, als ob ich voll verantwortlich wäre – allerdings ohne mich deshalb innerlich damit zu binden. Ganz im Hintergrund habe ich im Kopf: Ich kann mich nicht falsch entscheiden, ich kann nicht wirklich etwas falsch machen, weil Gott es schon vorbestimmt hat. Das ist eigentlich eine sehr positive und konstruktive Weltanschauung.

Eine andere Erklärung für diesen Aphorismus wäre:

Es gibt nicht nur eine Welt, sondern es gibt verschiedene Welten. Eigentlich existieren alle Möglichkeiten der Entscheidung, die wir jemals gehabt haben, gleichzeitig parallel.

Es gibt also dieses Universum, diese Ebene, auf der wir uns in einer Situation so entschieden haben. Gleichzeitig gibt es ein paralleles Universum, wo man sich ganz anders entschieden hat. Und nicht nur eins, denn wie oft hat man im Leben schon Entscheidungen getroffen? – Natürlich trifft man ununterbrochen Entscheidungen: „Soll ich jetzt noch länger arbeiten und diese Arbeit abschließen, oder soll ich eine Pause machen und Kaffee trinken oder spazieren gehen?“ „Soll ich etwas essen oder nicht, soll ich Gemüse oder Salat essen oder Suppe oder Müsli?“ „Soll ich aufstehen, obwohl ich noch müde bin oder den Wecker abstellen und weiterschlafen?“ Und wie oft im Leben habt ihr schon wichtige, einschneidende Entscheidungen getroffen? Eine Entscheidung kann auch dann einschneidend gewesen sein, wenn man nichts gemacht hat, es einfach so hat weiterlaufen lassen. Aber man stand vor einer Entscheidung, man hatte die Wahl.

Und jetzt stellt euch vor, jede dieser Entscheidungen ist eine Welt für sich. Das heißt, ihr lebt in jeder Entscheidungswelt und habt dort in der Zwischenzeit wieder Hunderte von Entscheidungen getroffen. All diese Möglichkeiten existieren in diesem Moment überall. Wir bewegen uns durch diese verschiedenen Möglichkeiten hindurch. Unsere Entscheidungen bestimmen nicht die Welt, sondern den Weg, den wir durch die verschiedenen Welten gehen. Manchmal sind Science-Fiction-Filme diesbezüglich recht gut.

Angenommen, hier im Raum wären zehn Ameisen, die losrennen. Unterwegs machen sie immer wieder mal Umwege und denken dann, sie beeinflussen das Universum. Wenn sie mehr nach rechts gehen, wird plötzlich das Universum heller, wenn sie nach links gehen, wird es dunkler oder verändert seine Farben, und wenn sie zum Ende des Raumes oder an eine Seitenwand kommen, wird das Universum plötzlich zur Mauer. Zehn Ameisen, die sich gegenseitig nicht sehen können, erfahren zehn unterschiedliche Universen, aber der Raum bleibt gleich.

Das ist ein ganz faszinierender Gedanke.

Frage: Ist es möglich, dass man im Traum in die anderen Universen geht?

Ja. Im Traum schaffen wir uns auch selbst noch zusätzliche Universen. Wobei natürlich diese Universen auch Berührungspunkte haben. Es gibt ja Träume, bei denen wir mit dem Astralkörper aus dem physischen Körper austreten und dann vielleicht sogar in die Zukunft sehen. Und am nächsten Tag oder ein paar Jahre später kommen wir in eine Situation oder an einen Ort und wissen ganz genau, was als nächstes geschehen wird. Wir waren schon da. Und es geschieht tatsächlich.

Frage: Aber sind es wirklich verschiedene Universen? Sind es nicht einfach verschiedene Ebenen?

Letztlich ist es das gleiche Universum, das sich auf verschiedene Weise manifestieren kann, ein multidimensionales Universum. Je nachdem, in welche Richtung wir gehen, bestimmen wir unsere Erlebnisebene. Von unserem jetzigen Blickwinkel aus sind es verschiedene Universen. Wenn zehn Ameisen von einer Stelle losgehen, nimmt die eine den Weg durch das Gras, die andere über die Steine, die dritte über den Teppichboden – jede davon beschreibt die Erde ganz anders und erlebt ein anderes Universum.

Dazu gibt es eine berühmte alte Geschichte:

Der König der Blinden hörte von einem Elefanten. Er sandte nacheinander fünf Gesandte, die herausfinden und beschreiben sollten, was ein Elefant ist. Der erste Gesandte berührte die Beine des Elefanten und sagte: „Oh König, der Elefant ist wie eine große Säule.“ Der König dachte: Gut. Aber einer kann sich irren, sicherheitshalber schicke ich einen zweiten hin. Der Zweite kam hin und fasste den Bauch des Elefanten an. Er sagte: „Oh König, der Elefant ist wie ein großes, weiches, durchhängendes Dach.“ Das fand der König nun recht merkwürdig. Er schickte einen Dritten hin, der überprüfen sollte, wer von beiden recht hatte. Der Dritte fasste an den Stoßzahn des Elefanten und sagte: „Oh König, der Elefant ist wie ein spitzer Ast, gebogen und hart.“ Nun war der König ganz verwirrt und schickte den Vierten los. Der Vierte fasste hinten an den Schwanz und sagte: „Oh König, der Elefant ist wie ein großes Haarbüschel.“ Und schließlich kam der Fünfte zurück, der hatte an den Rüssel gefasst und sagte: „Oh König, der Elefant ist wie ein weicher, flexibler Schlauch.“ Wer von ihnen hat recht?

13. Te vyakta-sûkshmah gunatmânah     Zurück zum vierten Kapitel

Te = sie; vyakta = manifestiert; sûkshma = subtil, unmanifestiert; gunâtmânah = von der Natur der Gunas

Sie, ob manifestiert oder unmanifestiert, existieren in den drei Gunas.

Nachdem Patanjali großartig von verschiedenen Universen, Gegenwart, Vergangenheit, Zukunft berichtet hat, sagt er jetzt, letztlich existiert alles nur aus den drei Gunas heraus, den drei Eigenschaften der Natur (rein, unruhig, träge).

14. Parinâmaikatvâd vastu-tattvam     Zurück zum vierten Kapitel

Parinâma = Wandlung, Veränderung; ekatvât = infolge der Einzigartigkeit; vastu = des Objektes; tattvam = die Essenz, Wirklichkeit

Die Wirklichkeit eines Objektes rührt von der Einzigartigkeit in der Veränderung der Gunas her.

Ein Objekt besteht nur aus einem bestimmten Mischungsverhältnis von Gunas. Aus der Sicht der Physik kann man sagen: In gewisser Weise bestehen alle Elemente nur aus Elektronen, Neutronen, Protonen. Die Elektronen sind rajas, sie bewegen sich ständig. Die Protonen sind irgendwie tamas, sie führen zur Trägheit. Die Neutronen sind sattwa, sie gleichen irgendwie aus. Und aus diesen drei sind alle Elemente geschaffen. Der Unterschied zwischen Gold, Eisen, Blei, Zink, Sauerstoff besteht nur aus einer Anordnung von Elektronen, Neutronen und Protonen.

Das kann man ins Subtilere weiterführen: Der Unterschied zwischen einem Gedanken, einem Harmonium, einer Uhr und einer Brille ist nur die Zusammensetzung der Gunas. Alles ist eine Gotteserfahrung, eine Manifestation des Göttlichen, des Seienden. Es ist alles eins. Der Unterschied besteht nur im Mischungsverhältnis von Sattwa, Rajas und Tamas.

15. Vastu-sâmye chitta-bhedât tayor vibhaktah panthâh      Zurück zum vierten Kapitel

Vastu-sâmye = das Objekt, das gleich ist; chitta-bhedât = ein Unterschied im Verstand; tayoh = dieser beiden; vibhaktah = getrennt; panthâh = Weg

Ist das Objekt dasselbe, rührt der augenscheinliche Unterschied (zwischen zwei Wahrnehmungen) von den getrennten Wegen verschiedener Geiste her.

Dasselbe Objekt kann auf zwei Menschen ganz unterschiedlich wirken.

Zwei Menschen kommen zu einem Yogaseminar. Der eine findet es ganz fantastisch, hat wunderbare Erfahrungen, öffnet sich, fühlt sich aufgeladen, sein Leben verändert sich grundlegend. Der zweite reist nach dem zweiten Tag ab: Den ganzen Tag irgendwelche Verrenkungen, Nase zuhalten, Atem anhalten, eigenartiges Gesinge weit ab von jedem Takt und höherem Kunstverständnis, und den ganzen Tag auf dem Boden sitzen. Gleiches Objekt – zwei vollkommen verschiedene Erfahrungen.

Die Objekte an sich sind unterschiedlich, je nach Zusammensetzung der Gunas, und das gleiche Objekt kann auch ganz unterschiedlich wirken. Es kann auf zwei Menschen unterschiedlich wirken oder auch auf den gleichen Menschen, je nachdem, in welchem Gemütszustand er gerade ist.

Angenommen, wir sitzen abends zusammen, meditieren, singen Mantras und hören einen Vortrag über Raja Yoga an. Jemand kommt herein, der um fünf Uhr morgens aufgestanden ist und den ganzen Tag hart gearbeitet hat. In der Meditation schläft er halb, das Mantrasingen wiegt ihn langsam in den Schlaf und bei den Vorträgen kann er endlich entspannen. Der gleiche Mensch zwei Tage später: Ausgeschlafen, ausgeruht, fühlt sich besser, meditiert achtsam, ist in einem erhabenen Gemütszustand, singt „Jaya Ganesha“ voller Enthusiasmus, und beim Vortrag hört er jedes einzelne Wort aufmerksam an. Gleiche Situation, unterschiedliches Chitta (Gemüt, Empfinden).

Deshalb sollten wir auch immer vorsichtig sein, wenn wir etwas beurteilen. Unser Urteil ist nicht nur vom Objekt geprägt, sondern auch durch unseren Gemütszustand.

16. Na chaika-chitta-tantram vastu tad-apramânakam tadâ kim syât     Zurück zum vierten Kapitel

Na = nicht; cha = und; eka = ein; chitta = Verstand, Geist; tantram = abhängig von; vastu = ein Objekt; tat = das; apramânakam = nicht erkannt; tadâ = dann; kim = was; syât = würde geschehen

Ein Objekt ist nicht vom eigenen Geist abhängig, denn es existiert, ob es nun von diesem Geist wahrgenommen wird oder nicht.

Hier widerspricht Patanjali der Vedanta–Philosophie, die sagt: Die Objekte existieren nur deswegen, weil es einen Geist gibt, der sich ihrer bewusst ist. In dem Moment, wo keiner mehr an sie denkt, hören die Objekte auf zu existieren. Sie sind nur eine Illusion.

Aber genau genommen ist es kein Widerspruch, sondern eine Frage des Standpunktes.

Von unserem subjektiven Standpunkt aus existieren die Objekte natürlich, egal ob wir an sie denken oder nicht. Manchmal missverstehen Menschen, mindestens für praktische Zwecke, die Vedanta- und Advaita-Philosophie. Zum Beispiel glauben Menschen manchmal, sie könnten eine Krankheit einfach wegdenken. Manchmal klappt es auch, weil Gedanken eine starke Kraft sind. Aber allein die Tatsache, nicht an etwas zu denken, macht es nicht ungeschehen – so wenig, wie den Kopf in den Sand zu stecken. Neulich habe ich das bei einem kleinen Jungen beobachtet – irgendetwas hat ihm nicht gefallen, da hat er sich die Decke über den Kopf gezogen. Dann existiert das Ding nicht mehr. Vogel-Strauß-Politik. Wir schließen die Augen, dann guckt keiner hin.

17. Tad-uparâgâpekshitvâch chittasya vastu jnâtâjnâtam     Zurück zum vierten Kapitel

Tad-uparâga = die Färbung dadurch; apekshitvât = weil es nötig ist; chittasya = für, durch den Verstand; vastu = Objekt; jnâta = gewusst; ajnâtam =nicht gewusst

Ein Objekt ist dem Geist aufgrund der Färbung des Geistes entweder bekannt oder unbekannt.

Das ist die subtile Theorie der Wahrnehmung aus der Samkhya- und Yoga-Philosophie.

Der Geist wird dort mit einem Kristall verglichen, der sich durch das Objekt verfärbt oder mit einem See, in dem sich die Gegenstände spiegeln. Stellt man einen roten Gegenstand hinter einen Bergkristall, dann sieht der Kristall rot aus. Der gleiche Kristall vor einem gelben Hintergrund sieht gelb aus. Der Geist nimmt die Farbe der Objekte um uns herum an, wobei Farbe hier allegorisch zu verstehen ist. Der Geist nimmt auch Klänge, Bewusstseinsinhalte, Reaktionsmuster usw. an. Der Geist nimmt ein Objekt nur dann wahr, wenn dieses Objekt ihn färbt. An sich kennt unser Gehirn erst einmal gar nichts. Das Objekt muss irgendwie unser Gehirn, unseren Geist, färben, damit wir uns daran erinnern bzw. das nächste Mal eine Assoziation herstellen.

18. Sada jnâtash chitta-vrittayas tat-prabhoh purushasyâparinâmitvât     Zurück zum vierten Kapitel

Sadâ = immer; jnâtâh = bekannt; chitta-vrittayah = die Modifikationen des Geistes; tat-prabhoh = von seinem Herrn; purushasya = des Purusha, des Selbst; aparinâmitvât = infolge der Unveränderlichkeit

Aufgrund der unveränderlichen Natur des Purusha (des Selbst) sind Modifikationen des Geistes dem Selbst immer bekannt.

Purusha, das Selbst, die Seele ist immer da. Und um ihn herum gibt es den Geist, Chitta. Purusha nimmt immer und in jedem Moment alle Veränderungen des Geistes wahr. Das Chitta (Gemüt, bewusster Geist) bekommt über die äußeren Sinne Wissen von der Welt. Purusha schaut sich die Welt durch das Chitta hindurch an und ist sich aller Empfindungen und Gedanken des Chitta bewusst. Chitta sieht ab und zu mal etwas nicht. Wenn wir schlafen, sehen wir die Welt nicht. Purusha aber ist niemals müde. Er ist sich immer des Chittas bewusst. Wir sprechen jetzt von Chitta als unserem bewussten Geist. Daneben gibt es natürlich noch den unbewussten Geist, aber das steht auf einem anderen Blatt.

19. Na tat svâbhâsam drishyatvât     Zurück zum vierten Kapitel

Na = nicht; tat = es; svâbhâsam = selbst-erleuchtend; drishyatvât = Wahrnehmbarkeit

Das Gemüt hat keine eigene Leuchtkraft, denn es befindet sich im Bereich der Wahrnehmung.

Der Geist an sich erkennt nichts. Er erkennt deshalb, weil Purusha als Bewusstsein in ihm ist.

Er ist dem Mond vergleichbar. Der Mond strahlt nicht selbst, sondern spiegelt nur die Sonne. Und ein Spiegel hat keine Farbe an sich, sondern gibt seine Umgebung wider. Auch ein Kristall hat keine Farbe, sondern nimmt von seiner Umgebung die jeweilige Färbung an. Unser Gemüt, unser Geist nimmt nicht selbst etwas wahr und schafft auch nicht selbst etwas, sondern er nimmt die Farbe der Objekte an. Er kann auch aus der Erinnerung heraus die Farbe von früheren Objekten annehmen. Er kann die Farben auch mischen und so Kreativität entwickeln. Aber die Erkenntnis kommt von Purusha.

20. Eka-samaye chobhayânavadhâranam     Zurück zum vierten Kapitel

Eka–samaye = gleichzeitig; cha = und; ubhaya = beide; anavadhâranam = Nichterfassen

Das Bewusstsein kann nicht zwei Dinge auf einmal wahrnehmen.

Der bewusste Geist nimmt eine Sache nach der anderen wahr. Das geschieht zwar so schnell hintereinander, dass man den Eindruck hat, man mache bzw. denke mehrere Dinge gleichzeitig. Zum Beispiel, wenn man in der Meditation sitzt, sein Mantra wiederholt und in Gedanken Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft plant. Das scheint alles gleichzeitig abzulaufen, ist es aber nicht. Es ist mal das eine, mal das andere in sehr schneller Abfolge. Der Geist springt.

21. Chittântara-drishye buddhi-buddher atiprasangah smriti-samskarash cha     Zurück zum vierten Kapitel

Chittântara-drishye = in (einem Geist), der durch einen andern Geist wahrnehmbar wird; buddhi–buddheh = Wahrnehmung von Wahrnehmungen; atiprasangah = Überflüssigkeit, ad absurdum füh-ren; smriti = von Erinnerungen; samkarah = Verwirrung; cha = und

Wenn ein Geist einen anderen wahrnehmen könnte, dann würde Wahrnehmung der Wahrnehmung sowie Verwirrung der Erinnerung stattfinden.

Wenn der Geist gleichzeitig den Geist eines anderen wahrnehmen würde, dann gäbe es eine Wahrnehmung der Wahrnehmung und daher eine Verwirrung der Erinnerungen.

Deshalb empfiehlt auch Patanjali durchaus, nicht zu sehr zu versuchen, den Geist der anderen immer wieder zu verstehen und zu lesen. Er hat uns zwar vorher die Samyama–Technik angegeben, wie wir durch Konzentration auf das Herz eines anderen die Inhalte seines Geistes wahrnehmen können. Aber zu oft sollten wir das nicht machen.

Wir haben Swami Vishnu einmal gefragt, ob er unsere Gedanken lesen könnte. Denn er hat sich manchmal ganz offensichtlich so verhalten, als ob er Gedanken liest. Bei mir war es immer so: Ich habe mir monatelang alle Fragen, die ich nicht selbst beantworten konnte und für die ich auch vom Zentrumsleiter oder der Leiterin keine zufriedenstellende Antwort bekam, aufgeschrieben. Und wenn ich dann nach einer Weile wieder einmal zu Swami Vishnu kam, waren es meist ein paar Seiten voll Fragen. Dann habe ich immer ein paar Tage abgewartet, und in der Zeit hat er meistens den größten Teil meiner Fragen schon beantwortet. Entweder im Rahmen von Vorträgen direkt oder indirekt oder indem er mich zu sich hingezogen und mir irgendetwas erzählt hat, was dann genau die Antwort auf etwas war, was ich hatte fragen wollen.

Ich kann mich beispielsweise auch an ein Ereignis in Wien erinnern, dem ersten Yogazentrum, das ich leitete. Ich war ein paar Monate dort und irgendwie lief es auch sehr gut. Ein paar der älteren Mitarbeiter befürchteten, mein Ego werde zu dick und warnten mich, aufzupassen. Nun wusste ich selbst nicht so genau: Ist es jetzt Ego oder ist es Hingabe und Pflichterfüllung bzw. Dienst am Guru und an Gott. Und während ich nun darüber nachgedacht und ständig versucht habe, an Gott zu denken und ihm alles zu widmen – manchmal ist es schön, wenn man ganz naiv ist, so am Anfang, dann funktioniert alles noch besonders gut – kam plötzlich ein Brief von Swami Vishnu, in dem stand, meine Motivation sei richtig, Swami Sivananda wirke durch mich hindurch.

Damals habe ich wirklich ständig darüber nachgedacht – ich frage mich das natürlich auch heute noch, aber jetzt denke ich nicht so viel nach.  Es geschieht einfach, es ist zu meiner zweiten Natur geworden. Und dann kam dieser Brief von Swami Vishnu, ohne dass ich ihm die Frage überhaupt gestellt hatte! Und es hatte auch sonst niemand mit ihm darüber gesprochen, denn damals gab es keine E-mail oder ähnliches.

Aber auf die Frage, ob er Gedanken lesen könne, hat er geantwortet: „Ich habe schon genug Probleme mit meinem eigenen Geist. Stellt euch vor, ich könnte jetzt die Gedanken von euch allen hier lesen. Ich würde innerhalb von fünf Minuten verrückt werden!“

22. Citer apratisamkramâyâs tad-âkârâpattau sva-buddhi-samvedanam     Zurück zum vierten Kapitel

Chiteh = des Bewusstseins; apratisamkramâyâh = von einem, der nicht von Ort zu Ort wandert; tadâkâra = seine Form; âpattau = in der Annahme; sva-buddhi = Selbsterkenntnis; samvedanam = Wissen (über)

Wissen über sich selbst kommt durch die Selbstwahrnehmung, die einsetzt, wenn der Geist still gemacht wird.

Das ist im Grunde genommen das gleiche wie „Chittas Vritti Nirodhah“ aus dem ersten Kapitel. Ist der Geist in der Stille, kommt das Wissen des Selbst.

23. Drastri-drishyoparaktam chittam sarâartham     Zurück zum vierten Kapitel

Drashrti = der Sehende, Wissende; drishya = das Gesehene, Gewusste; uparaktam = gefärbt; chittam = Geist, Verstand; sarvârtham = allumfassend

Der Geist, der durch den Sehenden, das Selbst, und das Gesehene gefärbt ist, versteht alles.

Das kann man wieder auf zwei Arten interpretieren.

Einmal ist das eine Darstellung der Wahrnehmungstheorie aus yogischer Sicht. Der Geist kann grundsätzlich alles wissen und verstehen, weil er einerseits das Selbst, Purusha, hat, welcher alles wahrnimmt und andererseits ist da die ganze Prakriti, die ganze Schöpfung. Das Chitta (der Geist, das Gemüt) kann grundsätzlich von allem gefärbt werden, je nachdem, wohin, in welche Richtung es sich wendet. Und da hinter ihm Bewusstsein ist, eben Purusha, kann das Chitta grundsätzlich alles wahrnehmen und erkennen.

Die zweite Interpretation ist: Wenn wir in der Lage sind, unser Chitta sehr ruhig zu halten und unsere Vorurteile und all das herauszuhalten, dann färbt das Chitta sich tatsächlich ganz genau wie das Objekt. Dann wissen wir über die Objekte sehr viel besser Bescheid als jemand, der ständig nur mit Vorurteilen und eingefahrenen Denk- und Verhaltensmustern an alles herangeht. Ein reiner Kristall oder ein ganz stiller, sauberer See widerspiegeln die Welt klar und deutlich.

24. Tad asamkhyeya-vâsanâbhish chitram api parârtham samhatya-kâritvât     Zurück zum vierten Kapitel

Tad = das; asamkhyeya = unzählige; vâsanâbhih = durch Vasanas, Wünsche; chitram = mannigfaltig; api = obgleich; parârtham = um eines anderen willen; samhatya–kâritvât = infolge gemeinsamen Handelns

Der Geist, obwohl mit unzähligen Neigungen und Wünschen erfüllt, handelt für das Selbst, denn sie handeln zusammen.

Obgleich der Geist oft verrücktspielt oder zu spielen scheint, ist er eigentlich Diener des Selbst. Er vergißt das zwar manchmal, aber gewissermaßen ist das seine Aufgabe. Wir haben den Geist, um die Erfahrungen zu machen, die wir machen wollen und müssen, um uns letztlich auch wieder von allem zu befreien.

25. Vishesha-darshina âtma-bhâva-bhâvanâ-vinivrittih     Zurück zum vierten Kapitel

Vishesha = Unterschied; darshinah = von dem, der sieht; âtmabhâva = Bewusstsein des Selbst; bhâvâna = glauben, zu sein; weilend; vinivrittih = völliges Aufhören

Wer diesen Unterschied sieht, hört auf, den Geist als Atma zu sehen.

Viele Menschen denken: Ich bin der Geist, ich bin die Emotionen, ich bin die Gefühle. Die Vorstellung, dass wir etwas anderes sein könnten als die Gefühle und die Wahrnehmungen auf physischer Ebene ist Menschen völlig fremd. Und selbst für spirituelle Aspiranten, die wiederholen: „Aham Brahma asmi“ ist das „Ich bin Brahman“ nicht mehr sehr aktuell, sobald irgendwelche Emotionen kommen, vor allem bei negativen oder belastenden Emotionen. Aber wenn wir anfangen, diesen Unterschied zwischen Geist und Selbst zu sehen und auch spüren, dann mögen zwar auch Emotionen da sein, aber wir sind nicht mehr so stark davon beeindruckt und beeinflusst. Wir wissen: Das Selbst ist separat davon.

26. Tadâ hi viveka-nimnam kaivalya-prâgbhâram chittam     Zurück zum vierten Kapitel

Tadâ = dann; hi = wahrlich; viveka-nimnam = geneigt zur Unterscheidung; kaivalya-prâgbhâram = der Befreiung zustrebend; chittam = der Geist, Verstand

Mit einer Neigung zur Unterscheidungskraft strebt er in Richtung der Befreiung.

Erste Voraussetzung ist, dass wir überhaupt erst einmal erkennen, dass wir gebunden sind. Und während wir um die Gebundenheit wissen, muss uns klar werden, dass wir eigentlich frei sein könnten. Wenn wir wissen, dass das Selbst etwas anderes ist als der Geist, dann wissen wir: Wir sind momentan gebunden. Wenn wir diese Unterscheidungskraft erworben haben, wollen wir natürlich nicht länger gebunden bleiben. Von diesem Moment an können wir nach Befreiung streben.

27. Tach-chhidreshu pratyayântarâni samskârebhyah     Zurück zum vierten Kapitel

Tach-chidreshu = darin Unterbrechungen in ihm; pratyayântarâni = andere Pratyayas, Gedanken; samskârebhyah = aus der Stärke der Samskaras, der früheren Eindrücke im Geist

Gedanken, die als Unterbrechung der Unterscheidungskraft aufsteigen, rühren von vergangenen Samskaras her.

Deshalb geht es auf dem spirituellen Weg nicht so schnell. Wir können einen Augenblick lang eine wunderschöne Einsicht haben und wirklich erkannt haben: Ja, ich bin das unerschütterliche, unvergängliche Selbst, ich bin nicht der Geist. Und kurz danach identifizieren wir uns wieder mit unseren Gedanken und unserem Selbstbild und all dem. Das merkt man besonders an der eigenen Reaktion, wenn einen jemand kritisiert oder etwas schief geht oder man meint, man müsste etwas anderes tun als das, was jetzt gerade von einem verlangt wird. Dann merkt man, dass man sich wieder identifiziert

Diese Identifikation kommt von den vergangenen Samskaras (Eindrücken) aus früheren Leben. Samskara für Samskara muss ersetzt werden, wie im Beispiel von dem Baumwolltuch, das wir in ein goldenes Tuch umwandeln können, indem wir Faden für Faden auswechseln. Deshalb dauert es so lange, bis man die Selbstverwirklichung erreicht.

28. Hânam eshâm kleshavad uktam     Zurück zum vierten Kapitel

Hânam = Beseitigung; eshâm = von diesen; kleshavat = wie das der Leiden; uktam = wurde beschrieben

Ihre Beseitigung wird auf dieselbe Art erreicht wie die Beseitigung der Leiden, wie früher beschrieben wurde.

Wir hatten von den Ursachen der Kleshas, der Leiden gesprochen, nämlich Avidya, Asmita, Raga, Dwesha, Abhinidwesha, also Unwissenheit, Ego, Mögen, Nichtmögen und Angst. Auch die Samskaras (Eindrücke) rühren letztlich vom Handeln aus den Kleshas (Leiden) her. Das hinterlässt Eindrücke im Unterbewusstsein, die dazu führen, dass die Unterscheidungskraft nicht dauerhaft ist.

29. Prasamkhyâne ¢py akusîdasya sarvathâ viveka-khyâter dharma-meghah samâdhih     

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Prasamkhâne = in Kenntnis der höchsten Meditation; api = sogar; akusîdasya = kein Interesse haben, den Wunsch aufgeben; sarvathâ = auf jede Weise; viveka–khyâteh = Unterscheidungskraft; dharma–meghah = Herabströmen der Dharmas; Samâdhih = überbewusster Zustand

Wer selbst den Wunsch nach dem höchsten Bewusstseinszustand aufgegeben hat und Unterscheidungskraft übt, bekommt Dharma-Meghah-Samadhi.

Wenn man schließlich sogar den Wunsch nach Befreiung aufgegebenen hat, erreicht man nicht nur normalen Samadhi, sondern Meghah-Samadhi, ja sogar Dharma-Meghah-Samadhi.

Dharma-Meghah-Samadhi heißt eigentlich „Die Wolke“. Shri Karthikeyan hat mir mal gesagt, die Übersetzung von Swami Vishnu sei hier nicht ganz treffend. Aber Swami Vishnu hält sich sehr eng an Vivekanandas Interpretation der Yoga Sutras, daher scheint es zumindest eine verbreitete Übersetzung zu sein.

Das Hauptmittel zur Befreiung ist der Wunsch nach Befreiung. Aber er ist gleichzeitig auch das letzte Hindernis. Ganz zum Schluss, wenn wir sehr weit entwickelt sind, müssen wir auch den Wunsch nach Befreiung aufgeben. Dann sind wir befreit. Das mag paradox klingen.

Wenn wir zum Beispiel aufs Dach steigen wollen, was benutzen wir? – Eine Leiter. Das Mittel, um aufs Dach zu steigen, ist eine Leiter. Und was müssen wir als letztes tun, um wirklich auf das Dach zu kommen? – Die Leiter verlassen. Das letzte Hindernis vor der Berührung des Daches ist die letzte Stufe der Leiter und vielleicht auch die Sicherheit der Leiter.

30. Tatah klesha-karma-nivrittih     Zurück zum vierten Kapitel

Tatah = daher; klesha = Leiden; karma = Handlung und ihre Folgen; nivrittih = Aufhören, Freiheit von

Daraus folgt Befreiung von allen Leiden und Karma.

31. Tadâ sarvâvarana-malâpetasya jnânasyâ-nantyâj jneyam alpam     Zurück zum vierten Kapitel

Tadâ = dann; sarva = alle; âvarana = das, was verschleiert, verhüllt; mala = Unreinheiten; apetasya = ohne, nach Beseitigung von; jnânasya = vom Wissen; ânantyât = wegen der Unendlichkeit von; jneyam = das Erfahrbare; alpam = nur wenig

Dann, mit der Beseitigung aller Ablenkungen und Unreinheiten wird es ersichtlich, dass das, was vom Geist erkannt werden kann, winzig ist, verglichen mit dem unendlichen Wissen der Erleuchtung.

Dann erkennen wir: Alles, was vorher war, war eigentlich nichts im Vergleich zu dem, was wir jetzt erfahren.

32. Tatah kritârthânâm parinâma-krama-samâptir gunânâm     Zurück zum vierten Kapitel

Tatah = dadurch; kritârthânâm = nachdem sie ihren Zweck erfüllt haben; parinâma = von den Veränderungen; krama = Vorgang; samâptih = das Ende; gunânâm = der drei Gunas, Grundeigenschaften

Die drei Gunas, die ihren Zweck, den Vorgang der Veränderung, erfüllt haben, hören auf zu existieren.

Haben wir die Selbstverwirklichung erreicht, dann verschwinden die drei Gunas für uns. Die Verbindung von Prakriti (Natur) und Purusha (Selbst) löst sich auf.

33. Kshana-pratiyogî parinâmâparânta-nigrâhyah kramah     Zurück zum vierten Kapitel

Kshana = Augenblicke; pratiyogî = entsprechend; parinâma = Wechsel; aparânta = am Ende; nirgrâhyah = wahrnehmbar, ersichtlich; kramah = Vorgang, Aufeinanderfolge

Der Vorgang der Aufeinanderfolge von Augenblicken wird am Ende der Umwandlung der Gunas ersichtlich.

Das Leben besteht aus aufeinanderfolgenden Augenblicken. Es erscheint so, als hätten diese alle etwas miteinander zu tun, aber eigentlich läuft nur ein Film ab. Einige Verse weiter oben hat Patanjali uns ja schon die Illusion von einem freien Willen geraubt, indem er gesagt hat: Es existiert schon alles und wir gehen einfach irgendwie hindurch. Wenn wir ins Kino gehen, können wir uns entscheiden, welchen Film wir anschauen. Im Film entwickelt sich die Handlung schrittweise, so, als entstünde sie gerade eben. Alles verläuft meist sehr dramatisch, man bangt mit dem Helden und der Heldin, freut sich über das Happyend oder ist traurig, wenn es ausbleibt. Aber es ist alles vorher schon auf einem Zelluloidstreifen aufgezeichnet. So ist es mit dieser Welt.

Letzter Vers:

34. Purushârtha-shûnyânâm gunânâm pratiprasavah kaivalyam svarûpapratishthâ va chiti–shakter iti
Zurück zum vierten Kapitel

Purushârtha = Ziel des Purusha, des Selbst; shûnyânâm = ohne; gunânâm = der Gunas, der Grundeigenschaften; pratiprasavah = Rückgang, Wiedereintauchen; Kaivalyam = Befreiung; svarûpa = in der eigenen Natur; pratishthâ = Niederlassung, Rückzug; vâ = oder; chiti–shakteh = von der Kraft des reinen Bewusstseins; iti = Ende

Kaivalya ist der Zustand, in dem die Gunas ins Gleichgewicht kommen und verschmelzen. Sie haben keinen Bezug mehr zu Purusha. Die Seele ruht in ihrer wahren Natur – reinem Bewusstsein.

Dann sind wir befreit: Nichts mehr zu tun, kein Leid, kein Vergnügen, kein Schmerz, keine Aufgaben, keine Mantras, keine Asanas, nichts.

Ist das nicht langweilig? Es gibt dann nicht mehr die Frage von Langeweile, weil es keine Zeit mehr gibt. Es gibt auch niemanden, dem es langweilig werden könnte, denn es gibt nur noch eine Bewusstheit, Sat Chid Ananda, reines Sein, Wissen und Glückseligkeit.


Anhang: Wichtige indische Schriften und Philosophiesysteme

Valmiki Ramayan Veda

Klassische indische Schriften
Klassische indische Theorie
Weitere Theorien

Einteilung der indischen Schriften

1. Die Veden
2. Die Smritis
3. Die Puranas und Itihasas
4. Die Sutras
5. Agamas und Tantras
6. Hatha Yoga Schriften

Die sechs indischen Philosophiesysteme

Dies sechs Darshanas heißen:
1. Purva Mimamsa
2. Vaisheshika
3. Nyaya
4. Samkhya
5. Yoga (bezogen auf Patanjali)
6. Uttara Mimamsa = Vedanta

Klassische indische Schriften – Theorien der westlichen Orientalistik     Zurück zum Anhang

Die Ursprünge des Yoga selbst liegen im Dunkeln. Die ältesten archäologischen Zeugnisse der indischen Hochkultur stammen aus der sogenannten Induskultur, die ihre Blütezeit zwischen 3500 und 1500 v.Chr. hatte. Es existierte auch eine Schrift, die allerdings noch nicht entziffert ist, denn sie scheint nach einer anderen Logik aufgebaut zu sein als alle anderen bisher bekannten Schriften. Sie hat auch keine Ähnlichkeit mit Sanskrit. Archäologischen Ausgrabungen zufolge handelte es sich um eine großartige Hochkultur mit schachbrettartig angelegten blühenden Städten, die über Kanalisation und fließendes Wasser verfügten. Die größten heute bekannten Städte dieser Hochkultur sind Harapa und Mojendra.

Um 2000 v.Chr. herum werden die Ausgrabungsfunde geringer und schon um 1500 v.Chr. gibt es keine Zeugnisse mehr von der Induskultur. Aus unbekannten Gründen hat sie sich irgendwann aufgelöst, ohne Anzeichen größerer Schlachten oder sonstiger Katastrophen. Nach einer Theorie westlicher Orientalisten war der Landbau eventuell nicht sehr ökologisch, so dass das Land allmählich auslaugte und die Bewohner die Böden deshalb verlassen mussten.

Eine zweite Theorie beruht auf der Einwanderung der Indogermanen um 1500 v.Chr. Diese sogenannten Arier – der Ausdruck hat zwar in Deutschland einen eigenartigen Klang, aber er kommt auch in der Bhagavad Gita (ind. Nationalepos) vor; Arier heißt eigentlich stark, mutig – kamen aus der südrussischen Steppe, zwischen Kaspischen Meer und Baikalsee, und sollen von dort in mehreren Wellen ausgewandert sein. Ein Teil von ihnen zog nach Persien, das wurden dann die Iranoarier, ein anderer Teil nach Indien, die sogenannten Indoarier. Bis heute haben Sanskrit und Persisch eine enge Verbindung. Wenn man Sanskrit kann, versteht man auch die meisten persischen Ausdrücke und die Bedeutung persischer Namen, wenn sie nicht arabischen Ursprungs sind.

So wird angenommen, dass die Arier zwischen 1500 und 1200 v.Chr. erst das Industal eroberten, dann die Ganges-Tiefebene und schrittweise den nordindischen Subkontinent. In Südindien dagegen blieben die sogenannten Drawiden. Sie gelten als Ureinwohner und hatten auch eine eigene Kultur. Manche Wissenschaftler mutmaßen, die Drawiden könnten dasselbe Volk sein, das auch die Induskultur gegründet hatte. Bis heute gibt es in Indien zwei ethnische Hauptgruppen, eben die eher hellhäutigen Arier im Norden und die dunkelhäutigen Drawiden im Süden.

Die höheren Kasten sind auch im Süden oft mit hellhäutigen arischstämmigen Menschen besetzt. Daneben gibt es in Indien natürlich noch sehr viele anderen Völker, sogar mongoloide Völker, gerade in Nord- und Nordostindien, die ebenfalls nach Indien eingewandert sind. Dann gibt es die sogenannten Awinashis, die Stämme, die bis heute im Wald leben und nie seßhaft geworden sind. Früher hatten sie genügend Wald. Heutzutage wird der Wald immer mehr abgeholzt, weil die Bevölkerung im Vergleich zu vor 50 Jahren von etwa 200 bis 300 Millionen auf über eine Milliarde angewachsen ist.

Wenn man Pakistan und Bangladesh noch dazuzählt, gibt es auf dem indischen Kontinent 1,1 oder 1,2 Milliarde Menschen, also mindestens genauso viele Inder wie Chinesen. Die Inder haben ein höheres Bevölkerungswachstum. Man muss sich auch immer vor Augen halten, dass Indien doppelt so viel Einwohner hat wie Europa. Manchmal spricht man von der indischen Kultur oder dem indischen Volk. Das stimmt so wenig, wie man von einem europäischen Volk sprechen kann, obgleich es bis zu einem gewissen Grad in Europa eine einheitliche Kultur gibt. Aber man kann nicht unbedingt sagen, dass die Spanier, Italiener, Skandinavier, Russen, Griechen, Deutschen alle gleich seien. Genauso ist es auch mit der Völkervielfalt in Indien.

Indien war historisch auch ganz selten geeint. Es bestand, wie Europa, aus verschiedenen Reichen, die zwischendurch geeint wurden. Und da Indien immer ein reiches Land war, kamen auch stets von außen Einwanderer und Eroberer.

Um die Zeit der arischen Einwanderung sollen dieser Theorie zufolge auch die indischen Schriften entstanden sein. Es sollen ursprünglich rein arische Schriften gewesen sein, die die Indogermanen mitbrachten und die sich später allmählich mit dem drawidischen Gedankengut vermischten. Auf die indogermanische, abendländische Kultur gehen die Vorstellungen von Brahman, Atman und die vedischen Götter wie Indra, Varuna, Agni und so weiter, zurück. Von der drawidischen Religion nimmt man an, dass es sich ursprünglich mehr um eine Mutterreligion mit Verehrung der Göttin, eine tantrische Kultur, gehandelt hat, die sich im Gegenzug in den ersten Jahrhunderten nach Christus wieder über ganz Indien ausgebreitet hat und auch von der sogenannten brahmanischen Kultur absorbiert wurde.

In indologischen und zum Teil auch in Yogabüchern liest es sich immer so, als sei das historisch klar bewiesen. Es gibt aber in Wirklichkeit keine archäologische Beweisführung dafür, dass die Indogermanen tatsächlich die Indusbewohner besiegt haben. Man weiß nur, es gibt hellhäutige Inder, die aussehen wie Europäer und überwiegend in Nordindien leben, und es gibt eben die dunkelhäutigeren Drawiden in Südindien. Es bestehen auch zwei verschiedene Sprachfamilien in Indien: Die indogermanischen Sprachen, die vom Sanskrit abgeleitet sind und die drawidischen Sprachen. Die Theorie stützt sich hauptsächlich auf die Sprachwissenschaft und die Ethnologie.

Die zeitliche Bestimmung ist deshalb so schwierig, weil die Inder auf Palmblätter geschrieben haben, die nach ein paar hundert Jahren vollständig zerfallen waren und immer wieder kopiert, also abgeschrieben, wurden.  Man findet keine uralten Originale. Um 250 v.Chr. ließ Ashoka einige Schriften in große Steintafeln meißeln. Aber dabei handelt es sich um buddhistische Inschriften.

Klassische indische Theorie     Zurück zum Anhang

Nach klassischer Chronologie sind die Schriften zu Beginn des Kali Yuga entstanden, also um 3500 v.Chr. Die mündliche Überlieferung geht noch erheblich weiter zurück.

Zu Beginn des Kali Yuga, des Eisernen Zeitalters, erkannte Vyasa, ein großer Yogi und Rishi (Seher), dass die Menschen sich nicht mehr so viel merken können, dass außerdem die Lebensspanne abnehmen und die ganze Zivilisation materialistischer werden wird. Er erhielt innerlich den Auftrag, das Wissen in den Veden festzuhalten. So hat er die Veden aufgeschrieben, unterteilt und anschließend auch die anderen Schriften gleich mitgeschrieben.

Nach der indischen Mythologie hat Vyasa den größten Teil aller indischen Schriften selbst geschrieben. Die Veden hat er wahrscheinlich persönlich geschrieben und die Puranas hat er gesammelt und seinem Sohn Sukadev weitergegeben, der ein fotografisches Gedächtnis hatte und sie seinerseits weitererzählte, so dass sie zum Teil erst etwas später niedergeschrieben wurden. Die Itihasas, zum Beispiel die Mahabharata, soll er selbst geschrieben haben. Die Smritis entstanden zum Teil etwas später.

Es gibt neuerdings auch einige Untersuchungen der Veden unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten. Die Inder sind ja sehr wissenschaftlich orientiert. Sie haben die Atombombe entwickelt, Satelliten im Weltraum und sind in der Computerwissenschaft, beim Programmieren, absolute Weltspitze. Aber es gibt eine ganze Reihe indischer Top-Wissenschaftler, die irgendwann erkennen, dass die westliche Wissenschaft auch nicht so weit führt, mit ihrem wissenschaftlichen Handwerkszeug die alten Schriften analysieren und dabei interessante Parallelen entdecken.

Beispielsweise gibt es eine Analyse des Sternenhimmels zur vedischen Zeit. Der in den Veden beschriebene Sternenhimmel war ein anderer als heute. Da die Erde leicht schief im Weltraum kreist, verschiebt sich der Sternenhimmel von der Erde aus gesehen etwa alle 2000 Jahre um 30 Grad. Darauf beruht das sogenannte platonische Jahr und darauf beruht auch, dass wir uns jetzt im Zeichen des Wassermanns befinden. Und aus den in den Veden beschriebenen Konstellationen der Hauptsterne, der Sternbilder, ihrem Verhältnis zueinander, lässt sich eindeutig nachweisen, dass es sich dabei um den Sternenhimmel der Zeit vor 3500 v.Chr. handelt – und nicht um den von 1500 v.Chr. Demnach wäre praktisch der ganzen westlichen Orientalistik der Boden entzogen, alle bisherigen Theorien in Frage gestellt und die Veden eindeutig um 3500 v.Chr. entstanden.

Dann hätten die Veden nämlich zur Zeit der Induskultur schon bestanden und die Indogermanen hätten sie nicht mitgebracht, sondern mehr oder weniger übernommen.

Weitere Theorien     Zurück zum Anhang

Und es gibt noch eine andere interessante Theorie, die Swami Vishnu gelegentlich erzählt hat. Sie ist in den Schriften erwähnt, es gibt aber – wie für die der westlichen Orientalistik – keine archäologische Beweisführung dafür. Danach wären wir die Nachfahren der Induskultur.

Krishnas nordindischer Volksstamm der Yadavas war besonders heldenhaft. Krishna wollte aber nicht in die Politik und die Kämpfe seiner Zeit hineingezogen werden. Deshalb schuf er aus seiner Yoga Maya, seiner Yogakraft heraus, einen Kontinent namens Dvaraka vor Indien, auf den er mit seinem Volk auswanderte, um dort ein ideales Staatswesen zu gründen.

Aber selbst Krishna ist an den Menschen gescheitert. Er schuf ein gut funktionierendes Wirtschaftssystem, so dass es allen gut ging. Aber wie es so ist, wenn es einem sehr gut geht, man wird schnell korrupt und materialistisch. Daher bestimmte Krishna, dass der Kontinent nach seinem Tod untergehen sollte und beauftragte seinen Schüler Arjuna, nach seinem Tod die Yadavas nördlich der großen Schneeberge zu führen. Und so geschah es dann auch. Krishna starb, damit begann das Kali Yuga, Arjuna ging nach Dvaraka, erfüllte Krishnas Wunsch und zog mit den Yadavas, zumindest mit denen, die ihm glaubten, was nicht die Mehrheit war, nördlich des Himalaya, ließ sie dort zurück und kehrte selbst nach Indien zurück. Danach wären wir Nachfahren des Volksstammes der Yadavas.

Man könnte die Geschichte von Dvaraka auch deuten als Geschichte von einem untergegangenen Kontinent, von dem die Menschen ihre Zivilisation mitgebracht haben.

Und es gibt die Theorien, wonach die ganze irdische Zivilisation nicht hier begonnen hat, sondern auf anderen Planeten. Und wenn man die Bücher von Däniken liest oder die indischen Schriften oder die Bibel, dann spricht durchaus einiges dafür. Man findet sehr oft Hinweise auf fliegende Gefährte, zum Beispiel im Ramayana. Dort werden Flugzeuge beschrieben, die großen Lärm machen, Feuer speien und bei einer bestimmten Geschwindigkeit – also beim Durchbrechen der Schallmauer – gibt es einen furchtbaren Knall. Manche fliegen nur durch die Kraft der Gedanken und sind noch erheblich schneller. Sie fliegen zu anderen Planeten und kehren zurück. Da gibt es ganz wilde Aussagen. Von Däniken würde auch die Devas nicht als Engelswesen interpretieren sondern als Wesen von anderen Planeten, die hierher gekommen sind und die Kultur gebracht haben.

Swami Vishnu hat sich dazu nicht übermäßig geäußert, aber er meinte, wir seien nicht die erste Raumfahrtkultur und die Zivilisation habe nicht auf der Erde angefangen, denn die Zeit seit der Entstehung des Lebens auf der Erde sei zu kurz gewesen, um sich so schnell so weit zu verändern und zu entwickeln.

Es könnte genauso gewesen sein, dass die Menschen der Induskultur hellhäutig waren, zum großen Teil nach Zentralasien ausgewandert sind und dass die Drawiden in Südindien eine eigene Kultur hatten und sie sich Schritt für Schritt vermischt beziehungsweise eben nicht vermischt haben, so dass die hellhäutigen in Nordindien eine Kaste geblieben sind. Wenn sie nach Süden kamen, haben sie dort die höheren Kasten besetzt, und wenn Drawiden von Süd- nach Nordindien kamen, haben sie dort die niederen Kasten besetzt.

Über die Kastenentstehung gibt es noch eine andere Lehre, nämlich, dass die Kasteneinteilung nicht durch Religionszuhörigkeit, sondern aus inneren Motiven entsteht. Es gibt die vier Hauptwünsche des Menschen: Kama (Sinnesbefriedigung), Arta (Wunsch nach Reichtum), Dharma (Wunsch nach Gerechtigkeit und Selbstverwirklichung im modernen westlichen Sinn) und Moksha (Befreiung). Diejenigen, die hauptsächlich nach Sinnesbefriedigung, einem einfachen Leben streben, werden die Shudras. Sie verrichten ihre Arbeiten, haben nicht zu viele Pflichten, keine zu lange Arbeitszeit und können ihre Sinne auf einfache Weise befriedigen. Diejenigen, denen es hauptsächlich um Reichtum und Macht geht, werden die Vaishyas, die Bauern und Kaufleute.

Wenn Menschen, die reich werden wollen, die Wirtschaft beherrschen, dann floriert die Wirtschaft. Wenn gerechtigkeitsliebende Menschen versuchen, Unternehmen aufzubauen, klappt das meist nicht so ganz. Wer anderen helfen und dienen will, wem es um Gerechtigkeit und das Wohl der Gesellschaft geht, der soll die Regierung übernehmen. Das ist die Kaste der Kshatriyas. Kshatriyas sind nicht nur Krieger, sondern auch Beamte, diejenigen, die die Verwaltung organisieren. Und dann gibt es Menschen, denen es hauptsächlich um Moksha, Befreiung und Selbstverwirklichung geht. Das sind die Brahmanen, die Priester.

Manche Brahmanen nehmen auch Arbeiten an, damit sie ihren Lebensunterhalt bestreiten können, vielleicht vier bis sechs Stunden am Tag,  so dass sie einen Teil des Tages arbeiten und den Rest der Zeit mit Studium und Sadhana verbringen können. Und anders als bei uns im Westen ist es nicht so, dass man mehr Rechte hat, je höher die Schicht, und umso weniger Rechte, je niedriger die Schicht, sondern umgekehrt.

Je höher die Schicht, umso mehr Restriktionen unterliegt man. Die Shudras können mehr oder weniger essen, was sie wollen und ihren Tag verbringen wie sie wollen. Die Brahmanen hingegen haben strikte Eßregeln, müssen früh zu einer bestimmten Zeit aufstehen, dreimal am Tag ein Bad nehmen, sich an hygienische und allgemeine Vorschriften und Rituale halten. Je höher die Schicht, desto schwieriger das Leben, je niedriger die Schicht, desto einfacher. Die eigene Natur, Swarupa, bestimmt die Kaste, Varna, und Swadharma, die eigenen Aufgaben. So steht es in den Schriften. Unabhängig davon lässt sich aber nicht leugnen, dass die Hellhäutigen die höheren Kasten stellen. Es könnte sein, dass man das ursprüngliche Kastensystem später modifiziert und die höheren Kasten den Herrschenden zuerkannt hat.

Einteilung der indischen Schriften     Zurück zum Anhang

Als die Menschen ursprünglich die Schriften geschaffen haben, haben sie sich natürlich nicht an irgendwelchen Kriterien orientiert. Alle Einteilungen sind erst nachträglich entstanden, als man sich später überlegt hat, wie man die Schriften logisch aufgliedern könnte. Die Einteilungen sind auch in verschiedenen Schulen unterschiedlich.

Die indischen Hauptschriften gliedern sich in vier Teile:

1. Die Veden
2. Die Smritis
3. Die Puranas und Itihasas
4. Die Sutras

Agamas und Tantras
Hatha Yoga Schriften

Die Veden     Zurück zum Anhang

Sie sind die ältesten, ursprünglichen indischen Schriften.

Die Veden werden auch als Shrutis bezeichnet. Shruti heißt wörtlich das Gehörte, wobei damit nicht gemeint ist, dass man es mit den Ohren gehört hat – sondern so, wie wir im Deutschen sagen würden, man hat Gott geschaut. Damit ist nicht gemeint, man hat ihn wirklich gesehen – er hatte zwei Augen und einen Bart -, sondern es bedeutet Schau im Sinne einer Enthüllung, Offenbarung. Shrutis sind das Gehörte, das man als Offenbarung empfangen hat. Von daher stimmt auch die Behauptung nicht, die man manchmal in der westlichen Theologie findet, wonach nur Judentum, Christentum und Islam die großen Offenbarungsreligionen sind, neben denen es nur noch die Primitivreligionen gibt.

Veda heißt Wissen – Wissen, das den Rishis, den Sehern, enthüllt, offenbart worden ist. Es heißt, das gesamte Wissen der Menschheit sei in den Veden enthalten. Brahma, der Schöpfer, soll vor der Erschaffung der Welt erst die Veden geschaffen haben. Natürlich hat er sie nicht zuerst aufgeschrieben – wo und wie hätte er sie auch aufschreiben sollen! – aber Veda als das Wissen um die Gesetze des Universums braucht man zuerst, um anschließend die Welt zu erschaffen. Und aus welchem Material hat er sie geschaffen? Er hat Tapas (Askese) geübt, daraus Energie gewonnen und mit dieser Energie und seinen Gedanken die Welt geschaffen. Das ist einer der vielen Schöpfungsmythen, die man in Indien findet.

Die Veden sind Sammlungen einzelner Enthüllungen, die verschiedenen Rishis gemacht wurden, von ihnen an seine Schüler weitergegeben und von Vyasa gesammelt und aufgeschrieben wurden. Zusammengefasst würden sie viele Bände ausmachen. Diese Schriftensammlung ist in vier Hauptteile gegliedert:

1. Rigveda
2. Samaveda
3. Yajurveda
4. Atharvaveda

Man kann nicht so genau sagen, was das Hauptthema jedes Veda ist. Man liest zwar manchmal, Rig behandle die Schöpfung, Sama die Musik, Yajur die Opferzeremonien und Atharva magische Praktiken, aber so ganz stimmt das nicht. Sie unterscheiden sich letztlich in der Melodie, mit der sie gesungen werden. Rigveda ist eine bestimmte Singweise, Samaveda ist eine ganz andere und Yajur und Atharva jeweils wieder eine andere.

Jeder dieser vier Hauptveden besteht wiederum aus vier Teilen:

a) Samhitas
b) Aranyakas      Karma Kanda
c) Brahmanas
d) Upanishaden     Jnana Kanda

Die Samhitas sind die Hymnen oder Mantras. Das ist der wichtigste Teil vom mythologischen Gesichtspunkt her. Bei einer Puja (Opferzeremonie) oder Yajna (Feuerritual) rezitiert man Samhitas. Die Aranyakas geben Erklärungen und Erläuterungen dazu. Die Brahmanas beschreiben die rituelle Anwendung und die genaue Ausführung der Rituale. Alle drei zusammen bilden den Karma Kanda-Teil der Veden, wobei Karma hier im Sinn von Ritual zu verstehen ist, nicht als Handlung. Karma Kanda ist der Teil der Veden, der sich mit Ritualen beschäftigt.

Die Upanishaden bilden den Jnana Kanda, den Teil, bei dem es um Wissen und Weisheit geht. Sie stellen den metaphysischen, philosophischen Abschnitt der Veden dar, in dem grundlegende Fragen behandelt werden wie „Wer bin ich, woher komme ich, wohin gehe ich, was ist der Sinn des Ganzen, wie erlange ich Befreiung?“. Sie sind der für den Yoga wichtigste Teil mit den Grundlagen des Jnana Yoga.

Die Smritis     Zurück zum Anhang

Man nimmt an, dass die Smritis um 1200 v.Chr. bis 500 v.Chr. geschrieben wurden. Allerdings findet man auch andere Jahreszahlen. Die Zeitangaben differieren in Büchern und Artikeln über Orientalistik um ein paar Jahrhunderte.

Smriti heißt wörtlich Erinnerung. Die Smritis sind die Gesetzbücher, die Umsetzung der Shrutis, der Weisheit der Veden, in Regeln und Gesetze und deren Anwendung im täglichen Leben. Shrutis sind die ewige Wahrheit, das, was immer bleibt; Smritis sind veränderlich.

Es gibt sehr viele verschiedene Smritis. Sie ändern sich auch je nach den gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, kulturellen Umständen der Zeit. Ursprünglich waren es sehr kluge gesellschaftliche Regeln für das Zusammenleben von Menschen aus verschiedenen Kulturen, Religionen, Kasten, Generationen. Im Laufe der Zeit sind sie immer mehr verkrustet und es gab mehr und mehr Vorschriften. Das erleben wir ja auch bei uns. Jedes Jahr verdoppelt sich die Menge an Gesetzen.

Man kann praktisch nichts mehr machen, ohne irgendein Gesetz zu übertreten – vorausgesetzt, man kennt es überhaupt. Wenn man sich vorstellt, das geht noch zwei- oder dreihundert Jahre so weiter… Und so ähnlich haben sich auch die Smritis entwickelt. Die Verkrustungen wurden aber auch ab und zu wieder aufgerissen, sie wurden überarbeitet und neu geschrieben. Ein paar Jahrhunderte nach Christus hat das Aktualisieren und Anpassen der Smritis ausgesetzt. Daraus resultiert manche Unschönheit der hinduistischen Gesellschaft. Die großen Yogis der Gegenwart sagen, es müsste einen neuen Manu geben, also einen neuen Gesetzgeber, der Regeln vorgibt, wie man diese klassische Spiritualität in das praktische Leben integrieren kann, wie eine ideale Gesellschaft beschaffen sein müsste, die religiös, spirituell, orientiert ist und trotzdem auch den Nicht-Spirituellen gerecht wird. Das ist ja das große Kunststück dabei.

Die alten Smritis, in denen zum Beispiel die vier Ashramas (Lebensstadien) und die vier Varnas (Kasten) idealtypisch beschrieben sind, sind durchaus kunstvoll und faszinierend.

Im übertragenen, weiteren Sinne ist Shruti das Unveränderliche und Smriti allgemein die Anpassung an das tägliche Leben. Auch im Yoga muss man immer wieder überlegen, was ist das Unveränderliche, Ursprüngliche und was ist eher zeit- und kulturbedingt. Und da sind die indischen Yogalehrer, die in den Westen kommen, durchaus unterschiedlicher Meinung. Kein wirklich authentischer Yogi würde wohl behaupten, Yoga bestehe nur aus ein paar Entspannungsübungen. Aber manche sagen, es gehe im Yoga nur um die Transformation des Bewusstseins, mit dem Ziel, zur Einheit zu kommen. Wie wir das erreichen, sei unwesentlich und weder Mantrasingen noch Vegetarismus seien dafür notwendig. Bei Yoga Vidya haben wir einen eher klassischen Standpunkt. Mantrasingen, Vegetarismus und die Philosophie der Reinkarnation gehören bei uns zum ganzheitlichen Yoga dazu. Letztendlich muss jeder für sich zu einer Entscheidung kommen, wo er keine Kompromisse machen darf und wo Kompromisse nötig sind, um die Prinzipien im praktischen Leben überhaupt umsetzen zu können.

Also Shruti, die hohe Wahrheit und Smriti, die praktische Umsetzung.

Die Puranas und Itihasas     Zurück zum Anhang

Die Puranas sind Göttergeschichten. Die Itihasas sind die sogenannten Heldenepen, wo zwar auch Götter eine Rolle spielen, es aber in der Hauptsache um Menschen geht, ähnlich wie in den griechischen Götter- und Heldensagen. Im ersten Teil spielen die Götter die Hauptrolle, im späteren Teil, in der Odyssee und Äneis, die Menschen.

Die bekannteste der Puranas ist die Bhagavatam, welche für die Hare Krishna-Bewegung eine besondere Bedeutung hat, aber nicht nur für sie. Swami Vishnu hat sie auch gerne gelesen. Sie erzählt Geschichten von Vishnu und Krishna. Die bekanntesten Itihasas sind das Ramayana und das Mahabharata.

Puranas und Itihasas waren für das „gemeine Volk“ bestimmt. Die Shrutis und Smritis waren den Brahmanen vorbehalten, die zwölf Jahre studiert hatten. Ähnlich wie auch das BGB (Bürgerliches-Gesetz-Buch) und das HGB (Handels-Gesetz-Buch) mehr für die Juristen ist, auch die Straßenverkehrsordnung, während das „gewöhnliche Volk“ im Theorieunterricht einen Teil davon lernt.

So ähnlich muss man es hier auch sehen. Puranas und Itihasas erklären die spirituellen Prinzipien auf einfache Weise. Denn die Menschen haben immer schon lieber Romane gelesen als philosophische Abhandlungen und sehen heute lieber Liebesfilme und Krimis als Videos über spirituelle Themen oder absolute Wahrheiten. Die zwei Dinge, die den Menschen schon immer am meisten fasziniert haben, sind Sex und Gewalt, Liebe und Krieg. Daher sind die Puranas und Itihasas voll von Liebesgeschichten, kriegerischen Eroberungen und menschlichen Dramen. Aber dazwischen ist die spirituelle Botschaft verpackt. Ab und zu trifft jemand einen Weisen, fragt ihn etwas und der Weise antwortet. Es darf dann zwar nicht zu lange dauern, sonst schalten die Menschen wieder ab, aber es kann wie in der Bhagavad Gita durchaus achthundert Verse umfassen. Die Bhagavad Gita ist ja Teil der Itihasas.

Nach der Theorie westlicher Orientalisten sollen die Puranas und Itihasas ein paar hundert Jahre vor Christus geschrieben worden sein, wobei schon das drawidische Gedankengut eingeflossen ist, so dass die alten vedischen Götter wie Indra, Varuna und Agni nicht mehr so vertreten waren. Man hat sie mehr als Engelswesen angesehen. Dafür wurden die neuen Götter wie Brahma, Vishnu, Shiva, Durga, Lakshmi, die noch älter waren, wieder bedeutender.

Seit dieser Zeit kann man in Indien drei hauptsächliche religiöse Strömungen unterscheiden. Wie im Christentum die Hauptströmungen Katholizismus, orthodoxe Christen und evangelische Christen, gibt es im Hinduismus mehrere religiöse Hauptrichtungen:

· Die Shaivas
· Die Vaishnavas
· Die Shaktas = Tantriker

Die Shaivas verehren besonders Shiva, die Vaishnavas Vishnu als höchsten Gott und die Shaktas Shakti Devi, die Göttin als kosmische Mutter. Sie werden auch als Tantriker bezeichnet.

Von diesen Richtungen gibt es jeweils noch zahlreiche Untergliederungen. Manche Shaktas verehren Durga besonders oder Lakshmi oder Kali. Aber mehr oder weniger werden alle miteinander gleichgesetzt; es sind einfach Manifestationen der gleichen Shakti.

Auch manche Puranas sind mehr auf einen Aspekt der Gottheit ausgerichtet. Es gibt zum Beispiel Shiva Puranas, Vishnu Puranas (die Bhagavatapurana, kurz Bhagavatam genannt) und die Shakti Puranas. Alle Unterströmungen haben ihre eigene Kultur, Riten, Religionen, Tempel und so weiter.

Letztlich kann man sagen, dem indischen Kastenwesen liegt eine multikulturelle Gesellschaft zugrunde, wobei jede Kaste ihre eigene Weise der Verehrung hat. Jede Kaste organisiert sich selbst, regiert sich selbst, und das in ganz unterschiedlicher Weise. Manche sind demokratisch, bei manchen ist die Herrschaft über die Gemeinschaft eher erblich, bei anderen durch Los bestimmt. Wir kennen im Westen oft nur die vier Hauptkasten: Brahmanen, Kshatriyas, Vaishyas und Shudras. Von größerer Bedeutung ist aber die Unterkaste in einer Gemeinschaft. Es gibt Tausende solcher Unterkasten. Damit das Zusammenleben klappt, muss alles geregelt sein und jede Unterkaste hat eine bestimmte Aufgabe in der gesamten Gesellschaft. Die Unterkaste ist oft mit einem oder einigen ausgewählten Berufen gekoppelt, die dann vererbt werden. Man heiratet normalerweise nur innerhalb seiner Kaste oder es gibt bestimmte Kasten, in die man auch noch hineinheiraten kann. Jede Kaste hat ihre religiösen Riten, die selbst oder von Priestern ausgeführt werden. Damit diese Selbstorganisation funktioniert, schuf man höhere und niedrige Kasten mit der zusätzlichen Zuteilung zu den vier Hauptkasten. Je nach Macht und Einfluss konnte sich die Rangordnung der Unterkasten auch wieder ändern.

Yoga war in Indien immer religionsübergreifend. Yoga ist die Mystik hinter der Religion, wenn man das Göttliche nicht nur glauben, sondern wirklich erfahren will. Man geht nicht nur einfach in den Tempel, nimmt das Prasad (gesegnete Nahrung) oder macht ein paar Riten, um etwas Bestimmtes zu bekommen, so wie Menschen in die Kirche gehen  und Kerzen opfern für einen besonderen Wunsch. Oder man macht eine Art Handel mit Gott, wie das zu meiner Kindheit üblich war:

Wenn ich in der Klassenarbeit eine Eins schreibe, opfere ich fünf Mark oder helfe meiner Mutter eine Woche beim Abwaschen oder so etwas Ähnliches. Heute kommt das wohl etwas aus der Mode. Leider, denn es ist eine frühkindliche Form von Glauben und Spiritualität, die gerade dann, wenn es auch tatsächlich klappt, einen Menschen irgendwie auf die erste Stufe des Glaubens setzt. Wenn es nicht funktioniert, kann man allerdings vielleicht schon als Kind zum Atheist werden… Jetzt hat man Gott schon fünf Mark versprochen und trotzdem hat man eine Sechs in der Klassenarbeit geschrieben – das verzeiht man Gott nicht so schnell! Solche Dinge sind auch in Indien üblich. Aber Yoga umfasst eben die Techniken in all diesen verschiedenen Traditionen, die dazu verhelfen wollen, das Göttliche selbst direkt zu erfahren und zu einer authentischen spirituellen Entwicklung zu kommen.

Die vier orthodoxen Hauptschriften – die Veden bzw. Shrutis, Smritis, Puranas und Itihasas – werden von allen Hindus als Autorität anerkannt.

Für den Yoga von besonderer Bedeutung sind die Upanishaden, die Quintessenz der Veden, und von den Itihasas die Bhagavad Gita als Teil des Mahabharata.

Sutras     Zurück zum Anhang

Daneben gibt es zahlreiche spätere, nicht-orthodoxe Schriften, die sich jeweils nur auf ein Teilgebiet oder eine bestimmte Glaubensrichtung beziehen und nicht von allen Hindus anerkannt werden. Dazu gehören zum Beispiel die Sutras. Eine Sutra ist ein Leitfaden und die kürzeste Weise, etwas auszudrücken, während Puranas und Itihasas die längstmögliche Weise sind, etwas auszudrücken. Das Mahabharata ist bis heute das längste Epos der Weltliteratur. Alle deutschen oder englischen Ausgaben sind nur Zusammenfassungen. Das Original ist für unseren heutigen schnellebigen Geist auch etwas zu langatmig.

Für den Yoga von größter Bedeutung sind Yoga Sutras von Patanjali über den Raja Yoga und die Brahma Sutras über das Jnana Yoga. Daneben gibt es noch sehr viel mehr Sutras über verschiedenste Bereiche.

Agamas und Tantras     Zurück zum Anhang

Das Wort Tantra hat eine vielfältige Bedeutung. Zum einen bezeichnet Tantra neben dem Shaivismus und dem Vaishnavismus eine der drei Hauptreligionsrichtungen Indiens. Zum zweiten ist Tantra ein bestimmtes Philosophiesystem, nämlich die Shiva-Shakti-Philosophie. Und zum dritten ist Tantra der Name für einen bestimmten Schrifttyp, die Agamas, die jeweils nur einer Tradition zugeordnet sind. Es gibt Vishnu Agamas, Shiva Agamas und Shakti Agamas, wobei die Shakti Agamas als Tantra bezeichnet werden.

Diese Tantras haben wieder eine besondere Bedeutung fürs Yoga, denn die Hatha Yoga-Schriften und auch die Mantra Shastras sind ein Teil davon.

Hatha Yoga Schriften     Zurück zum Anhang

Es gibt vier Hauptschriften des Hatha Yoga:

1. Hatha Yoga Pradipika
2. Geranda Samhita
3. Shiva Samhita
4. Goraksha Sadhaka

In diesen Schriften sind die Mudras (Handstellungen) beschrieben, die Bandhas (Energieverschlüße) , die Asanas (Körperübungen), alle Konzentrationstechniken, die Kriyas (Reinigungen) und die Hatha Yoga-Meditationstechniken, zum Teil Theorie über Kundalini Yoga, über Chakras, Nadis (Energiekanäle).
Die sechs indischen Philosophiesysteme     Zurück zum Anhang

Die sechs Philosophiesysteme werden auch als Darshanas bezeichnet. Darshan heißt wörtlich Sichtweise. Man könnte es auch durchaus mit Weltanschauung übersetzen. Aber es ist eine Sichtweise, es ist nicht die absolute Wahrheit.

Jedes Philosophiesystem ist nur ein Versuch, die Wahrheit zu beschreiben. Eigentlich kann man die Wahrheit nicht in Worte fassen. Sie kann nur direkt erfahren werden. Wenn man sie erfahren hat und anderen vermitteln will, muss man erneut Worte oder Bilder gebrauchen, was wiederum begrenzend ist. Daher gibt es auch sechs Darshanas mit unterschiedlichen Standpunkten, die jedoch aus indischer Sicht keine Widersprüche sind, sondern nur verschiedene Sichtweisen der gleichen Wirklichkeit.

Jedes Darshana ist ein Philosophiesystem, das versucht, Antworten zu geben auf die großen Fragen: Was ist die Welt? Woher kommt die Welt? Was ist der Mensch? Was ist Glück? Gibt es Gott? Was ist Gott? Was ist Leid? Was ist das Ziel des Lebens? Und wie kommt man dorthin? Wie kommt man zur Befreiung?

Dies sechs Darshanas     Zurück zum Anhang

1. Purva Mimamsa
2. Vaisheshika
3. Nyaya
4. Samkhya
5. Yoga (bezogen auf Patanjali)
6. Uttara Mimamsa = Vedanta

Purva Mimamsa     Zurück zum Anhang

Purva Mimamsa ist eine theistische Philosophie. Gott hat die Welt geschaffen. Das Ziel des Lebens ist es, in den Himmel zu kommen. Zu vermeiden gilt es, in die Hölle zu kommen. Um in den Himmel zu kommen, muss man Punyas ansammeln, Verdienste, und Papas, Sünden, vermeiden. Durch Papas zieht man erstens schlechtes Karma auf sich, zweitens kommt man in die Hölle und drittens wird man im nächsten Leben sehr schlecht wiedergeboren. Wenn man dagegen Punyas sammelt, erwirbt man künftiges Vergnügen, kommt in den Himmel und das nächste Leben ist umso besser. Diese Philosophie ist in Indien wohl am verbreitetsten.

Sie ist etwas differenzierter als die christliche Himmel- und Hölle-Philosophie, wo man auf ewig in die Hölle oder in den Himmel kommt, wobei es eigentlich keinen Sinn macht, dass ein Leben von durchschnittlich 70 oder oft auch weniger Jahren darüber bestimmen soll, dass man Trillionen von Jahren in der Hölle braten soll. Könnte so etwas ein liebender Gott wollen? – Das kann wohl nicht sein.

Man muss natürlich wissen, dass die Christen früher geglaubt haben, dass die Welt erst ein paar tausend Jahre existiert und bald untergehen würde.  So gesehen dauert die Ewigkeit auch gar nicht so lange.

Aber die Inder sind schon immer davon ausgegangen, dass es Trillionen von Trillionen von Trillionen von Leben gibt, und da ist die Ewigkeit schon sehr lange.

Purva Mimamsa beschreibt sowohl positive als auch negative Handlungen im täglichen Leben und beinhaltet auch ethische Gesichtspunkte. Wenn man anderen hilft, ist es Punya, wenn man andere schädigt, ist es Papa. Darüber hinaus gibt es alle möglichen Reinheitsvorschriften. Beachtet man sie, gibt es Punya, andernfalls Papa. Daneben gibt es einige Handlungen, die man unbedingt ausführen muss und die weder Punya noch Papa sind; unterlässt man sie jedoch, dann gibt es Papa. Führt man sie hingegen verstärkt aus, gibt es Punya.

Aber es bezieht sich auch noch auf etwas anderes. Wenn man etwas Bestimmtes erreichen will, kann man vorgeschriebene Rituale dafür machen. Angenommen, man will reich werden -, gut, eine Möglichkeit wäre, fleißig zu arbeiten -,  die andere, bestimmte Rituale dafür zu machen. Dabei würde man Lakshmi auf eine bestimmte Weise verehren, eine Yajna (Opferzeremonie), Tapas (Askeseübungen) und so weiter machen, dann wird Lakshmi einen segnen und man wird reich.

Oder angenommen man will ein Kind haben, dann muss man bestimmte Pilgerreisen machen, vorgeschriebene Mantras wiederholen, den Brahmanen eine gewisse Anzahl Kühe schenken, Almosen oder Hospitäler für Arme stiften. Wenn man das auf richtige Weise macht, bekommt man das Kind.

Oder man will heiraten und findet keinen passenden Partner oder der Mann, den man gerne haben will, ist schon vergeben oder möchte nicht oder die Familie weigert sich, dann gibt es bestimmte Rituale, den Mann in sich verliebt zu machen, alle Hindernisse verschwinden zu lassen und schließlich die Heirat herbeizuführen.

Wenn man schlechte Taten vollbracht hat und nach einiger Zeit von Gewissenskonflikten geplagt wird, gibt es bestimmte Bußübungen, die je nachdem, um welche Tat es sich handelt, ganz genau vorgeschrieben und auch recht drastisch sind. Es kann sein, dass man zwei Jahre in die Einöde gehen und 12 Stunden am Tag Askeseübungen machen muss. Oder man muss sein ganzes Vermögen den Armen zur Verfügung stellen oder sich vier Jahre als Diener im Tempel verdingen. In gewisser Hinsicht ist das durchaus eine kluge Weise, mit Schuld umzugehen, wenn man die Tat wirklich bereut.

Aber es kann auch zu Scheinheiligkeit und Berechnung führen, dann nämlich, wenn wir es bewusst in Kauf nehmen, etwas Unrichtiges zu tun, Nutzen davon haben und anschließend einfach ein paar Bußübungen machen, um kein schlechtes Karma zu bekommen.

Diese Praxis hat Ähnlichkeit mit bestimmten Formen des katholischen Christentums, wobei die Bußen dort relativ harmlos waren, und am Schluss werden einem die Sünden vergeben.

In der Bhagavad Gita liest man oft von Papa, Sünden. Gerade im ersten Kapitel spricht Arjuna davon, denn er hat große Angst, Sünden auf sich zu laden. Und Krishna sagt zum Schluss:

Sarvadarmam parityaja
Mam ekam sharanam vraja
Aham twa sarvapapebhyo
Mokshaishyami ma suksha

Papa ebhyo = ich befreie dich von allen Sünden, sorge dich nicht

Krishna wendet sich in der Bhagavad Gita anfangs noch recht diplomatisch, später ganz entschieden gegen diese Philosophie, während Arjuna ihr zunächst anhängt. Wörtlich sagt er: „Blumige Worte finden die Weisen, die an den rühmenden Worten der Veden Gefallen finden, oh Arjuna, und sagen, es gibt nichts anderes. Sie sind voller Wünsche. Der Himmel ist ihr Ziel und das Ergebnis ihres Tuns ist neuerliche Geburt. Sie schreiben verschiedene Methoden mit einer Überfülle von bestimmten Handlungen vor, um Vergnügen und Macht zu erlangen. In Menschen, die an Vergnügen und Macht hängen und deren Geist durch solche Lehren gelenkt wird, bildet sich nicht diese Bestimmtheit, die stets auf Meditation und Samadhi ausgerichtet ist.“

Letztlich mag es sein, dass die Mimamsa-Philosophie bestimmten Naturgesetzen folgt, aber laut Krishna geht es ihren Anhängern nicht wirklich darum, die Selbstverwirklichung zu erreichen. Sie kommen zwar in den Himmel, erreichen vielleicht Macht und Vergnügen, aber es führt nicht zur Befreiung, sondern in die Verhaftung hinein. Man hat ja nichts davon, wenn man reich wird. Ob wir nun reich werden, indem wir vierzehn Stunden am Tag arbeiten, sieben Tagen in der Woche ohne Pause oder ob wir dafür Rituale machen, das Ergebnis ist das gleiche, nämlich Bindung.

Trotzdem, das Purva Mimamsa-System hat durchaus auch seine Funktion. Es erklärt bestimmte Funktionsweisen von Karma wie Ursache und Wirkung und Kompensation. Und die verschiedenen Sühnerituale und Vorschriften können für die Mehrheit der Menschen, die sich unter Befreiung nichts vorstellen können, eine gute Motivation für ein ethisches Leben darstellen und helfen, mit schwierigen menschlichen Problemen wie Schuld und Sühne, Gerechtigkeit, Ärger, usw., besser umzugehen und fertig zu werden.

Ein paar Sachen könnte man auch durchaus in den Yoga integrieren. Es ist sicher sinnvoll, irgendwie Buße zu tun, wenn man eine schlechte Handlung begangen hat – am besten natürlich gegenüber dem betroffenen Menschen. Man kann sich entschuldigen und versuchen, die Sache wieder gut zu machen. Manchmal ist das nicht möglich, entweder weil der Mensch so böse ist, dass er einem nicht erlaubt, etwas zu tun oder weil er nicht in der Nähe ist und man nichts mehr mit ihm zu tun hat. Dann kann man stattdessen irgendeine Sühneübung dafür machen.

Und auch in Bezug auf das Karma können wir von der Mimamsa Philosophie lernen. Solange wir noch nicht so weit sind, vollständig egofrei zu handeln, können wir uns wenigstens zu guten Handlungen motivieren, indem wir uns sagen, Schlechtes kommt nur auf uns zurück. Und umgekehrt lernen wir auch, nicht an anderen Rache zu üben. Im Alten Testament heißt es: „Mein ist die Rache, spricht der Herr“. Jemand, der eine schlechte Handlung ausführt, richtet sich selbst zugrunde. So wie Jesus auch in einem der Evangelien sagt: „Es muss ja Übles kommen, aber wehe dem, durch den es kommt!“

Wir müssen unser Karma ernten. Wer uns gegenüber schlecht handelt, ist für uns zwar ein Diener des Karmas, aber er selbst wird darunter leiden müssen, wenn er es bewusst macht. Nicht umsonst sagt Jesus noch am Kreuz: „Vater, vergib ihnen, sie wissen nicht, was sie tun“. Denn er wusste, für ihn war es vorbestimmt, so zu sterben und er hat es auf sich genommen. Aber für die anderen, die ihn ans Kreuz nageln, bringt es schlechtes Karma mit sich. Wir sollten Mitleid mit denjenigen haben, die uns bestehlen oder ungerecht behandeln. Sie richten sich selbst zugrunde und schaffen sich ihr eigenes Leiden. Uns geben sie Gelegenheit zu wachsen und sind das Werkzeug dafür, dass wir unser eigenes Karma ausarbeiten können. Wenn man das verstanden hat, gewinnt man auch eine gewisse Gelassenheit.

Ich muss zugeben, in meinem Leben gab es eigentlich nie Menschen, die sich mir gegenüber besonders bösartig benommen hätten. Aber es gab schon mal jemanden, der mich hinterrücks schlecht gemacht und angeschwärzt hat, was auch Konsequenzen für mich hatte. Im ersten Augenblick war ich natürlich schon ein bisschen ärgerlich, aber ich habe auch intuitiv geahnt, dass auf ihn nichts Gutes zukommen wird. Und es hat sich sehr schnell auf ihn ausgewirkt, ungefähr ein halbes Jahr später, und für ihn zu einer ernsthaften Krise geführt. Manchmal geht Karma sehr schnell. Manchmal braucht es auch ein, zwei oder drei Leben dazwischen. Dann sind eben die Wirkungszusammenhänge nicht so schnell zu erkennen. Auf dieser Ebene kann einem die Purva Mimamsa-Philosophie durchaus behilflich sein.

Aber vergessen wir nicht die Kritik, die Krishna übt: „Allein danach zu handeln, führt uns nicht weiter.“ Und erinnern wir uns auch daran, was Patanjali gesagt hat: Für den weltlichen Menschen ist Karma dreifach, weiß, schwarz und grau. Für den spirituellen Menschen ist es nichts davon. Für ihn gibt es einfach nur Aufgaben, die zu erledigen sind. Es gibt weder Gutes und noch Schlechtes, es gibt kein Karma, über das wir uns freuen oder über das wir uns zu ärgern brauchen und es gibt auch keine Handlung, die wir ausführen, damit es uns im späteren Leben gut geht, sondern wir tun alles für andere Menschen oder als Diener Gottes.

Vaisheshika     Zurück zum Anhang

Vaisheshika ist ein materialistisches Philosophiesystem, welches das Universum als ein Zusammenspiel von Atomen, Kräften und Naturgesetzen ansieht und auf logischem, eindeutigem, naturwissenschaftlichem Denken beruht.  Danach besteht die Welt aus sogenannten Anus, Atomen, und verschiedenen Kräften, den Shaktis oder Energien.

Von dieser Philosophie gibt es mehrere Richtungen. Die extremste sagt, es gibt nur Materie. Auch die Seele ist ein Ausfluss der Materie. Lebensziel ist es, sich zu vergnügen, wobei man die Rechte der anderen achten und ihnen nicht schaden sollte, damit die Gesellschaft als Ganzes funktioniert. Höheres Ziel gibt es keines. Leiden ist, wenn man körperliche Schäden oder Krankheiten hat, seine Wünsche nicht befriedigen kann oder mit anderen Meinungsverschiedenheiten hat.

Auf dieser Ebene arbeiten weite Teile unserer materialistisch orientierten Wissenschaft, obgleich beispielsweise die Physik in letzter Zeit davon abgekommen ist, weil eben die physikalischen Gesetze letztendlich doch nicht so funktionieren. Trotzdem bleiben die meisten anderen Wissenschaftszweige weitgehend in diesem rein logischen Denken, insbesondere solche, bei denen es eigentlich nichts zu suchen hätte, wie die Medizin und Psychologie, die den Organismus rein materiell auffassen und alle anderen Gesichtspunkte vernachlässigen.

Dennoch hat die Vaisheshika-Philosophie durchaus auch ihren Platz, zum Beispiel in der Anatomie, beim praktischen Handeln im Alltagsleben oder bei den Hatha-Yoga-Übungen und ihren Wirkungen. Man darf die Naturwissenschaft nicht einfach außer Acht lassen. Auch als spiritueller Mensch sollte man das logische Denken nicht nur auf die Unterscheidungskraft zwischen dem Wirklichen und Unwirklichen beschränken, sondern sie auch im täglichen Leben einsetzen, zum Beispiel, um eine Leiter zum Dachboden zu bauen oder den Computer zu reparieren. Jemand hat mir mal gesagt, mit logischem Denken könne man fast alle handwerklichen und technischen Probleme lösen. Das war irgendwie ein Augenöffner für mich. Früher hatte ich nämlich immer großen Respekt vor solchen Sachen.

Zum Beispiel stellte ich in Frankfurt fest, dass in Deutschland keine Lampen installiert sind, wenn man eine Wohnung bezieht und da saß ich nun: Von den Decken hingen immer drei Drähte herunter – warum eigentlich drei? In der Schule hatte ich immer nur von Plus- und Minuspol oder Phase und Null gehört, aber was mit dem dritten sein sollte … – gut, aber mit Versuch und Irrtum und logischem Schluss habe ich dann tatsächlich alle Lampen installiert gebracht. Also Vaisheshika, logisches Denken, ist auch hilfreich, sowohl für die Gesundheit als auch im praktischen und beruflichen Leben. Wenn man Erfolg im Beruf haben will, sollte man sich nicht nur darauf beschränken, Lakshmi zu verehren, sondern auch lernen, mit den notwendigen Instrumenten umzugehen, um seine Arbeit gut ausführen zu können.

 Nyaya     Zurück zum Anhang

Unter dem Begriff Nyaya sind zwei Philosophiesysteme zusammengefasst, so dass es eigentlich sinnvoller wäre, von sieben statt von sechs Philosophiesystemen zu sprechen.

Eine Variante von Nyaya ist das Philosophiesystem der Logik mit bestimmten logischen Sätzen wie Schlussfolgerungen, Dialektik, usw., ähnlich der Logik des Aristoteles. Man könnte sie auch als eine Unterphilosophie der Vaisheshika-Philosophie bezeichnen, eine materialistisch-rationale Philosophie.

Die zweite Variante von Nyaya ist eine stark Bhakti-orientierte, ausgesprochen dualistische Philosophie der Hingabe. Gott hat die Welt geschaffen, durchdringt sie ganz und macht alles. Gott und Mensch sind auf ewig getrennt. Der Mensch ist in seinem wahren Wesen eine Seele, die niemals eins werden kann mit Gott. Ursache des Leidens ist die Entfernung und Trennung von Gott. Ziel des Lebens ist es, Gott möglichst nahe zu kommen. Der Weg dazu ist bedingungslose Hingabe. Um diese Hingabe zu erzeugen, gibt es zahlreiche spirituelle Praktiken.

Das entspricht durchaus einer auch im Christentum verbreiteten Sichtweise.

Die Hare-Krishna-Bewegung, die auch im Westen recht bekannt geworden ist, beruht auf dieser Philosophie.

Bhakti hat im Yoga natürlich auch einen großen Stellenwert, gerade um das Ego zu überwinden und Hingabe zu üben. Man kann öfter versuchen zu spüren, oh Gott, dein Wille geschehe, du machst alles, ich allein kann nichts bewirken.

Samkhya     Zurück zum Anhang

Samkhya ist eine dualistische und atheistische Philosophie, in der eine ewige Dualität zwischen Purusha (dem höchsten Wesen) und Prakriti (Natur) postuliert wird und Gott nicht vorkommt.
Purusha verhält sich zwar wie Gott, wird aber einfach als Bewusstsein bezeichnet.
Purusha ist das Bewusstsein, die Seele, Prakriti ist die Welt. Purusha im Samkhya entspricht Brahman im Vedanta oder Shiva im Tantra. Prakriti entspricht Maya im Vedanta und Shakti im Tantra.

Purusha und Prakriti waren von Anfang an und sind auf ewig getrennt, aber ursprünglich war Purusha in sich selbst zufrieden. Es gab nur eine allumfassende, undifferenzierte Prakriti, eine homogene unmanifestierte Mischung aus Sattwa, Rajas und Tamas in vollkommenem Gleichgewicht. Solange die drei Gunas (Grundeigenschaften der Natur) in vollkommenem Gleichgewicht sind, gibt es keine Schöpfung.

Nun ist Purusha aus unerfindlichen Gründen nicht mehr in sich selbst zufrieden, sondern sendet die Strahlen seines Bewusstseins in die Prakriti hinein, um die Welt zu erleben. Und in dem Moment fängt Prakriti an, sich zu verändern, aktiv zu werden, und der Schöpfungsprozess kommt in Gang:

Purusha

Sattwa (Kausalwelt)
Prakriti  Rajas (höhere, mittlere, untere Astralwelt)
Tamas (Physische Welt)

Spandana

Parinama

Das ganze Universum besteht nur aus Sattwa, Rajas und Tamas. Die erste Vibration ist Spandana, die Urschwingung, durch die Sattwa, Rajas und Tamas durcheinandergebracht werden und es entsteht Parinama, ständige Veränderung. Obgleich Prakriti ewig von Purusha getrennt ist, ist sie Purusha untergeordnet. Nur weil Purusha Prakriti erfahren will, bewegt sich Prakriti. Aber wenn sie einmal in Bewegung versetzt ist, entspricht es ihrer Natur, sich ständig zu bewegen. Dann entstehen die drei Grundwelten aus Sattwa, Rajas und Tamas. Das kosmische Satttwa wird zum Mahat, zum kosmischen Geist, zum kosmischen Ego, aus dem zahlreiche kleine Chittas (Gemüter) entstehen. Rajas ist die Aufsplitterung der Welt und das kosmische Tamas wird zur physischen Welt.

Die sattwigste Welt ist die Kausalwelt, die rajasigste die Astralwelt, die tamasigste die physische Welt. Alles in dieser Welt ist nur eine unterschiedliche Zusammensetzung von Sattwa, Rajas und Tamas. Überall sind immer alle drei Gunas vorhanden, allerdings in unterschiedlichen Mischungsverhältnissen.

Samkhya heißt wörtlich Aufzählung, Klassifikation. Die Samkhyas klassifizieren alles auf jeder Ebene nach Sattwa, Rajas und Tamas.

Die Astralwelt, die insgesamt relativ rajasig ist, kann man wieder unterteilen in drei Welten: die höhere Astralwelt, die der Vijnanamaya Kosha im Vedanta entspricht, die mittlere Astralwelt, Manomaya Kosha, und die niedere Astralwelt, Pranamaya Kosha. Die höhere Astralwelt hat einen höheren Anteil an Sattwa, die mittlere mehr Rajas und die niederste, welche die Verbindung zur physischen Welt darstellt, die Prana-Ebene, ist die tamasigste davon.

Die mittlere Welt, die rajasige, ist die emotionell-geistige Welt. Und hier unterscheidet man wieder sattwige, rajasige und tamasige Emotionen. Tamasige Emotionen wären zum Beispiel Angst, Traurigkeit, Depression, rajasige Ärger, Wut, Unruhe. Sattwige Gefühle sind Liebe, Mitgefühl, usw.

Nehmen wir zum Beispiel das rajasige Gefühl Ärger. Nun kann man Ärger wieder unterteilen in sattwigen Ärger, rajasigen Ärger und tamasigen Ärger. Tamasiger Ärger ist, wenn man sich über etwas aufregt, das in Wirklichkeit gar nicht so ist, also aus Täuschung heraus. Rajasiger Ärger ist, wenn man sich ärgert, weil man etwas nicht bekommen hat. Sattwiger Ärger wäre gerechter Zorn. Man sieht zum Beispiel, dass jemand ungerecht behandelt wird, ärgert sich darüber und versucht, diesen Missstand abzustellen.

So hilft Samkhya, alle Dinge immer weiter zu klassifizieren.

Samkhya umfasst auch eine Theorie der Wahrnehmung, eine Theorie des Geistes und differenzierte Beschreibungen, wie die Welt und die individuelle Seele entstanden sind. Der philosophisch-theoretische Teil der Yoga Sutras von Patanjali stammt überwiegend aus dem Samkhya-System.

Sehr wichtig im Samkhya ist, alles befindet sich in Veränderung, in Parinama.

Aus Prakriti (Natur) entwickeln sich im Zuge der Aufspaltung lauter individuelle Chittas (Gemüter). Um die Welt wirklich sehen zu können, nimmt Purusha ein individuelles Chitta als Instrument an, denn mit einem kosmischen Gemüt würde er sie nicht ausreichend erleben. Das ist genauso, wie wenn man einen Film anschaut. Man identifiziert sich nie mit dem ganzen Film, sondern mit einer oder zwei Rollen besonders. Und man bangt mit seinem Helden und freut sich, wenn er am Schluss gewinnt. Wenn wir einen Film erleben wollen, müssen wir ihn aus einer bestimmten Perspektive anschauen. Und so macht es auch Purusha. Er identifiziert sich mit jedem dieser individuellen Gemüter und manifestiert sich durch die einzelnen Chittas.  Das Problem ist, dass er dabei in Verhaftung und Identifikation gerät. Das individuelle Asmita, Ich-Gefühl, beginnt, das Mögen und Nichtmögen, die Verstrickung in Verhaftungen. Das ist die Ursache des Leidens.

Das, was er eigentlich in sich selbst hat, nämlich Sein, Wissen und Glückseligkeit, Sat-Chid-Ananda, sucht Purusha nun in der äußeren Welt. Er glaubt, die Dinge in der Welt würden ihm Vergnügen, Ananda schenken, er könne über seinen Geist Erkenntnis, Chid, gewinnen und auf der physischen Ebene Dauerhaftigkeit, Sat, erlangen.

Aber all das ist auf der physischen Ebene nicht möglich, weil sie in ständiger Veränderung ist und nichts gleich bleibt. Das ist ein großes Problem, denn Purusha ist ewig, und deshalb erwartet er auch Beständigkeit auf der physischen Ebene. Wenn der Mensch etwas erreicht hat, will er, dass es auch so bleibt. Aber es ist das Gesetz der Veränderung, Parinama, dass nichts beständig bleibt.

Auch dass die Welt Glück schenkt, ist ein Irrtum. Sie kann höchstens ablenken, aber wirklich Glück schenken tut sie nicht.

Wie kommen wir nun wieder aus diesem Leiden heraus? – Durch Nicht-Identifikation. Wodurch erreichen wir das? – Durch Unterscheidungskraft, Viveka. Wir lernen, Purusha von Prakriti und Sattwa von Purusha zu unterscheiden. Durch immerwährende Unterscheidungskraft, Viveka Kyati, lernen wir, uns nicht mehr mit Prakriti zu identifizieren. Dazu hat Samkhya auch bestimmte Meditationstechniken entwickelt, zum Beispiel Sakshi Bhav: Wir nehmen die Einstellung eines Zeugen an und beobachten alles, was kommt. In dem Masse, in dem wir beobachten, können wir uns auch von der Identifikation lösen. Wir beobachten nur, verändern nichts und stellen fest, ich bin es nicht. Das ist Sakshi Bhav.

Weitere Methoden im Samkhya sind natürlich auch die intellektuelle Unterscheidung und Vairagya, Entsagung, Verzicht auf das Weltliche. Denn je mehr wir in die Welt hineingehen, umso mehr verhaften wir uns.

Eine schöne Darstellung des Samkhya findet man im 2. Kapitel der Raja Yoga Sutras ab dem 18. Vers:

„Das Universum, das durch die Wechselwirkung zwischen den Elementen und den Wahrnehmungen der Sinnesorgane erfahren wird, wird aus Sattwa, Rajas und Tamas zusammengesetzt und existiert einzig zum Zweck der Erfahrung und der Befreiung des Menschen.“

Wir nehmen das Weltall nicht so wahr, wie es wirklich ist, sondern wir nehmen es so wahr, wie es unsere Sinne ins Chitta (Gempüt) geben. Purusha wird sich dann dessen bewusst, was im Chitta ist. Das Chitta ist wie ein Kristall, der die Form und Farbe der äußeren Objekte annimmt.

Purusha will Erfahrungen machen, will die Früchte der Handlungen genießen und will auch wieder zurückkehren. Prakriti hat die Aufgabe, den Menschen – und auch Tieren und allen Wesen – alles zu geben, was sie erfahren wollen. Sie muss dem Menschen alle Wünsche erfüllen, aber die Welt hat auch die Aufgabe, uns wieder zurückzuführen zur Befreiung. Prakriti hilft uns also, die Erfahrungen zu machen, die wir machen wollen und brauchen, aber sie hilft auch, dass wir irgendwann die Zusammenhänge erkennen und uns aus der Verhaftung in die Prakriti lösen.

Denken wir an die Geschichte, wo Indra sich als Schwein inkarniert hat, um einmal volle Sinnesfreuden zu genießen, denn ein Schwein ist nicht durch Ethik oder Moral gebunden.  Anschließend wollte er nicht mehr befreit werden, weil er sich in dieser Identifikation so wohlfühlte. Vorher hat er allerdings seine Untertanen instruiert, dass sie ihn zurückholen sollen, wenn er nicht bis zu einem bestimmten Zeitpunkt zurück ist. Als die Untertanen dann kamen, wollte er aber nicht zurück, sondern sagte, sie sollen ihn in Ruhe lassen. Da haben sie ihn dann so lange gequält, bis er schließlich doch den Schweinekörper verlassen hat.

So ist es mit dieser Welt. Sie erfüllt uns unsere Wünsche, aber nicht alle und auch nicht dauerhaft und zwischendurch schüttelt sie uns durch. Das ist die zweifache Funktion der Prakriti.

„Die Zustände der drei Gunas sind grob, fein, manifest und unmanifest. Der Sehende, Purusha oder Drashtu, ist reines Bewusstsein. Und obwohl er rein ist, scheint er durch Chitta zu sehen, also durch das Gemüt. Die tatsächliche Existenz des Gesehenen ist für den Sehenden da.“

Das Universum ist für den Purusha da.

„Auch wenn sie, Prakriti, für den, der seinen Zweck erfüllt hat, unwirklich wird, fährt sie fort, für andere zu existieren, denn sie ist allen gemein.“

Also, angenommen, wir würden jetzt die Selbstverwirklichung erreichen, dann wäre für uns die Prakriti zu Ende. Auch die Teile der Prakriti, mit denen wir uns besonders identifizieren, der physische Körper, Chitta, das Gemüt mit Prana, lösen sich auf, aber für die anderen existiert die Welt weiter. Solange Purusha noch irgendein Chitta hat, durch das er sich die Welt betrachtet, mit dem er sich identifiziert, solange gibt es die Welt. Erst dann, wenn Purusha sich durch kein Chitta hindurch mehr manifestiert, hört sie auf. Dann existiert Prakriti zwar weiter, aber in unmanifestiertem Zustand, im Gleichgewicht.

Zweck der Verbindung (Samyoga) von Purusha und Prakriti ist, dass Purusha das Bewusstsein seiner wahren Natur erlangt und die Kräfte erkennt, die latent in ihm und in Prakriti liegen. Das ist gemäß der Samkhya-Philosophie der Sinn der Schöpfung.  Wenn wir also nach vielen Äonen von Leiden und Vergnügen, von spirituellen Praktiken, Kopfständen und Mantrasingen schließlich die Verwirklichung erreichen, sind wir zum Schluss irgendwie klüger als vorher. Es ist zwar nicht sehr logisch, aber irgendwie emotionell befriedigend, zu wissen, dass das Ganze einen gewissen Sinn hat. Aber hier setzt natürlich die Kritik der Vedantins (Vedante Schüler) an. Wenn Purusha reines Bewusstsein ist, kann er auch nichts dazulernen. Samkhya macht hier ein paar Abstriche von der Absolutheit des Vedanta, weshalb viele Menschen mit der Samkhya-Philosophie besser zu Rande kommen als mit dem Vedanta.

Dass Prakriti und Purusha zusammenkommen, mag zwar den Sinn haben, dass es Purusha ermöglicht, die Welt zu erfahren. Aber die Ursache dieser Vereinigung ist Avidya, Unwissenheit.

„Durch das Ausmerzen der Unwissenheit schwindet die Verbindung von Purusha und Prakriti und der Sehende ist befreit.“

Also wir müssen die Unwissenheit ausmerzen. Und wie merzen wir die Unwissenheit aus? Durch Viveka Kyati. Das Mittel, Avidya zu zerstören, ist ungebrochenes Unterscheidungsvermögen.

Daher beschränkt sich die Samkhya-Praxis auch auf drei Grundprinzipien: Unterscheidungskraft, Beobachtung, Entsagung.

Auch Krishna nimmt in der Bhagavad Gita relativ häufig Bezug auf den Samkhya.

Yoga     Zurück zum Anhang

Im Rahmen der Darshanas (Philosophiesysteme) versteht man unter Yoga das durch Patanjali bekannt gewordene Yogasystem, das an sich natürlich weiter zurückgeht. Wenn eine Sutra geschrieben wurde, ist das immer ein Zeichen dafür, dass es das System schon Jahrhunderte lang gegeben hat. Es war schon ausgefeilt genug, um es in diese prägnante Form bringen zu können.

Yoga basiert auf der Samkhya-Philosophie, mit ein paar einschneidenden Unterschieden.

Der erste Unterschied ist rein praktischer Art. Laut Samkhya kommen wir über Viveka, Unterscheidungskraft, zur Ruhe des Geistes und zur Befreiung.

Patanjali hat einen etwas anderen Ansatz. Er beginnt gleich am Anfang mit: „Yoga ist das Zur-Ruhe-Bringen der Gedanken im Geist. Dann ruht der Sehende in seinem wahren Wesen.“ Patanjali empfiehlt zwar unter anderem auch, Viveka kyati zu üben, aber es ist nicht seine einzige Methode. Wir müssen irgendwie unseren Geist zur Ruhe bringen. Ist unser Geist ruhig, dann ruht Purusha in sich selbst. Und alles, was uns dazu hilft, den Geist zur Ruhe zu bringen, ist Yoga. Und so übernimmt Patanjali aus den Schriften, den Upanishaden, den Veden, der Mahabharata und anderen Traditionen umfangreiche Übungspraktiken, Abhyasa, die es im Samkhya nicht gibt. Er integriert zusätzlich zu den psychischen auch physische Hatha-Yoga-Praktiken.

Manchmal bezieht sich das Wort Yoga aber auch nicht nur auf das Raja-Yoga-System von Patanjali. Krishna gebraucht den Ausdruck Yoga in der Bhagavad Gita im Sinn von Karma Yoga, dem Yoga des selbstlosen Handelns, in bewusstem Gegensatz zum Samkhya als reinem Jnana Yoga. Anstatt allem zu entsagen wie im Samkhya oder zu handeln, um etwas Konkretes zu erreichen wie im Purva Mimamsa-System, handeln wir im Karma Yoga ohne Wünsche und Verhaftungen und kommen so zur Befreiung. Krishna sagt aber auch, nur die Unweisen sprechen von Samkhya und Yoga als getrennt. Im Grunde genommen führt beides zum Ziel und es hat beides seinen Sinn. Auch im Yoga gibt es Entsagung und auch ein Samkhya-Anhänger muss Handlungen tun ohne Verhaftung. Denn selbst die Aufrechterhaltung des physischen Körpers bedingt Handlung.

Eigentlich wird jedes Kapitel der Bhagavad Gita als Yoga bezeichnet. Es gibt 18 Kapitel, die zum Beispiel „Yoga der Mutlosigkeit und Verzweiflung Arjunas“ (1. Kapitel) heißen oder „Yoga der unsterblichen Seele“ (2. Kapitel), usw.

Der zweite Unterschied zum Samkhya ist, dass es im Yoga Ishwara gibt, einen persönlichen Gott. Patanjali lässt sich zwar nicht zu sehr auf genaue Details ein; auf diese Weise vermeidet er es, jemandem auf die Füße zu treten, denn bekanntlich entsteht bezüglich religiöser Themen am schnellsten Streit. Patanjali spricht von Ishwara als einer besonderen Manifestation von Purusha, die frei ist von Verhaftungen, Karma, Kleshas (Leiden), Unwissenheit und Wünschen. Ishwara ist der ursprüngliche Lehrer.

Wenn man sich Ishwara hingibt, ist die Verwirklichung schnell. Man muss allerdings zugeben, es passt nicht ganz in die Logik des Yogasystems hinein. Aber Patanjali war ein Praktiker. Er hat festgestellt, Menschen, die Gott hingegeben sind, erreichen die Selbstverwirklichung schneller als andere. Wer es allein versucht, ohne Zuflucht zu Gott zu nehmen, verwickelt sich in alle möglichen Schwierigkeiten. Irgendwann kommt das Ego ins Spiel, man kommt nicht mehr weiter, Versuchungen, Prüfungen stellen sich ein – ohne Glauben an Gott ist alles schwierig. Glaubt man dagegen an Gott, dann hilft er einem über das Ego hinweg, hilft einem durch Prüfungen, wenn man verzweifelt ist, weint man zu Gott, dann kommt er und hilft einem – es klappt eigentlich alles viel besser.

In Kanada im Ashram von Swami Vishnu ist mir zum erstenmal richtig klargeworden, was eigentlich Ego ist. Und zwar so klar geworden, dass ich mir überhaupt nicht vorstellen konnte, mich je vom Ego zu befreien. Denn das Ego kann sich überall manifestieren. Man kann zum Beispiel stolz auf seine Asana-Praxis oder auf seine Meditation sein, man kann sogar stolz darauf sein, dass es einem nichts ausmacht, die Toilette zu putzen, notfalls auch um Mitternacht, wenn es niemand anders macht und sogar, ohne dass es jemand merkt, einfach weil es getan werden muss. Man kann stolz darauf sein, dass man einfach nachgibt.

Das Ego kann sich tatsächlich überall hineinsetzen. Nachdem ich also ein paar Wochen lang – in meiner damaligen Naivität dachte ich, das sei schon sehr lange – wirklich systematisch versucht hatte, das Ego zu überwinden und es mir nicht gelungen war, eine einzige wirklich egolose Handlung auszuführen – und wenn ich fast dran war, dann war ich stolz darauf, dass sie egolos war und dann war das Ego wieder drin! -, habe ich einem indischen Gastlehrer, der gerade da war, das Problem geschildert.

Und er hat gesagt, ich soll mir nicht so viel Sorgen machen. Jeder müsse seine Aufgabe erfüllen. Meine Aufgabe sei Sadhana, spirituelle Praxis und Seva, Dienen. Gottes Aufgabe sei es, mich vom Ego zu befreien. Und vielleicht bin ich dadurch etwas egoloser geworden als durch den ständigen Versuch, mein Ego zu reduzieren, denn das war letztlich nur Egospiel. Es ist sehr wichtig und hilfreich, einfach diese Demut zu entwickeln, sich einzugestehen, ich tue zwar mein Bestes, ich mache Sadhana, Asanas, Pranayama, Meditation, Mantrasingen, Pujas (Verehrungsrituale) und was auch immer, aber letztlich weiß ich, das, was wesentlich ist auf dem spirituellen Weg, das kann ich nicht selbst machen, dazu brauche ich die Gnade Gottes. Man verehrt Gott, betet zu Gott, versucht, anderen zu dienen, seinen Geist zu schulen und dann wird Gott einen ausreichend durchschütteln, so dass das Ego schrittweise nachgibt. Wenn man Vertrauen hat und darum betet, geschieht es auch irgendwie.

Eine Ausprägung von Samkhya besagt, dass jeder Mensch ein eigener Purusha ist, es also nicht nur einen einzigen Purusha gibt, sondern Tausende, Millionen und Milliarden von Einzelpurushas. Und das Ziel ist, zu unserem eigenen Purusha zurückzukehren. Im Yoga hingegen gibt es nur einen Purusha und die einzelnen Seelen sind Auswirkungen des Rajas-Prinzips, wo das eine Kosmische in Splittern eines großen Spiegels gespiegelt wird. Das ist der dritte Unterschied zwischen Samkhya und Yoga.

Uttara Mimamsa = Vedanta     Zurück zum Anhang

Uttara Mimamsa, Vedanta, ist das großartigste aller Philosophiesysteme. Sie beginnen also mit Purva Mimamsa und hören mit Uttara Mimamsa auf.

Vedanta, die höchste aller Philosophien, bedeutet das Ende allen Wissens. Antar = Ende, Veda = Wissen. Die Vedanta-Philosophie kommt dem Wissen, das man aus der Verwirklichung gewinnt, am nächsten. Sie ist am schwierigsten zu verstehen und für viele Menschen am schwersten zu akzeptieren.

Vedanta hat durchaus Ähnlichkeit mit dem Samkhya-System. Im Vedanta gibt es die beiden Hauptpole Brahman und Maya. Nur, der Vedanta sagt, Brahman und Maya sind nichts Unterschiedliches, sondern Maya ist nur eine scheinbare Kraft der Illusion aus Brahman heraus. In Wahrheit gibt es nur Brahman. Nichts existiert, nichts ist geschaffen, ich bin weder Körper noch Geist, ich bin das unsterbliche Selbst.

Das ist in den drei Hauptsätzen postuliert: Brahma satyam = Brahman allein ist wirklich; Jagat mithya = die Welt ist unwirklich; Jivo brahmaiva napara = die individuelle Seele ist nichts anderes als Brahman. Das geht sogar so weit, dass Uttara Mimamsa sagt, die Welt ist nicht geschaffen worden. Es gibt gar keine Welt. Die Welt ist eine Illusion, sie scheint nur so. Sie ist nur ein Traum. Woraus besteht die Traumwelt? Woraus bestehen die Berge, Flüsse und andere Menschen im Traum? Sie bestehen nur aus dem Geist, der träumt. Woraus besteht diese Welt? Sie besteht eigentlich nur aus Brahman.

Es gibt nur Brahman. Und die Welt bleibt immer Brahman. Es gibt keine geschaffene Welt. Es erscheint nur so, als ob sie geschaffen sei. Aber es erscheint nur so lange so, wie unser Bewusstsein es so erfasst. Genauso wie die Traumwelt nur so lange vorhanden ist, wie wir im Traum sind. Wenn wir in den Tiefschlaf abgleiten, sind sowohl Traumwelt als auch Wachwelt verschwunden. Wenn wir in die Wachwelt kommen, verschwindet die Traumwelt und die Tiefschlaferfahrung wird ebenfalls unwirklich für uns. Und wenn wir in Turiya, den vierten Bewusstseinszustand kommen, wachen wir auf und erkennen, es war alles nur ein langer Traum. Das ist der Hauptunterschied zwischen Samkhya und Uttara Mimamsa.

Auf der relativen Ebene kann das Uttara Mimamsa-System mit allen in den vorherigen Systemen beschriebenen Aspekten arbeiten. Die Gesetze des Karmas im engeren Sinne werden nicht abgestritten. Dass die materielle Welt ihre Gesetzmäßigkeiten hat, an die man sich halten kann, mag auch sein. Dass es einen Ishwara gibt, der auch ein Produkt der Maya ist, zu dem man beten kann, in dessen Händen man sein kann, wird akzeptiert. Es wird sogar empfohlen, diese Praktiken zu üben, Hingabe, Liebe zu entfalten, um uns überhaupt bereit zu machen, Jnana Yoga zu verstehen.

Das hilft, den Geist zu reinigen. Auch Viveka, die Unterscheidung zwischen dem Wirklichen und Unwirklichen, spielt im Jnana Yoga natürlich eine wichtige Rolle, ebenso wie Vairagya, die Entsagung. Zu einer Ausprägung von Vedanta gehört auch das Mönchtum dazu, zwar nicht notwendigerweise, aber die Hauptbefürworter der Vedanta-Philosophie waren alle Mönche.

Man kann natürlich auch Vedanta-Anhänger sein und im Berufs- und Familienleben stehen, aber eine konsequente Vedanta-Philosophie führt durchaus zu einer Abkehr von der Welt. Wenn die Welt unwirklich ist, warum soll man sich hineinverstricken? Aber Uttara Mimamsa Vedanta als praktisches System sagt eben auch, der Yoga-Weg ist eine Vorbereitung, ein Mittel, um uns überhaupt erst in die Lage zu versetzen, unseren Geist kennen zu lernen, zu kontrollieren, fähig zu machen zur Unterscheidung.

Die verschiedenen Darshanas, so unterschiedlich ihr Ansatz auch ist und so widersprüchlich sie scheinen, ergänzen sich und haben jedes für sich je nach Situation ihre Berechtigung.

Krishna selbst macht übrigens diesen Standpunktwechsel. Er widerspricht sich ja öfter. Er argumentiert an verschiedenen Stellen aus unterschiedlichen Gesichtspunkten.

So wie das Licht gleichzeitig Welle und Teilchen ist – obgleich ein physikalisches Phänomen eigentlich niemals gleichzeitig Welle und Teilchen sein kann -, so können verschiedene sich augenscheinlich widersprechende Gesichtspunkte trotzdem ihre Gültigkeit haben. Man hat die Gesetze der Welle und die Gesetze der Teilchen analysiert. Anhand der Teilchenphysik kann man Licht zum Beispiel als Laserstrahlen oder Photonentechnologie nutzen. Andere Anwendungsmöglichkeiten ergeben sich, wenn man Licht als Welle sieht.

Genauso verhält es sich mit unserem spirituellen Sadhana. Für unser spirituelles Leben hilft es manchmal, einen bestimmten Standpunkt einzunehmen, ein anderes Mal einen anderen und in einer neuen Situation einen dritten. Scheinbar widersprechen sie sich, aber sie sind praktisch, man kann sich danach richten und dadurch Fortschritte machen.

Man kann auf dem spirituellen Weg keine lineare Logik erwarten. Es ist aber auch nicht unlogisch. Alles hat irgendwo seinen Platz und seinen Sinn. Und es ist nicht beliebig, sondern zu bestimmten Momenten muss man das eine oder das andere anwenden. Manchmal muss man diesen Standortwechsel recht schnell vollziehen.

Krishna widerspricht sich ja in der Bhagavad Gita auch ununterbrochen. Im 11. Kapitel zum Beispiel nimmt er den Standpunkt des Bhakti ein. Arjuna stellt fest, ich bin nur ein Instrument, ich tue gar nichts, Gott macht alles. Krishna sagt ja sogar, selbst wenn du nichts tun willst, ich werde dich zwingen. Der Mensch hat keinen freien Willen. Man hat im Grunde genommen keine Wahl. Im 18. Kapitel sagt er, die Natur wird dich zwingen. Und kurz danach: „Und jetzt tue, was du willst!“

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