1. Kapitel:: Samadhi Pada – Theorie des Geistes – 2. Kapitel: Sadhana Pada – Spirituelle Praxis – 3. Kapitel: Vibhuti Pada – Außergewöhnliche Kräfte – 4. Kapitel: Kaivalya Pada – Befreiung – Anhang: Wichtige indische Schriften und Philosophiesysteme
Viertes Kapitel : Kaivalya Pada – Befreiung
Einführung
1. Janmaushadhi-mantra-tapah-samâdhi jâh siddhayah
2. Jâty-antara-parinâmah prakrity-âpûrât
3. Nimittam aprayojakam prakritînâm varana-bhedas
4. Nirmâna-chittâny asmitâ-mâtrât
5. Pravritti–bhede prayojakam chittam ekam
6. Tatra dhyânajam anâshayam
7. Karmâshuklâkrishnam yoginas tri-vidham
8. Tatas tad-vipâkânugunânâm evâbhi-vyaktir
9. Jâti-esha-kâla-vyavahitânâm apy ânantaryam
10. Tâsâm anâditvam châshisho nityatvât
11. Hetu-phalâshrâyalambanaih samgrihîtatvâd eshâm
12. Atîtânâgatam svarûpato ¢sty adhva-bhedâd
13. Te vyakta-sûkshmah gunatmânah
14. Parinâmaikatvâd vastu-tattvam
15. Vastu-sâmye chitta-bhedât tayor vibhaktah
16. Na chaika-chitta-tantram vastu tad-apramânakam
17. Tad-uparâgâpekshitvâch chittasya vastu
18. Sada jnâtash chitta-vrittayas tat-prabhoh
19. Na tat svâbhâsam drishyatvât
20. Eka-samaye chobhayânavadhâranam
21. Chittântara-drishye buddhi-buddher
22. Citer apratisamkramâyâs tad-âkârâpattau
23. Drastri-drishyoparaktam chittam sarâartham
24. Tad asamkhyeya-vâsanâbhish chitram api
25. Vishesha-darshina
26. Tadâ hi viveka-nimnam kaivalya-prâgbhâram
27. Tach-chhidreshu pratyayântarâni samskârebhyah
28. Hânam eshâm kleshavad uktam
29. Prasamkhyâne ¢py akusîdasya sarvathâ
30. Tatah klesha-karma-nivrittih
31. Tadâ sarvâvarana-malâpetasya jnânasyâ-nantyâj
32. Tatah kritârthânâm parinâma-krama-samâptir
33. Kshana-pratiyogî parinâmâparânta-nigrâhyah
34. Purushârtha-shûnyânâm gunânâm pratiprasavah

Das dritte Kapitel hat schon mit der Befreiung geendet und eigentlich beschreibt jedes Kapitel irgendwo die Befreiung sowie Mittel und Wege, sie zu erreichen. Denn Patanjali hält sich nicht ganz an sein Schema, nachdem er im ersten Kapitel Samadhi Pada, die Theorie des Geistes, im zweiten Kapitel Sadhana Pada, die spirituelle Praxis, im dritten Kapitel Vibhudi Pada, die verschiedenen höheren Kräfte des Geistes und im vierten Kapitel Kaivalya, die Befreiung, behandeln will. Er beschreibt eigentlich in jedem Kapitel, was Befreiung ist und verschiedene Techniken, wie man dorthin kommt.
1. Janmaushadhi-mantra-tapah-samâdhi jâh siddhayah
Janma = Geburt; aushadhi = Drogen; mantra = Mantra, Sanskritwort oder -wortgruppe mit besonderem Klang und besonderer Wirkung; tapah = Askese, Selbstzucht; samâdhi = überbewusster Zustand; -jah= entstanden durch; siddhayah = übernatürliche Fähigkeiten
Siddhis werden als Ergebnis der Geburt, durch medizinische Kräuter, Mantras, Übungen der Selbstzucht oder Samadhi erlangt.
Den ersten Vers haben wir schon behandelt (3. Kapitel, Vers 15).
Übernatürliche Kräfte kann man nicht nur durch spirituellen Fortschritt erlangen, sondern auch auf anderen Wegen.
Wenn jemand übernatürliche Kräfte zur Schau stellt, kann man zuerst einmal überprüfen, ob er irgendeinen Zaubertrick anwendet. Vieles, was als übernatürlich erscheint, beruht einfach nur auf Taschenspieler- und Schauspielertricks. Swami Vishnu hatte als Jugendlicher das Hobby, den Trick hinter angeblichen übernatürlichen Kräften von Menschen herauszufinden. Als Jugendlicher war er ein großer Skeptiker, der von Spiritualität, Heiligen usw. wenig gehalten hat. Denn es gibt in Indien sehr viele Pseudomeister und Pseudoheilige – und nicht nur in Indien.
Einmal sah er unterwegs, wie jemand auf dem Rücken auf dem Boden lag und einen riesigen Stein auf dem Bauch trug. Alle dachten, das muss ein großer Heiliger sein, haben sich verneigt und ihm Geld gegeben. Swami Vishnu hat sich überlegt: Wie ist das möglich? Und er dachte: Irgendwann muss der ja mal aufs Klo gehen. Ich warte hier einfach lang genug. Gegen Abend kamen Schüler von dem Heiligen, die den Weg absperren wollten. Aber Swami Vishnu weigerte sich, wegzugehen.
Es wurde immer später und irgendwann fragte der Mann, der dort lag: „Du willst jetzt nicht gehen?“ Swami Vishnu antwortete: „Nicht, bevor ich deinen Trick herausgefunden habe.“ – was ja an sich schon eine Anmaßung ist, jemandem, der als heilig gilt, einen Trick zu unterstellen! Daraufhin fragte der Mann: „Wieviel Geld hast du dabei?“ „Ja, so ein paar Paisas“ „Gut, gib sie mir, dann zeige ich es dir“. Swami Vishnu gab ihm seine paar Münzen. Der Mann öffnete seine Beine. Zwischen den Oberschenkeln lag ein kleinerer Stein, auf dem der riesige Felsblock so lag, dass es ausgesehen hatte, als ob der Fels auf seinem Oberschenkel und Bauch ruhen würde. Bei solchen Dingen muss man also durchaus kritisch sein.
Zur Zeit gibt es ja auch eine Frau, von der Zeitschriften häufig berichten, die propagiert, wochenlang nichts mehr zu essen und von der alle meinen, sie würde ohne Nahrung leben. In Interviews sagt sie selbst, dass sie ab und zu Schokolade isst und Tee mit Zucker und Milch trinkt.
Ich selbst habe sie nicht gesehen, aber man hat mir erzählt, ihre Freunde hätten zum Teil bleibende Nierenschäden und jemand sei gestorben, nachdem er den dreiwöchigen Prozess ohne Nahrung und ohne Flüssigkeit, den sie empfiehlt, durchgemacht hat. Aber die Menschen laufen in Scharen zu ihr. Denn Eßstörungen sind die kollektive Psychose unserer Zivilisation und viele halten es für die beste Heilung, nichts mehr zu essen. Dann laufen sie solchen Lehren hinterher.
Swami Vishnu hat öfter versucht, uns zu desillusionieren und gesagt: „Hört auf mit eurem naiven Glauben.“ Aber er sagte, in Indien sei das auch nicht anders. Einmal wollte er zeigen, wie leicht man auf irgendwelche Vorspiegelungen hereinfällt:
Eines Abends gab er vor einem Publikum von etwa hundert Zuhörern einen Vortrag. Am Ende des Vortrags kam ein sehr asketisch wirkender Inder kurz herein, setzte sich einen Augenblick für eine Meditation hin und ging dann wieder hinaus. Swami Vishnu stellte ihn mit den Worten vor: „Das ist ein ganz großer Yogi aus dem Himalaya. Seit zwanzig Jahren spricht er nicht mehr. Morgen früh wird er zum ersten Mal seit zwanzig Jahren wieder etwas sagen, aber nur zehn Minuten lang.
In diesen zehn Minuten wird er denen, die dann anwesend sind – und es dürfen maximal nur zehn Leute sein – eine Minute lang ganz wichtige Ratschläge geben. Das macht er nur zwischen 2.30h und 2.40h nachts. Jeder, der dabei sein will, muss vorher 2000 Mark bezahlen. Anmeldung ist nicht möglich. Die ersten, die kommen, dürfen rein.“ – Das hat er bei einem Vortrag von ungefähr hundert Leuten gesagt.
Nachts um ein Uhr warteten über zweihundert Leute vor dem Hotel. Swami Vishnu hat sie alle hereingelassen und den großen Meister enthüllt, der gar kein Inder war, sondern ein Westler, der sich das Gesicht gefärbt hatte. Und er hat gesagt: „So naiv und leichtgläubig seid ihr hier. Ohne irgendetwas zu prüfen, glaubt ihr sofort, dass jemand anders im Besitz der alleinigen Weisheit ist.“ Denn die meisten der Zuhörer waren auch Menschen, die Swami Vishnu nicht kannten und gar nicht wissen konnten, ob er selbst tatsächlich authentisch war oder nicht. Natürlich hat er ihnen das Geld auch wieder zurückgegeben und sie darauf hingewiesen, dass sie sich das eine Lektion sein lassen sollten.
Wenn man einen Meister einmal geprüft hat, dann folgt man ihm natürlich. Aber man sollte nicht naiv sein und sich von Showbusiness beeindrucken lassen. Es gibt eine ganze Reihe von Leuten, die ein Riesen–Showbusiness aufgezogen haben. Mit ein bisschen psychologischer Marktforschung kann man die meisten Menschen betrügen. Mit ein bisschen Show könnten wir den Ashram hier auch noch viel mehr zum Blühen bringen. Aber erstens liegt das nicht in meiner Natur und zweitens hat mich Swami Vishnu gründlich davon bekehrt. Natürlich, einfach, authentisch zu sein, wirkt langfristig besser.
Natürlich gibt es nicht nur Zaubertricks, sondern auch echte Siddhis. Aber selbst diese sind kein verlässliches Zeichen dafür, dass jemand tatsächlich ein großer Meister ist.
Als ich in München lebte, kam einmal ein neuer Meister, von dem hieß es, er hätte alle möglichen Kräfte. Eine ganze Reihe von Leuten aus dem Sivananda-Yogazentrum sind zu ihm gegangen. Er hat den Anwesenden auf Wunsch eine persönliche Einweihung gegeben und ihnen auf den Kopf zugesagt, welches ihr Mantra ist, welches ihr Meister ist, und verschiedene andere Sachen.
Und er sagte: „Wenn du so weitermachst, wird dein Fortschritt minimal sein. Ich werde dir jetzt die Wirbelsäule reinigen, deine Kundalini erwecken und dann wird dein Fortschritt sehr schnell sein.“ Sie hatten dann auch tatsächlich das Gefühl, die Wirbelsäule öffne sich, Licht, Kundalini-Energie steige hoch.
Später stellte sich heraus, dass er ein großes Bankkonto in der Schweiz hatte, sich mit einer ganzen Reihe seiner Schülerinnen mehr oder weniger gleichzeitig verlustierte und sich schließlich irgendwie absetzte. Aber er hatte ganz sicher gewisse Kräfte. Wenn einem jemand das Gefühl vermitteln kann, etwas steige die Wirbelsäule hoch, dann muss das noch lange nicht die Kundalini sein. Es können hypnotische Kräfte oder Energieübertragungen sein. Auch hier dürfen wir nicht zu naiv sein, sondern müssen unser Urteilsvermögen einschalten.
Wobei wir jetzt auch nicht immer das Kind mit dem Bad ausschütten dürfen. Selbst sehr hoch entwickelte Meister können einmal einer Versuchung erliegen. Das heißt noch lange nicht, dass sie deshalb verachtenswert sind oder dass wir das Recht haben, sie zu verachten oder zu verurteilen. Ich habe einmal ein Buch gelesen über westliche Meister in östlichen Traditionen, in dem die ganze spirituelle Szene von Zen-, Yoga-, Sufi- und allen, die irgendwie aus diesen spirituellen Traditionen stammen und ihre eigenen Schulen aufgebaut haben, beschrieben ist. Darunter sind einige, die zweifellos ernsthaft waren und etwas Seriöses aufgebaut haben.
Und plötzlich kam heraus, dass sie einmal in ihrem Leben irgendetwas Komisches oder nicht hundertprozentig Ethisches gemacht haben und schon brach die ganze Organisation zusammen. Auch bei einer relativ geringfügigen Sache ist ein Meister sofort unten durch, nur, weil er nicht ganz so perfekt ist, wie die Schüler es von ihm erwarten. Ein Beispiel eines indischen
Meisters fällt mir ein, das übrigens auch allgemein bekannt ist: Er hatte ein spirituelles Zentrum eröffnet und vor drei, vier Jahren kam heraus, dass er vor etwa zehn Jahren ein Verhältnis mit einer anderen Frau gehabt hatte, das zwar nicht lange gedauert hatte, auch sonst keine Folgen hatte – mindestens habe ich es so gehört. Sobald das publik wurde, haben die Ashramleiter ihn aus seiner eigenen Organisation hinausgeworfen. Aber ich weiß natürlich nicht, was da sonst noch dahintersteckt.
Wir müssen uns also vor verschiedenen Sachen hüten. Zum einen dürfen wir uns nicht von Shows beeindrucken lassen, auch nicht von übernatürlichen Kräften, aber es gibt auch echte Meister, die trotzdem auch einmal einen Fehler machen. Man muss letztlich schauen: Ist es wirklich nur ein Fehler oder ist es ein systematisches Vorgehen, bei dem ein Meister seine Schüler und Schülerinnen ausnützt und ruiniert. Das ist natürlich wieder etwas anderes, dann wird es sehr unethisch.
Siddhis können auch erlangt werden als Ergebnis der Geburt. Manche Menschen haben Siddhis von Geburt an, wahrscheinlich durch karmische Eindrücke aus früheren Leben.
Manche Menschen können Kräfte erzeugen durch Drogen, Pilze, Kräuter und ähnliches.
Es gibt auch Rituale und Mantras, mit denen man spezifische übernatürliche Kräfte erzeugt, wie zum Beispiel der Feuerlauf, von dem ich schon erzählt habe.
Ich habe auch einmal eine Zeremonie zu Ehren von Shanmug miterlebt, wo jemand bestimmte Rituale ausführt und anschließend seine Haut mit 108 Speeren durchbohrt. Er trägt ein Gerüst, damit die Speere drin bleiben, dann tanzt er mit all diesen Speeren. Danach werden die Speere herausgezogen.
Es fließt kein Blut, es wird nichts infiziert und innerhalb von ein bis zwei Stunden sind alle Wunden zu, man sieht nichts mehr. Swami Vishnu hat für diesen Ritus mehrmals Leute aus Malaysia eingeladen. Für sie ist es eine Form der Verehrung Gottes. Sie empfinden das nicht als etwas Besonderes oder Außergewöhnliches. Es ist nicht wirklich eine Zurschaustellung von übernatürlichen Kräften, sondern es gehört zu einem Ritual, das jedes Jahr in ihrem Dorf gemacht wird. Der Malaye nahm die Einladung von Swami Vishnu an, weniger, um zu zeigen, wie großartig er ist, sondern um diese Energie von Shanmug in Berlin zu verbreiten, das fand er eine gute Sache.
Tschechische Wissenschaftler haben dabei transportable EEGs und EMG–Geräte angeschlossen, so dass er nicht nur die 108 Speere in sich stecken hatte, sondern auch noch 12 Elektroden für EEG und so und so viele für das EKG. Die Wissenschaftler haben die Versuche ausgewertet und dann die Ergebnisse präsentiert: Wie fantastisch das sei, was der für ein EEG und ein EKG gehabt hat.
Vom EKG her war seine Herzfrequenz so, dass er fast einen Herzinfarkt hatte. Er hatte einen Puls von fast 200. Und das EEG war so, als ob er im allertiefsten Tiefschlaf wäre – fast keine Hirnwellen. Das fanden sie ganz faszinierend. Aber dass sie hier etwas beobachtet und dokumentiert haben, was ihrem wissenschaftlichen Weltbild total entgegensteht, darüber haben sie kein Wort verloren, geschweige denn, irgendwelche Schlussfolgerungen für ihre eigene Wissenschaftsgläubigkeit daraus gezogen.
Sie haben Karten und Auswertungen gezeigt, aber mit keinem Wort erwähnt, dass sie jetzt eigentlich ihr normales materialistisches Weltbild in Frage stellen müssten. Letzten Endes waren ja nicht die Werte von EEG und EKG das Wichtige dabei, sondern die Verehrung Gottes und wie ein solches Phänomen zustande kommen kann.
Rituale und Mantras können außergewöhnliche Kräfte verleihen. Der Malaye befand sich in einem Trancezustand, jenseits des Normalbewusstseins. Er stellte seinen Körper der Gottheit zur Verfügung. Das geschieht über das Ritual. Dabei soll das Göttliche in den Körper eindringen und dann über die 108 Speere die göttliche Energie in alle Richtungen ausstrahlen.
Das ist, neben einer einfachen Verehrung, der zweite Sinn dieses Rituals. Man stellt sich als Kanal Gottes zur Verfügung, um spirituelle Energie zu verbreiten. Aber das war nur während des Rituals so. Wenn er sich am nächsten Tag aus Versehen geschnitten hat, hat er geblutet und brauchte ein Pflaster. In Berlin zum Beispiel wurde derselbe Mann, der unter dem Einfluss des Rituals 108 Speere ohne zu bluten und ohne Wunden in sich haben konnte, einen Tag später von einer Biene gestochen. Er reagierte allergisch darauf und musste ins Krankenhaus gebracht werden.
Übungen der Selbstdisziplin, Tapas, haben wir bereits besprochen, auch, dass Patanjali die intensive Übung von Asanas und Pranayama als Tapas bezeichnen würde. Wenn ihr ein paar Monate lang jeden Tag elf bis zwölf Stunden lang Pranayama macht, bekommt ihr bestimmte übernatürliche Kräfte!
Und Samadhi bringt natürlich auch übernatürliche Kräfte.
Im nächsten Vers erklärt Patanjali, dass diese scheinbar übernatürlichen Kräfte nicht wirklich übernatürlich sind.
2. Jâty-antara-parinâmah prakrity-âpûrât
Jâty-antara = in eine andere Klasse, Spezies; parinâmah = Wandlung; prakriti = Natur, natürliche Neigungen; âpûrât = durch Füllen, Überfließen
Alle evolutionären Umwandlungen rühren von der Erfüllung natürlicher Neigungen her.
Alles, auch die Siddhis, geschieht nur aufgrund und in Erfüllung von Naturgesetzen. Alles ist Naturgesetzen unterworfen. Wir kennen nur nicht alle, denn auf anderen Ebenen als der physischen gelten andere Gesetze.
3. Nimittam aprayojakam prakritînâm varana-bhedas tu tatah kshetrikavat
Nimittam = sichtbare Ursache; aprayojakam = nicht unmittelbar verursachend; prakritînâm = die natürlichen zugrundeliegenden Ursachen; varana = Hindernis; bhedah = Beseitigung; tu = andererseits; tatah = davon; kshetrikavat = wie der Bauer
Eine sichtbare Ursache dient nicht notwendigerweise dazu, Veränderungen in der Prakriti zustande zu bringen; sie beseitigt nur Hindernisse, wie ein Bauer (er räumt einige Steine beiseite, um einen Bewässerungskanal zu schaffen).
Ich weiß nicht, ob ihr das Bild versteht. In Indien wird ja fast alles künstlich bewässert. Es gibt riesige Kanäle. Wenn ein Bauer sein Feld bewässern will, muss er ein paar Steine aus dem Bewässerungskanal, aus dieser Schleuse, herausnehmen, damit das Wasser auf sein Feld gelenkt wird. Die Dorfgemeinschaft stellt genaue Regeln und ein ausgeklügeltes System auf, so dass alle Bauern der Dorfgemeinschaft ihre Felder bewässern können, ohne dass jemand zu viel hat oder zu kurz kommt. Zu einem festgelegten Zeitpunkt nimmt man die Steine weg, die den Kanal zum eigenen Feld verschließen. So bekommt man das nötige Wasser in seine Reisfelder. Dann baut man die Steine wieder auf, damit der nächste Bauer dasselbe bei sich machen kann.
Nicht alles, was an spiritueller Erfahrung, Kräften, Fähigkeiten kommt, haben wir notwendigerweise selbst durch unsere Übungen, durch unsere Anstrengung, geschaffen. Wenn man beispielsweise eine Vision Gottes, eine Erfahrung der Einheit oder ein ekstatisches Gefühl beim Mantrasingen oder in der Meditation hat, dann hat man es nicht wirklich durch die ganzen Praktiken erzeugt.
Durch diese Praktiken haben wir die Steine – Hindernisse, Unreinheiten –,weggeräumt, die im Wege standen, so dass die göttliche Gnade durch uns hindurch fließen kann. Das, was vorher schon da war, enthüllt sich, das Göttliche kann sich manifestieren. Wir schaffen nicht wirklich Freude in der Meditation, wir räumen nur die Hindernisse aus dem Weg, so dass die natürliche Freude, die immer schon da war, erfahrbar wird. Wir machen uns zum Instrument der kosmischen Energie, die durch uns wirken will. Wir müssen uns nur für sie öffnen.
Wenn es regnet und wir Wasser brauchen, was müssen wir haben? – Ein Gefäß. Was müssen wir mit dem Gefäß machen? – In den Regen halten. Das allein reicht aber nicht aus. Wir müssen es richtig in den Regen halten, wie nämlich? – Mit der Öffnung nach oben. Genauso ist auch die göttliche Gnade immer da. Wir müssen nur unser Gefäß, unser Bewusstsein, unseren Geist, nach oben öffnen. Die meisten Menschen haben ihren Geist nach unten geöffnet. Also spüren sie keine Gnade.
Frage: Wo kommt die Gnade denn her? Es heißt immer, sie kommt von oben.
Antwort: Natürlich kommt sie nicht wirklich von oben, nicht räumlich von oben. Sie kommt nicht von der Sonne und auch nicht vom Polarstern, sondern von höheren Ebenen. Energie strömt ständig von Ishwara, dem Göttlichen, aus und wir können uns dafür öffnen. Wirklich verstehen tut man es, wenn man den Unterschied verwirklicht hat zwischen Sattwa (Reinheit) und Purusha (höchstes Selbst). Bis wir soweit sind, können wir es sehr wohl erfahren und kleine Erklärungen dazu abgeben. Das Göttliche gibt ständig Gnade, Energie in diese physische Ebene hinein und in unser jetziges Bewusstsein. Wir müssen uns nur dafür öffnen.
4. Nirmâna-chittâny asmitâ-mâtrât
Nirmâna = geschaffen, künstlich; chittâni = Mentalkörper; asmitâ = Ichsein, Egoismus, Individualität; mâtrât = allein
Chittas (Gemüt, Gefühle, Emotionen) werden nur vom Egoismus geschaffen.
5. Pravritti–bhede prayojakam chittam ekam anekeshâm
Pravritti = Aktivität, Beschäftigung; bhede = Unterschied; prayojakam = lenkend; chittam = Verstand; ekam = ein; anekeshâm = von vielen
Obwohl die Beschäftigungen der vielen geschaffenen Chittas variieren, werden sie von dem einen Geist kontrolliert.
Tatra = von ihnen; dhyânajam = aus der Meditation geboren; anâshayam = frei von Eindrücken
Von diesen ist der Geist, der aus Dhyana geboren ist, frei von vergangenen Tendenzen, den sogenannten Samskaras.
Für diese drei Verse gibt es zwei Interpretationen. Swami Vishnu interpretiert sie so:
Unser Chitta, der Geist im Sinne von Gemüt, kommt vom Ego her. Das Gemüt beginnt letztlich mit dem Ego. Solange wir im Ego sind, sind wir im individuellen Gemüt. Es gibt sehr viele verschiedene Chittas (Gemüter) – nämlich so viele, wie es Wesen gibt –, aber all diese verschiedenen Gemüter sind letztlich Bestandteil des einen kosmischen Geistes.
Im ersten Kapitel haben wir eine besondere Meditationstechnik kennen gelernt, die in den Stufen von Savitarka, Nirvitarka, Savichara, Nirvichara und Sananda zu Sasmita führt, wo wir versuchen, aufzuhören, uns mit dem Individuum zu identifizieren.
Nicht einmal auf der physischen Ebene sind wir tatsächlich so getrennt, wie wir immer glauben. Sobald wir zwei Minuten lang nicht atmen, sind wir schon tot – gut, erfahrene Pranayama-Yogis können die Luft auch schon mal drei Minuten lang anhalten, aber nach fünf Minuten ist man normalerweise tot. Wir sind also über den Atem verbunden, nicht nur untereinander, sondern mit dem ganzen Universum. Das physische Universum bildet ein organisches Ganzes und wird deshalb in der Vedanta als Viratswarupa bezeichnet.
Auch auf der emotionellen, psychisch-geistigen Ebene sind wir miteinander verbunden. Wir denken nicht im luftleeren Raum. Unsere Gedanken und Gefühle sind nicht nur beeinflusst von dem, was wir mit unseren Sinnen wahrnehmen, von unserer persönlichen Vergangenheit und unseren Gehirnfunktionen, sondern sie sind auch bestimmt durch andere Gemüter, durch individuelle und kollektive Gedankenschwingungen. Alle zusammen bilden wir das kosmische Gemüt, Hiranyagarbha.
Auf der Kausalebene sind wir erst recht nicht getrennt. Gerade auf dieser Ebene stehen wir alle miteinander in Verbindung als Ishwara. Ishwara steht für verschiedene Manifestationen Gottes: Viratswarupa, die ganze physische Welt als physischer Körper Gottes. Hiranyagharba, alle Gemüter als zusammenhängende Teile des kosmischen Gemütes. Ishwara, alle Kausalkörper als Teil des universellen Kausalkörpers. Das ist Vedanta-Philosophie.
Die Samkhya-Philosophie sagt dasselbe mit anderen Worten. Aus dem einen Gemüt, Mahat, sind die einzelnen Chittas (Gemüter) als individuelle Gemüter entstanden. Aber alle diese Chittas werden letztlich beherrscht von dem einen kosmischen Geist, Eka = ein.
Wenn uns das bewusst ist, können wir letztlich auch unser eigenes Gemüt Gott opfern. Wir können sagen: „Oh Gott, du bist alles und überall. Du bist auch mein eigenes Gemüt. Du manifestierst dich auch durch meine Gedanken und Emotionen und auch diese stelle ich dir zur Verfügung. Und all meine Schwächen bist du ja auch. Also stelle ich auch sie dir zur Verfügung. Und was auch immer ich heute tue, mit Körper, Gedanken, Emotionen, aus meiner eigenen Natur, aus meinem Selbst, aus meinen Verhaftungen heraus, all das opfere ich dir, denn du wirkst durch mich.“
So können wir uns von allen Schuldkomplexen und auf die falsche Ebene gesetzte Vollkommenheitsansprüchen befreien. Denn die physische Welt ist unvollkommen, in ständiger Veränderung. Selbst unsere unvollkommenen Gedanken und Emotionen sind Manifestationen des Göttlichen.
Und selbst wenn wir mal aus der Rolle gefallen sind – natürlich sollten wir versuchen, zu vermeiden, aus der Rolle zu fallen –, können wir auch das Gott opfern und sagen: „Oh Gott, du hast dich jetzt so manifestiert und auch das opfere ich dir.“ Wenn etwas schiefgegangen ist: „Bitte, Gott, kümmere du dich darum.“ Damit gibt man ohne Zweifel eine gewisse Verantwortung ab und das ist gut so. Aber wir geben nicht alle Verantwortung ab. Vorher und gleichzeitig bemühen wir uns natürlich, uns zu entwickeln, aus Fehlern zu lernen.
Krishna sagt das auch in der Bhagavad Gita (18. Kapitel, 66. Vers):
Sarvadarmân Parityajya
Mâm êkam sharanam vratja
Aham twâ sarvapâpêbhyô
Môksha ishyâmi mâ shuksha
Sarvadarmân Parityajya: Gib alle Pflichten auf. Das beinhaltet auch, alle Vorstellungen von ‚richtig‘ und ‚falsch‘ aufzugeben.
Mâm êkam sharanam vratja: Nimm zu mir allein Zuflucht.
Aham twâ sarvapâpêbhyô: Ich werde dich befreien von sarva papa, von allen Sünden und Fehlern.
Môksha ishyâmi mâ shuksha: Mach dir keine Sorgen. Du kommst zur Befreiung.
Frage: Dann kann ich mir erlauben, was ich will?
Krishna sagt direkt danach: „Erzähle das niemandem, der sich nicht um Selbstbeherrschung bemüht. Erzähl das niemandem, der nicht Gott hingegeben ist. Erzähl das niemandem, der nicht nach Befreiung strebt und erzähl das niemandem, der nicht das Wohl anderer Wesen im Sinn hat.“ – eben um diese Anarchie zu verhindern.
Wem es um all das geht, wer versucht, an sich selbst zu arbeiten, sich Gott hinzugeben, anderen Gutes zu tun, wer nach Befreiung strebt, dem kann man das sagen, denn er bemüht sich ernsthaft, im richtigen Geist, und anschließend kann er sagen: „Oh Gott, was auch immer ich getan habe, überlasse ich dir, einschließlich all meiner Unvollkommenheiten.“ Zuerst bemüht man sich und dann lässt man los. Das ist das Beste.
Es gibt kein besseres Rezept für geistige Entwicklung und Zufriedenheit. Alles so gut machen wie man kann und dann loslassen. Nicht so gut machen, wie man denkt, dass man können müsste, auch nicht so gut, wie ein anderer es tatsächlich oder vermeintlich machen kann, sondern mit der inneren Einstellung: Wir sind jetzt in diese Situation hineingestellt worden als Teil Gottes, weil unsere Fähigkeiten und unsere Möglichkeiten in dieser Situation und in diesem Augenblick die richtigen sind. Wären wir nicht der Richtige, hätte Gott jetzt jemand anderen dorthin gestellt.
Wir bleiben uns der Tatsache bewusst, dass letztendlich alle Chittas von dem einen Geist kontrolliert werden. Und der Chitta, der aus Dhyana (Meditation, Kontemplation) geboren ist, ist frei von vergangenen Tendenzen, den sogenannten Samskaras (Eindrücken im Unterbewusstsein). Wenn wir in der Meditation zu höheren Bewusstseinsebenen kommen, ersetzt die Erfahrung der Meditation die alten Samskaras und wir können eine grundlegende Veränderung unseres Charakters erfahren. Wenn wir zur Selbstverwirklichung kommen, werden wir frei von unseren Unvollkommenheiten. Es geht schon darum, uns von diesen Unvollkommenheiten zu befreien, aber ohne Besessenheit, ohne Fanatismus und ohne uns ein schlechtes Gewissen einzureden.
Diese drei Verse haben noch eine andere, etwas eigenartige Bedeutung, die man in manchen Kommentaren findet:
Ein spiritueller Meister hat auch die Fähigkeit, aus seinem eigenen Geist andere Chittas zu schaffen, um so sein Karma schneller auszuarbeiten. Er manifestiert sich also in mehreren Körpern gleichzeitig. Angenommen, man ist ein großer Meister und stellt fest, man hat noch Karma für fünf Leben. Nun möchte man nicht mehr fünfmal geboren werden. Deshalb schafft man sich mehrere Chittas.
Mit der Kraft des Geistes lässt man diese Chittas auf der grobstofflichen Ebene existent werden – im schlimmsten Fall geht man in den Körper eines anderen Menschen ein, der gerade im Sterben liegt – Patanjali hat ja oben beschrieben, wie man den Körper eines anderen besetzen kann. Dann arbeitet man das Karma in diesen Körpern aus. Wenn man ein solches Chitta allein aus der Meditation schafft, ohne es mit früheren Samskaras (Eindrücken im Unterbewusstsein) zu verbinden, hat dieses Gemüt keine Samskaras und man kann das Karma vorurteilsfrei ausarbeiten.
Das mutet etwas eigenartig an und mir ist auch kein Meister bekannt, von dem es heißt, dass er so etwas gemacht hat. Zwar gibt es Schüler, die berichten, dass der Meister ihnen erschienen sei. Selbst wenn das mehrere Schüler gleichzeitig berichten, weiß man nicht den Grund. Es kann sein, dass der Meister eben seinen Pflichten gegenüber diesen Schülern, die er vielleicht aus früheren Leben hat, dadurch genügt, dass er sich an verschiedenen Orten gleichzeitig manifestiert. Aber meistens erscheint er nicht willkürlich und auch nicht als Person, sondern meistens ist es so, dass der Schüler eine große Hingabe ausstrahlt. Durch diese Hingabe wird die Energie des Meisters angezogen und kann so unbeschränkt aktiv werden.
Die beiden nächsten Verse haben wir schon behandelt:
7. Karmâshuklâkrishnam yoginas tri-vidham itareshâm
Karma = Handlung; Gesetz von Ursache und Wirkung; ashukla = nicht weiß; akrishnam = nicht schwarz; yoginah = von einem Yogi; tri-vidham = dreifach; itareshâm = von anderen
Für einen Yogi ist Karma weder weiß noch schwarz; für andere ist es dreifach.
Für einen Yogi gibt es kein gutes oder schlechtes Karma. Alles, was kommt, sind Aufgaben, Erfahrungen, an denen wir wachsen können, aus denen wir lernen können. Das heutige Vergnügen kann die Ursache für morgigen Schmerz sein. Der heutige Schmerz kann die Ursache für morgiges Vergnügen sein. Ein Yogi sieht und beurteilt die Welt und ihre Erscheinungen nicht mehr nach schön oder nicht schön, angenehm oder unangenehm. Für ihn ist alles gut und richtig so, wie es ist.
Für andere ist es dreifach, nämlich gut, schlecht oder gemischt.
8. Tatas tad-vipâkânugunânâm evâbhi-vyaktir vâsanânâm
Tatah = von da; tad–vipâka = Erfüllung, Früchte tragen; anugunânâm = entsprechend; eva = nur; ab-hivyaktih = Manifestierung; vâsanânâm = Wünsche, Neigungen
Aus diesem dreifachen Karma wird die Erfüllung offenbar, die den Wünschen oder Neigungen entspricht.
Was wir uns wünschen, das tritt ein.
Unsere Neigungen sind aber auch notwendig für uns, für unsere Evolution.
Prakriti (die Schöpfung, die Welt) ist für den Purusha (die Seele, das Bewusstsein) da und zwar aus zwei Gründen: Einmal, damit Purusha die Erfahrungen machen kann, die er sich wünscht und die für ihn notwendig sind. Zum zweiten für die Befreiung des Purusha aus dem Labyrinth der Welt. Diese Welt, das, was auf uns zukommt, ist auf der einen Seite das, was wir uns gewünscht haben und auf der anderen Seite das, was wir brauchen, weil es für unsere Evolution förderlich ist.
Alles, was geschieht, kommt entweder aus unseren Wünschen oder Neigungen heraus. Statt Neigungen könnte man auch sagen, aus den anderen Tendenzen in unserer Natur. Darin ist alles enthalten: Die Aufgaben, die wir zu lösen haben, die karmischen Reaktionen, die kommen, weil wir andere Menschen geschädigt haben oder ihnen besonders gut gesinnt waren usw., unsere Gedanken, unsere Wünsche – all das manifestiert sich als Karma.
Wenn wir das wissen, hören wir auch auf, uns über unsere Umwelt zu beschweren. Wir können trotzdem versuchen, unser Leben so zu gestalten, wie es für unseren spirituellen Fortschritt geeignet ist, aber wir sind uns bewusst, dass wir nicht immer die idealen Umweltbedingungen haben können, dass wir immer und überall unser Karma, unsere Disposition, mitnehmen.
Und wir wissen, dass unser Geist, obwohl wir versuchen, an ihm zu arbeiten, ihn zu transformieren, letztlich auch vom kosmischen Geist kontrolliert wird. Unseren Geist, unser Karma, unsere spirituelle Praxis, selbst unsere Unvollkommenheit, all das lassen wir los und sagen: „Oh, Gott, all das bist du. Ich will zwar versuchen, dieses Instrument, meinen Körper und Geist, für dich zu vervollkommnen, soweit ich kann. Aber selbst dieses Bemühen opfere ich dir, denn letztlich drückst du dich auch darin aus.“
9. Jâti-esha-kâla-vyavahitânâm apy ânantaryam smriti-samskârayor ekarûpatvât
Jâti = Klasse; desha = Ort; kâla = Zeit; vyavahitânâm = losgelöst, getrennt; api = sogar; ânantaryam = unmittelbare Aufeinanderfolge; smriti-samskârayoh = von Erinnerung und Eindrücken; ekarûpatvât = infolge der Gleichheit der Erscheinung oder Form
Es gibt eine unmittelbare Aufeinanderfolge – Wunsch, gefolgt von der passenden karmischen Situation –, die von der Erinnerung und den Samskaras (Eindrücken im Unterbewusstsein) herrührt, selbst wenn sie durch soziale Stellung, Ort und Zeit unterbrochen sein mag.
Das ist das Gesetz des Karmas.
Aus unseren Wünschen folgt irgendwann einmal das Resultat. Oder aus unserer Handlung folgt die Reaktion. Aktion führt zu Reaktion. Handlung und Wunsch bergen ihre Erfüllung in sich. Daneben gibt es Lektionen, die gelernt werden müssen. Aktion und Reaktion, Wunsch und Ereignis, Handlung und darauffolgendes Ereignis, sind unmittelbar miteinander verknüpft, auch wenn es äußerlich so scheint, als hätten sie keinen Zusammenhang, als läge alles Mögliche dazwischen.
Es mag sein, dass wir heute jemanden gequält haben und in 25 Jahren werden wir auf dieselbe oder ähnliche Art und Weise gequält. Das erscheint dann zu jenem Zeitpunkt in 25 Jahren als blindes Schicksal, denn wir haben ja dann in dem Moment nichts Schlimmes getan, aber es rührt eben von der Ursache her, die wir vor langer Zeit gesetzt haben.
Oder vor zehn Jahren haben wir uns etwas gewünscht und jetzt plötzlich haben wir es. Oftmals wollen wir es dann gar nicht mehr oder es passt gar nicht mehr in die aktuelle Lebenssituation hinein. Dazwischen hat sich scheinbar vieles geändert – Ort, Zeit und Stellung. Das Karma muss aber trotzdem geerntet werden.
Vom Standpunkt der vorhandenen Samskaras aus, der Eindrücke in unserem Gemüt, folgt das eine direkt auf das andere. Für unser momentanes Bewusstsein sieht es so aus, als läge eine große Zeitspanne dazwischen.
10. Tâsâm anâditvam châshisho nityatvât
Tâsâm = sie, von denen; anâditvam = kein Anfang; cha = und, auch; âshishah = der Wille zu leben; ni-tyatvât = Ewigkeit, Dauer
Die Wünsche haben keinen Anfang, denn der Wille zu leben ist ewig.
Deshalb heißt es, diese Maya, die Welt der Täuschung, ist anadi, ohne Anfang. Nadi hat zwei Bedeutungen: ‚Energiekanal‘ und ‚Anfang‘. Wobei ich jetzt nicht sicher bin, ob bei beiden Bedeutungen das „a“ und „d“ jeweils das gleiche ist, denn im Sanksrit gibt es zwei verschiedene „d“ und ein kurzes und ein langes „a“.
Wünsche haben keinen Anfang. Die Maya hat keinen Anfang.
Stellt euch als Analogie die Traumwelt vor. Wann hat die Handlung eures Traumes angefangen? Angenommen, ihr träumt, ihr wärt Wissenschaftler und wolltet nun analysieren und zurückverfolgen, wie alt diese Traumwelt ist. Wann hat sie angefangen? Manche Menschen halten es für absolut phantastisch, wenn sie im Traum innerhalb weniger Minuten einen Zeitraum von zwanzig Jahren erlebt haben. Aber das ist ein Irrtum. In Wirklichkeit träumen sie innerhalb von ein paar Minuten Milliarden und Abermilliarden von Jahren. Denn wir träumen von der fertigen Welt und die Welt ist Milliarden oder Billionen oder Trillionen Jahre alt.
Die Schöpfung ist ohne Anfang. Aber sie hat glücklicherweise ein Ende. Wann nämlich? Wann hat die Schöpfung ein Ende? Wie heißt dieses Kapitel? – Kaivalya, Befreiung. Ist die Befreiung erreicht, dann verschwindet die Welt für uns. Dann erkennen wir: Es gab die Welt nicht wirklich.
Wann hat die Traumwelt ein Ende? – Wenn wir aufwachen. Was passiert dann mit den ganzen Menschen im Traum? Habt ihr euch das schon mal überlegt? Man hatte einen Traum mit so vielen Menschen, Tieren, Pflanzen, Gebäuden und allem Möglichen. Was passiert damit, wenn wir aufwachen? – Es verschwindet für uns. Genauso ist es, wenn man die Selbstverwirklichung erreicht. Als Zwischenzustand gibt es noch Jivanmukta (lebendig Befreiter), wo man zwar die Welt noch so sieht wie die anderen, aber gleichzeitig weiß: In Wirklichkeit bin ich reines Bewusstsein.
11. Hetu-phalâshrâyalambanaih samgrihîtatvâd eshâm abhâve tad-abhâvah
Hetu = Ursache; phala = Wirkung; âshraya = Unterschicht, das, was Halt gibt; âlambanaih = Objekt; samgrihîtatvâd = infolge Zusammenhalts; eshâm = von diesen; abhâve = beim Verschwinden; tad–abhâvah = Verschwinden von diesen
Wünsche werden durch Ursache, Wirkung, Unterstützung und Objekte zusammengehalten; mit diesen verschwinden auch die Wünsche.
Hier gibt Patanjali uns Tips, wie wir die Wünsche beseitigen können. Wenn wir eines dieser vier Dinge ausschalten, können wir die Wünsche ausschalten.
Fangen wir von hinten an, mit den Objekten. Wünsche werden durch Objekte zusammengehalten. Wenn wir einen Wunsch längere Zeit nicht mehr befriedigen, was passiert dann mit dem Wunsch? – Irgendwann hört er auf.
Ein ganz banales Beispiel: Als ich in New York und in Toronto lebte, gab es dort etwas ganz Besonders, das ich nirgendwo anders gefunden habe, und zwar Papaya Juice, Papaya-Saft. Irgendwie schmeckte er ganz toll und ist auch sehr gesund. Nahezu jeden zweiten Tag bin ich mit dem Fahrrad zu einer Papaya Juice-Bar gefahren – wogegen vom yogischen Standpunkt aus auch nichts einzuwenden ist. Es war wirklich reiner, frisch gepresster Saft. Selbst frische Papayas kommen im Geschmack bei weitem nicht an diesen Saft heran. Jetzt, wo ich darüber nachdenke, kann ich den Geschmack wieder deutlich auf der Zunge und im Mund spüren – also, ganz weg ist der Wunsch immer noch nicht, aber er ist jedenfalls schwächer geworden!
In der Anfangszeit in Frankfurt, als ich aus Amerika zurückkehrte, habe ich manchmal gedacht: Ich wünschte, hier gäbe es Papaya juice. Aber wenn ich mir jetzt nicht überlegt hätte, welch abstruses Beispiel ich mir zur Illustration einfallen lassen könnte, dann wäre dieser Wunsch jetzt sicher nicht in mir aufgekommen. Wenn die Objekte nicht da sind, werden die Wünsche normalerweise schwächer.
Das gibt uns auch einen gewissen Trost. Wenn wir etwas vermissen, wissen wir, irgendwann wird es schwächer. Es heißt ja auch so schön: Die Zeit heilt alle Wunden. Wenn man sich als Kind weh getan hat, haben einem die Eltern gesagt: Spätestens wenn du heiratest, hast du es vergessen. Da liegt eine Wahrheit drin.
Das andere ist Unterstützung. Ein Wunsch wird unterstützt, wenn wir ständig an ihn denken. Wenn wir etwas nicht haben und jahrelang daran denken, es haben zu wollen, dann hört der Wunsch natürlich nicht auf. Wir können versuchen, diese Unterstützung loszulassen, nicht daran zu denken. Zum Beispiel, indem wir uns ablenken, an etwas anderes denken oder auch einen Wunsch nach etwas anderem entwickeln. Im ersten Kapitel hat Patanjali uns ja auch diesen Tip gegeben: Wenn irgendwelche Hindernisse auftauchen, sollte man an etwas Positives denken. So ähnlich können wir auch hier verfahren.
Es reicht nicht aus, nur zu sagen: Ich will oder sollte diesen Wunsch nicht mehr haben. Den Trick kennt ihr sicher alle: „Versucht jetzt mal, nicht an eine grüne Ameise zu denken.“ – An was denkt ihr? – Zum ersten Mal in eurem Leben an eine grüne Ameise! Es nützt nicht viel, sich ständig zu sagen, ich darf daran nicht denken.
Wenn wir einen Wunsch loswerden wollen, sollten wir zuerst den klaren Entschluss fassen, diesen Wunsch nicht mehr zu haben. Nach diesem klaren Entschluss müssen wir aufhören, jeden Tag von neuem mit uns selbst zu debattieren. So geht es vielen Menschen. Sie wollen irgendetwas aufgeben, fassen einen Entschluss und am nächsten Tag fangen sie wieder an, mit sich selbst zu diskutieren. Kennt ihr das? – „Nur einmal, und so schlecht ist es ja nun auch wieder nicht, und der andere macht es ja auch, und ich könnte ja auch erst nächste Woche anfangen…..“
Darüber hatten wir gesprochen bei der Schulung des Willens und Entwicklung von Vairagya (Leidenschaftslosigkeit, Wunschlosigkeit). Wir sollten einen Entschluss fassen. Und wenn wir für den Entschluss noch nicht ganz reif sind, verschieben wir ihn und machen ihn etwas kleiner. Zum Beispiel, statt ganz mit etwas aufhören, nehmen wir uns vor: Ich mache es nur noch dreimal die Woche. Aber das, was wir uns vorgenommen haben, halten wir auch ein.
Aber der Entschluss allein reicht nicht aus. Wir müssen ein Konzept für den Moment entwickeln, wenn der Wunsch kommt. Denn er wird mit Sicherheit kommen. Wir müssen uns also überlegen, was will ich machen bzw. denken, wenn der Wunsch wieder auftaucht. Wir müssen den Wunsch bzw. den Gedanken daran durch etwas Positives ersetzen, an etwas anderes denken oder innerlich ein Mantra wiederholen. Wenn wir so vorgehen, gelingt es uns, unseren Entschluss Schritt für Schritt umzusetzen.
Und schließlich: Ursache und Wirkung. Ursache und Wirkung ist letztlich Handlung und Reaktion. Ursprünglich tun wir irgendetwas, erfüllen uns einen Wunsch, und als Wirkung bekommen wir ein Vergnügen. Dieses Vergnügen schafft dann wieder eine Ursache: Irgendwie ist es gut, schmeckt gut, tut gut und wir wollen es noch mal haben. Dadurch unterstützen wir den Wunsch und sorgen dafür, dass wir das nötige Objekt wieder bekommen. Und so geht es immer weiter.
Das Objekt ist wieder eine neue Ursache, es hat Spaß gemacht, wir unterstützen es wieder, wollen es wieder haben, setzen eine neue Ursache, die wieder eine Wirkung nach sich zieht und so sind wir ständig in dieser Kette. Diese Kette können wir überall erkennen. Werbung ist zum Beispiel eine Ursache. Als Wirkung kommt der Wunsch. Wir denken öfter daran, schließlich beschaffen wir uns das Objekt. Das Objekt führt, wenn wir Pech haben, dazu, dass es uns gefällt. Die Konsequenz ist Vergnügen. Das ist eine neue Ursache, die zu neuen Wirkungen führt. Wir wollen es nochmals haben, denken öfter daran, und erfüllen den Wunsch wieder …. So entsteht eine endlose Kette.
12. Atîtânâgatam svarûpato ¢sty adhva-bhedâd dharmânâm
Atita = Vergangenheit; anâgatam = Zukunft; svarûpatah = in ihrer eigenen Form; asti = existiert; adhva–bhedât = wegen unterschiedlichen Pfaden; dharmânâm = von Eigenschaften
Vergangenheit und Zukunft existieren aus sich heraus; die unterschiedlichen Eigenheiten rühren von den verschiedenen Wegen her.
Hier gibt es verschiedene Interpretationen.
Swami Vishnu interpretiert diesen Vers so:
Die Welt existiert getrennt vom Menschen. Die verschiedenen Wege des Individuums erschaffen, was die verschiedenen Eigenschaften, Charakteristika der Welt zu sein scheinen. Damit wird Prakriti (Natur, Universum) von Purusha (bewusstsein) getrennt. Das heißt, die Welt existiert auch ohne unser Zutun. Das klingt banal, aber oft sind wir nicht so ganz davon überzeugt, sondern glauben, dass wir alles nur durch unser Tun schaffen.
Vom absoluten Standpunkt her gesehen gibt es gar keine Welt.
Auf einer gewissen Ebene haben wir natürlich eine Verantwortung und auch einen freien Willen
Aber von einem relativen Standpunkt aus sind beide nicht so groß, wie wir eigentlich denken. Von einem recht hohen Standpunkt aus geschieht alles, wie es geschehen soll. Wie es etwa Krishna in der Bhagavad Gita ausdrückt: Wir sind nur Marionetten in den Händen Gottes.
Diese unterschiedlichen Standpunkte der jeweiligen Philosophiesysteme zu verstehen und einzunehmen, ist sehr wichtig. Sie widersprechen sich teilweise vollkommen, sind aber trotzdem gleichzeitig gültig, je nachdem, von welchem Blickwinkel aus man sie gerade betrachtet.
Es widerspricht sich, dass wir auf der einen Seite einen vollkommenen Willen haben sollen. Auf einer zweiten Ebene haben wir gar keinen freien Willen, sondern alles ist vorbestimmt und auf der dritten Ebene geschieht gar nichts. Trotzdem ist alles wahr. Und das ist die einzige Weise, Wahrheit zu erklären. Sie befriedigt den Intellekt nicht unbedingt, aber die moderne Physik kommt zu den gleichen Schlüssen.
Zum Beispiel gibt es diesen unerklärlichen Dualismus beim Licht. Bis heute weiß niemand genau, was Licht ist. Die einen sagen, Licht ist eine Welle, die anderen sagen, Licht besteht aus Teilchen und neuerdings sagt die Mehrheit der Wissenschaftler, Licht ist sowohl Welle als auch Teilchen. Aber nach allen physikalischen Gesetzen kann eine Sache nicht gleichzeitig Welle und Teilchen sein. Entweder ist Licht ein Teilchenstrom, der von einer Lampe ausgeht und über die Teilchen, die sogenannten Photonen, Licht abgibt. Oder es muss einen Lichtäther geben, der sich bewegt und die Wellen in diesem Äther sind das Licht.
Nun wurden verschiedene Experimente durchgeführt, die eindeutig beweisen, dass Licht aus Teilchen besteht. Es wurde nachgewiesen, dass Lichtteilchen Kraft und Masse haben. Es gibt aber auch andere Experimente, die ganz eindeutig beweisen, dass Licht nicht Teilchen ist, sondern eine Welle. Aber Licht kann nicht gleichzeitig Teilchen und Welle sein! Das geht nicht. Das ist unmöglich. Aber es ist eindeutig so, dass Licht sich manchmal wie Teilchen verhält und manchmal wie eine Welle, obwohl es beides zusammen nicht sein kann. Das ist der sogenannte Teilchen-Wellen-Dualismus, den man inzwischen nicht nur beim Licht findet, sondern bei der Materie an sich.
Materie selbst kann man von einem Standpunkt aus als eine Wahrscheinlichkeitswelle definieren. Mit dieser Theorie kann man einige Phänomene von Materie gut erklären. Das nur als Beispiel. Überall, wo man tiefer in die Wahrheit hineingeht, trifft man auf diese Paradoxone.
Die Wirklichkeit ist nicht wirklich vom menschlichen Intellekt her begreifbar. Es ist ohnehin eine unglaubliche Anmaßung, anzunehmen, die Wirklichkeit müsse für den Menschen logisch ergründbar sein. Inzwischen weiß man, dass der Mensch niemals alles über das physische Universum wissen kann. Nicht deshalb, weil er noch nicht weit genug ist, weil unsere Computer noch nicht fortgeschritten genug sind, weil wir noch nicht genügend Neuronen im Gehirn haben, sondern ganz einfach deshalb, weil die Welt nicht logisch erfassbar ist. Sie verhält sich nicht entsprechend dieser „normalen“ menschlichen Logik, so wenig wie sie sich nach der Logik eines Hundes oder eines Pferdes verhält.
Wenn wir das im Hintergrund haben, können wir auch besser verstehen, dass die Meister und die Schriften manchmal im gleichen Kontext sagen: „Du bist der Meister deines Schicksals“ und kurz danach: „Gott macht alles.“ In der Bhagavad Gita finden wir diese scheinbaren Widersprüche etliche Male.
Auf Arjunas Bitte sagt Krishna: „Ich habe schon alles gemacht, du brauchst nichts mehr zu machen.“ Und kurz danach erzählt er ihm: „Es ist deine Pflicht, zu kämpfen“. Und nach einer Weile sagt er: „Du kannst gar nicht anders, als es zu tun. Wenn du es nicht tust, wird die Natur dich dazu zwingen, du hast gar keine freie Wahl.“ Kurz danach erzählt er wieder etwas anderes. Und zwar nicht deshalb, weil Krishna unlogisch ist, sondern weil so die Wirklichkeit beschaffen ist. Er spricht von verschiedenen Standpunkten aus.
Das hilft uns übrigens auch, nicht allzu sehr und zu lange mit einem schlechten Gewissen herumzulaufen, wenn wir etwas falsch gemacht haben oder etwas nicht so gut geglückt ist. Es hilft, Dingen nicht nachzuhängen oder nachzutrauern: „Ach, hätte ich das doch anders gemacht, hätte ich doch schon vor 20 Jahren nach meinem ersten Kontakt mit Yoga weitergemacht, oder hätte ich ….“
Wir können zurückblicken und sagen: Letztlich ist das geschehen, was geschehen sollte. Aber gleichzeitig darf man nicht die Einstellung haben: „Ich kann ja sowieso nichts machen, alles ist Kismet“. In jedem Moment muss ich so entscheiden und handeln, als ob ich voll verantwortlich wäre – allerdings ohne mich deshalb innerlich damit zu binden. Ganz im Hintergrund habe ich im Kopf: Ich kann mich nicht falsch entscheiden, ich kann nicht wirklich etwas falsch machen, weil Gott es schon vorbestimmt hat. Das ist eigentlich eine sehr positive und konstruktive Weltanschauung.
Eine andere Erklärung für diesen Aphorismus wäre:
Es gibt nicht nur eine Welt, sondern es gibt verschiedene Welten. Eigentlich existieren alle Möglichkeiten der Entscheidung, die wir jemals gehabt haben, gleichzeitig parallel.
Es gibt also dieses Universum, diese Ebene, auf der wir uns in einer Situation so entschieden haben. Gleichzeitig gibt es ein paralleles Universum, wo man sich ganz anders entschieden hat. Und nicht nur eins, denn wie oft hat man im Leben schon Entscheidungen getroffen? – Natürlich trifft man ununterbrochen Entscheidungen: „Soll ich jetzt noch länger arbeiten und diese Arbeit abschließen, oder soll ich eine Pause machen und Kaffee trinken oder spazieren gehen?“
„Soll ich etwas essen oder nicht, soll ich Gemüse oder Salat essen oder Suppe oder Müsli?“ „Soll ich aufstehen, obwohl ich noch müde bin oder den Wecker abstellen und weiterschlafen?“ Und wie oft im Leben habt ihr schon wichtige, einschneidende Entscheidungen getroffen? Eine Entscheidung kann auch dann einschneidend gewesen sein, wenn man nichts gemacht hat, es einfach so hat weiterlaufen lassen. Aber man stand vor einer Entscheidung, man hatte die Wahl.
Und jetzt stellt euch vor, jede dieser Entscheidungen ist eine Welt für sich. Das heißt, ihr lebt in jeder Entscheidungswelt und habt dort in der Zwischenzeit wieder Hunderte von Entscheidungen getroffen. All diese Möglichkeiten existieren in diesem Moment überall. Wir bewegen uns durch diese verschiedenen Möglichkeiten hindurch. Unsere Entscheidungen bestimmen nicht die Welt, sondern den Weg, den wir durch die verschiedenen Welten gehen. Manchmal sind Science-Fiction-Filme diesbezüglich recht gut.
Angenommen, hier im Raum wären zehn Ameisen, die losrennen. Unterwegs machen sie immer wieder mal Umwege und denken dann, sie beeinflussen das Universum. Wenn sie mehr nach rechts gehen, wird plötzlich das Universum heller, wenn sie nach links gehen, wird es dunkler oder verändert seine Farben, und wenn sie zum Ende des Raumes oder an eine Seitenwand kommen, wird das Universum plötzlich zur Mauer. Zehn Ameisen, die sich gegenseitig nicht sehen können, erfahren zehn unterschiedliche Universen, aber der Raum bleibt gleich.
Das ist ein ganz faszinierender Gedanke.
Frage: Ist es möglich, dass man im Traum in die anderen Universen geht?
Ja. Im Traum schaffen wir uns auch selbst noch zusätzliche Universen. Wobei natürlich diese Universen auch Berührungspunkte haben. Es gibt ja Träume, bei denen wir mit dem Astralkörper aus dem physischen Körper austreten und dann vielleicht sogar in die Zukunft sehen. Und am nächsten Tag oder ein paar Jahre später kommen wir in eine Situation oder an einen Ort und wissen ganz genau, was als nächstes geschehen wird. Wir waren schon da. Und es geschieht tatsächlich.
Frage: Aber sind es wirklich verschiedene Universen? Sind es nicht einfach verschiedene Ebenen?
Letztlich ist es das gleiche Universum, das sich auf verschiedene Weise manifestieren kann, ein multidimensionales Universum. Je nachdem, in welche Richtung wir gehen, bestimmen wir unsere Erlebnisebene. Von unserem jetzigen Blickwinkel aus sind es verschiedene Universen. Wenn zehn Ameisen von einer Stelle losgehen, nimmt die eine den Weg durch das Gras, die andere über die Steine, die dritte über den Teppichboden – jede davon beschreibt die Erde ganz anders und erlebt ein anderes Universum.
Dazu gibt es eine berühmte alte Geschichte:
Der König der Blinden hörte von einem Elefanten. Er sandte nacheinander fünf Gesandte, die herausfinden und beschreiben sollten, was ein Elefant ist. Der erste Gesandte berührte die Beine des Elefanten und sagte: „Oh König, der Elefant ist wie eine große Säule.“ Der König dachte: Gut. Aber einer kann sich irren, sicherheitshalber schicke ich einen zweiten hin.
Der Zweite kam hin und fasste den Bauch des Elefanten an. Er sagte: „Oh König, der Elefant ist wie ein großes, weiches, durchhängendes Dach.“ Das fand der König nun recht merkwürdig. Er schickte einen Dritten hin, der überprüfen sollte, wer von beiden recht hatte.
Der Dritte fasste an den Stoßzahn des Elefanten und sagte: „Oh König, der Elefant ist wie ein spitzer Ast, gebogen und hart.“ Nun war der König ganz verwirrt und schickte den Vierten los. Der Vierte fasste hinten an den Schwanz und sagte: „Oh König, der Elefant ist wie ein großes Haarbüschel.“ Und schließlich kam der Fünfte zurück, der hatte an den Rüssel gefasst und sagte: „Oh König, der Elefant ist wie ein weicher, flexibler Schlauch.“ Wer von ihnen hat recht?
13. Te vyakta-sûkshmah gunatmânah
Te = sie; vyakta = manifestiert; sûkshma = subtil, unmanifestiert; gunâtmânah = von der Natur der Gunas
Sie, ob manifestiert oder unmanifestiert, existieren in den drei Gunas.
Nachdem Patanjali großartig von verschiedenen Universen, Gegenwart, Vergangenheit, Zukunft berichtet hat, sagt er jetzt, letztlich existiert alles nur aus den drei Gunas heraus, den drei Eigenschaften der Natur (rein, unruhig, träge).
14. Parinâmaikatvâd vastu-tattvam
Parinâma = Wandlung, Veränderung; ekatvât = infolge der Einzigartigkeit; vastu = des Objektes; tattvam = die Essenz, Wirklichkeit
Die Wirklichkeit eines Objektes rührt von der Einzigartigkeit in der Veränderung der Gunas her.
Ein Objekt besteht nur aus einem bestimmten Mischungsverhältnis von Gunas. Aus der Sicht der Physik kann man sagen: In gewisser Weise bestehen alle Elemente nur aus Elektronen, Neutronen, Protonen. Die Elektronen sind rajas, sie bewegen sich ständig. Die Protonen sind irgendwie tamas, sie führen zur Trägheit. Die Neutronen sind sattwa, sie gleichen irgendwie aus. Und aus diesen drei sind alle Elemente geschaffen. Der Unterschied zwischen Gold, Eisen, Blei, Zink, Sauerstoff besteht nur aus einer Anordnung von Elektronen, Neutronen und Protonen.
Das kann man ins Subtilere weiterführen: Der Unterschied zwischen einem Gedanken, einem Harmonium, einer Uhr und einer Brille ist nur die Zusammensetzung der Gunas. Alles ist eine Gotteserfahrung, eine Manifestation des Göttlichen, des Seienden. Es ist alles eins. Der Unterschied besteht nur im Mischungsverhältnis von Sattwa, Rajas und Tamas.
15. Vastu-sâmye chitta-bhedât tayor vibhaktah panthâh
Vastu-sâmye = das Objekt, das gleich ist; chitta-bhedât = ein Unterschied im Verstand; tayoh = dieser beiden; vibhaktah = getrennt; panthâh = Weg
Ist das Objekt dasselbe, rührt der augenscheinliche Unterschied (zwischen zwei Wahrnehmungen) von den getrennten Wegen verschiedener Geiste her.
Dasselbe Objekt kann auf zwei Menschen ganz unterschiedlich wirken.
Zwei Menschen kommen zu einem Yogaseminar. Der eine findet es ganz fantastisch, hat wunderbare Erfahrungen, öffnet sich, fühlt sich aufgeladen, sein Leben verändert sich grundlegend. Der zweite reist nach dem zweiten Tag ab: Den ganzen Tag irgendwelche Verrenkungen, Nase zuhalten, Atem anhalten, eigenartiges Gesinge weit ab von jedem Takt und höherem Kunstverständnis, und den ganzen Tag auf dem Boden sitzen. Gleiches Objekt – zwei vollkommen verschiedene Erfahrungen.
Die Objekte an sich sind unterschiedlich, je nach Zusammensetzung der Gunas, und das gleiche Objekt kann auch ganz unterschiedlich wirken. Es kann auf zwei Menschen unterschiedlich wirken oder auch auf den gleichen Menschen, je nachdem, in welchem Gemütszustand er gerade ist.
Angenommen, wir sitzen abends zusammen, meditieren, singen Mantras und hören einen Vortrag über Raja Yoga an. Jemand kommt herein, der um fünf Uhr morgens aufgestanden ist und den ganzen Tag hart gearbeitet hat. In der Meditation schläft er halb, das Mantrasingen wiegt ihn langsam in den Schlaf und bei den Vorträgen kann er endlich entspannen. Der gleiche Mensch zwei Tage später: Ausgeschlafen, ausgeruht, fühlt sich besser, meditiert achtsam, ist in einem erhabenen Gemütszustand, singt „Jaya Ganesha“ voller Enthusiasmus, und beim Vortrag hört er jedes einzelne Wort aufmerksam an. Gleiche Situation, unterschiedliches Chitta (Gemüt, Empfinden).
Deshalb sollten wir auch immer vorsichtig sein, wenn wir etwas beurteilen. Unser Urteil ist nicht nur vom Objekt geprägt, sondern auch durch unseren Gemütszustand.
16. Na chaika-chitta-tantram vastu tad-apramânakam tadâ kim syât
Na = nicht; cha = und; eka = ein; chitta = Verstand, Geist; tantram = abhängig von; vastu = ein Objekt; tat = das; apramânakam = nicht erkannt; tadâ = dann; kim = was; syât = würde geschehen
Ein Objekt ist nicht vom eigenen Geist abhängig, denn es existiert, ob es nun von diesem Geist wahrgenommen wird oder nicht.
Hier widerspricht Patanjali der Vedanta–Philosophie, die sagt: Die Objekte existieren nur deswegen, weil es einen Geist gibt, der sich ihrer bewusst ist. In dem Moment, wo keiner mehr an sie denkt, hören die Objekte auf zu existieren. Sie sind nur eine Illusion.
Aber genau genommen ist es kein Widerspruch, sondern eine Frage des Standpunktes.
Von unserem subjektiven Standpunkt aus existieren die Objekte natürlich, egal ob wir an sie denken oder nicht. Manchmal missverstehen Menschen, mindestens für praktische Zwecke, die Vedanta- und Advaita-Philosophie. Zum Beispiel glauben Menschen manchmal, sie könnten eine Krankheit einfach wegdenken. Manchmal klappt es auch, weil Gedanken eine starke Kraft sind. Aber allein die Tatsache, nicht an etwas zu denken, macht es nicht ungeschehen – so wenig, wie den Kopf in den Sand zu stecken. Neulich habe ich das bei einem kleinen Jungen beobachtet – irgendetwas hat ihm nicht gefallen, da hat er sich die Decke über den Kopf gezogen. Dann existiert das Ding nicht mehr. Vogel-Strauß-Politik. Wir schließen die Augen, dann guckt keiner hin.
17. Tad-uparâgâpekshitvâch chittasya vastu jnâtâjnâtam
Tad-uparâga = die Färbung dadurch; apekshitvât = weil es nötig ist; chittasya = für, durch den Verstand; vastu = Objekt; jnâta = gewusst; ajnâtam =nicht gewusst
Ein Objekt ist dem Geist aufgrund der Färbung des Geistes entweder bekannt oder unbekannt.
Das ist die subtile Theorie der Wahrnehmung aus der Samkhya- und Yoga-Philosophie.
Der Geist wird dort mit einem Kristall verglichen, der sich durch das Objekt verfärbt oder mit einem See, in dem sich die Gegenstände spiegeln. Stellt man einen roten Gegenstand hinter einen Bergkristall, dann sieht der Kristall rot aus. Der gleiche Kristall vor einem gelben Hintergrund sieht gelb aus. Der Geist nimmt die Farbe der Objekte um uns herum an, wobei Farbe hier allegorisch zu verstehen ist. Der Geist nimmt auch Klänge, Bewusstseinsinhalte, Reaktionsmuster usw. an. Der Geist nimmt ein Objekt nur dann wahr, wenn dieses Objekt ihn färbt. An sich kennt unser Gehirn erst einmal gar nichts. Das Objekt muss irgendwie unser Gehirn, unseren Geist, färben, damit wir uns daran erinnern bzw. das nächste Mal eine Assoziation herstellen.
18. Sada jnâtash chitta-vrittayas tat-prabhoh purushasyâparinâmitvât
Sadâ = immer; jnâtâh = bekannt; chitta-vrittayah = die Modifikationen des Geistes; tat-prabhoh = von seinem Herrn; purushasya = des Purusha, des Selbst; aparinâmitvât = infolge der Unveränderlichkeit
Aufgrund der unveränderlichen Natur des Purusha (des Selbst) sind Modifikationen des Geistes dem Selbst immer bekannt.
Purusha, das Selbst, die Seele ist immer da. Und um ihn herum gibt es den Geist, Chitta. Purusha nimmt immer und in jedem Moment alle Veränderungen des Geistes wahr. Das Chitta (Gemüt, bewusster Geist) bekommt über die äußeren Sinne Wissen von der Welt. Purusha schaut sich die Welt durch das Chitta hindurch an und ist sich aller Empfindungen und Gedanken des Chitta bewusst. Chitta sieht ab und zu mal etwas nicht. Wenn wir schlafen, sehen wir die Welt nicht. Purusha aber ist niemals müde. Er ist sich immer des Chittas bewusst. Wir sprechen jetzt von Chitta als unserem bewussten Geist. Daneben gibt es natürlich noch den unbewussten Geist, aber das steht auf einem anderen Blatt.
19. Na tat svâbhâsam drishyatvât
Na = nicht; tat = es; svâbhâsam = selbst-erleuchtend; drishyatvât = Wahrnehmbarkeit
Das Gemüt hat keine eigene Leuchtkraft, denn es befindet sich im Bereich der Wahrnehmung.
Der Geist an sich erkennt nichts. Er erkennt deshalb, weil Purusha als Bewusstsein in ihm ist.
Er ist dem Mond vergleichbar. Der Mond strahlt nicht selbst, sondern spiegelt nur die Sonne. Und ein Spiegel hat keine Farbe an sich, sondern gibt seine Umgebung wider. Auch ein Kristall hat keine Farbe, sondern nimmt von seiner Umgebung die jeweilige Färbung an. Unser Gemüt, unser Geist nimmt nicht selbst etwas wahr und schafft auch nicht selbst etwas, sondern er nimmt die Farbe der Objekte an. Er kann auch aus der Erinnerung heraus die Farbe von früheren Objekten annehmen. Er kann die Farben auch mischen und so Kreativität entwickeln. Aber die Erkenntnis kommt von Purusha.
20. Eka-samaye chobhayânavadhâranam
Eka–samaye = gleichzeitig; cha = und; ubhaya = beide; anavadhâranam = Nichterfassen
Das Bewusstsein kann nicht zwei Dinge auf einmal wahrnehmen.
Der bewusste Geist nimmt eine Sache nach der anderen wahr. Das geschieht zwar so schnell hintereinander, dass man den Eindruck hat, man mache bzw. denke mehrere Dinge gleichzeitig. Zum Beispiel, wenn man in der Meditation sitzt, sein Mantra wiederholt und in Gedanken Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft plant. Das scheint alles gleichzeitig abzulaufen, ist es aber nicht. Es ist mal das eine, mal das andere in sehr schneller Abfolge. Der Geist springt.
21. Chittântara-drishye buddhi-buddher atiprasangah smriti-samskarash cha
Chittântara-drishye = in (einem Geist), der durch einen andern Geist wahrnehmbar wird; buddhi–buddheh = Wahrnehmung von Wahrnehmungen; atiprasangah = Überflüssigkeit, ad absurdum füh-ren; smriti = von Erinnerungen; samkarah = Verwirrung; cha = und
Wenn ein Geist einen anderen wahrnehmen könnte, dann würde Wahrnehmung der Wahrnehmung sowie Verwirrung der Erinnerung stattfinden.
Wenn der Geist gleichzeitig den Geist eines anderen wahrnehmen würde, dann gäbe es eine Wahrnehmung der Wahrnehmung und daher eine Verwirrung der Erinnerungen.
Deshalb empfiehlt auch Patanjali durchaus, nicht zu sehr zu versuchen, den Geist der anderen immer wieder zu verstehen und zu lesen. Er hat uns zwar vorher die Samyama–Technik angegeben, wie wir durch Konzentration auf das Herz eines anderen die Inhalte seines Geistes wahrnehmen können. Aber zu oft sollten wir das nicht machen.
Wir haben Swami Vishnu einmal gefragt, ob er unsere Gedanken lesen könnte. Denn er hat sich manchmal ganz offensichtlich so verhalten, als ob er Gedanken liest. Bei mir war es immer so: Ich habe mir monatelang alle Fragen, die ich nicht selbst beantworten konnte und für die ich auch vom Zentrumsleiter oder der Leiterin keine zufriedenstellende Antwort bekam, aufgeschrieben.
Und wenn ich dann nach einer Weile wieder einmal zu Swami Vishnu kam, waren es meist ein paar Seiten voll Fragen. Dann habe ich immer ein paar Tage abgewartet, und in der Zeit hat er meistens den größten Teil meiner Fragen schon beantwortet. Entweder im Rahmen von Vorträgen direkt oder indirekt oder indem er mich zu sich hingezogen und mir irgendetwas erzählt hat, was dann genau die Antwort auf etwas war, was ich hatte fragen wollen.
Ich kann mich beispielsweise auch an ein Ereignis in Wien erinnern, dem ersten Yogazentrum, das ich leitete. Ich war ein paar Monate dort und irgendwie lief es auch sehr gut. Ein paar der älteren Mitarbeiter befürchteten, mein Ego werde zu dick und warnten mich, aufzupassen.
Nun wusste ich selbst nicht so genau: Ist es jetzt Ego oder ist es Hingabe und Pflichterfüllung bzw. Dienst am Guru und an Gott. Und während ich nun darüber nachgedacht und ständig versucht habe, an Gott zu denken und ihm alles zu widmen – manchmal ist es schön, wenn man ganz naiv ist, so am Anfang, dann funktioniert alles noch besonders gut – kam plötzlich ein Brief von Swami Vishnu, in dem stand, meine Motivation sei richtig, Swami Sivananda wirke durch mich hindurch.
Damals habe ich wirklich ständig darüber nachgedacht – ich frage mich das natürlich auch heute noch, aber jetzt denke ich nicht so viel nach. Es geschieht einfach, es ist zu meiner zweiten Natur geworden. Und dann kam dieser Brief von Swami Vishnu, ohne dass ich ihm die Frage überhaupt gestellt hatte! Und es hatte auch sonst niemand mit ihm darüber gesprochen, denn damals gab es keine E-mail oder ähnliches.
Aber auf die Frage, ob er Gedanken lesen könne, hat er geantwortet: „Ich habe schon genug Probleme mit meinem eigenen Geist. Stellt euch vor, ich könnte jetzt die Gedanken von euch allen hier lesen. Ich würde innerhalb von fünf Minuten verrückt werden!“
22. Citer apratisamkramâyâs tad-âkârâpattau sva-buddhi-samvedanam
Chiteh = des Bewusstseins; apratisamkramâyâh = von einem, der nicht von Ort zu Ort wandert; tadâkâra = seine Form; âpattau = in der Annahme; sva-buddhi = Selbsterkenntnis; samvedanam = Wissen (über)
Wissen über sich selbst kommt durch die Selbstwahrnehmung, die einsetzt, wenn der Geist still gemacht wird.
Das ist im Grunde genommen das gleiche wie „Chittas Vritti Nirodhah“ aus dem ersten Kapitel. Ist der Geist in der Stille, kommt das Wissen des Selbst.
23. Drastri-drishyoparaktam chittam sarâartham
Drashrti = der Sehende, Wissende; drishya = das Gesehene, Gewusste; uparaktam = gefärbt; chittam = Geist, Verstand; sarvârtham = allumfassend
Der Geist, der durch den Sehenden, das Selbst, und das Gesehene gefärbt ist, versteht alles.
Das kann man wieder auf zwei Arten interpretieren.
Einmal ist das eine Darstellung der Wahrnehmungstheorie aus yogischer Sicht. Der Geist kann grundsätzlich alles wissen und verstehen, weil er einerseits das Selbst, Purusha, hat, welcher alles wahrnimmt und andererseits ist da die ganze Prakriti, die ganze Schöpfung. Das Chitta (der Geist, das Gemüt) kann grundsätzlich von allem gefärbt werden, je nachdem, wohin, in welche Richtung es sich wendet. Und da hinter ihm Bewusstsein ist, eben Purusha, kann das Chitta grundsätzlich alles wahrnehmen und erkennen.
Die zweite Interpretation ist: Wenn wir in der Lage sind, unser Chitta sehr ruhig zu halten und unsere Vorurteile und all das herauszuhalten, dann färbt das Chitta sich tatsächlich ganz genau wie das Objekt. Dann wissen wir über die Objekte sehr viel besser Bescheid als jemand, der ständig nur mit Vorurteilen und eingefahrenen Denk- und Verhaltensmustern an alles herangeht. Ein reiner Kristall oder ein ganz stiller, sauberer See widerspiegeln die Welt klar und deutlich.
24. Tad asamkhyeya-vâsanâbhish chitram api parârtham samhatya-kâritvât
Tad = das; asamkhyeya = unzählige; vâsanâbhih = durch Vasanas, Wünsche; chitram = mannigfaltig; api = obgleich; parârtham = um eines anderen willen; samhatya–kâritvât = infolge gemeinsamen Handelns
Der Geist, obwohl mit unzähligen Neigungen und Wünschen erfüllt, handelt für das Selbst, denn sie handeln zusammen.
Obgleich der Geist oft verrücktspielt oder zu spielen scheint, ist er eigentlich Diener des Selbst. Er vergißt das zwar manchmal, aber gewissermaßen ist das seine Aufgabe. Wir haben den Geist, um die Erfahrungen zu machen, die wir machen wollen und müssen, um uns letztlich auch wieder von allem zu befreien.
25. Vishesha-darshina âtma-bhâva-bhâvanâ-vinivrittih
Vishesha = Unterschied; darshinah = von dem, der sieht; âtmabhâva = Bewusstsein des Selbst; bhâvâna = glauben, zu sein; weilend; vinivrittih = völliges Aufhören
Wer diesen Unterschied sieht, hört auf, den Geist als Atma zu sehen.
Viele Menschen denken: Ich bin der Geist, ich bin die Emotionen, ich bin die Gefühle. Die Vorstellung, dass wir etwas anderes sein könnten als die Gefühle und die Wahrnehmungen auf physischer Ebene ist Menschen völlig fremd. Und selbst für spirituelle Aspiranten, die wiederholen: „Aham Brahma asmi“ ist das „Ich bin Brahman“ nicht mehr sehr aktuell, sobald irgendwelche Emotionen kommen, vor allem bei negativen oder belastenden Emotionen. Aber wenn wir anfangen, diesen Unterschied zwischen Geist und Selbst zu sehen und auch spüren, dann mögen zwar auch Emotionen da sein, aber wir sind nicht mehr so stark davon beeindruckt und beeinflusst. Wir wissen: Das Selbst ist separat davon.
26. Tadâ hi viveka-nimnam kaivalya-prâgbhâram chittam
Tadâ = dann; hi = wahrlich; viveka-nimnam = geneigt zur Unterscheidung; kaivalya-prâgbhâram = der Befreiung zustrebend; chittam = der Geist, Verstand
Mit einer Neigung zur Unterscheidungskraft strebt er in Richtung der Befreiung.
Erste Voraussetzung ist, dass wir überhaupt erst einmal erkennen, dass wir gebunden sind. Und während wir um die Gebundenheit wissen, muss uns klar werden, dass wir eigentlich frei sein könnten. Wenn wir wissen, dass das Selbst etwas anderes ist als der Geist, dann wissen wir: Wir sind momentan gebunden. Wenn wir diese Unterscheidungskraft erworben haben, wollen wir natürlich nicht länger gebunden bleiben. Von diesem Moment an können wir nach Befreiung streben.
27. Tach-chhidreshu pratyayântarâni samskârebhyah
Tach-chidreshu = darin Unterbrechungen in ihm; pratyayântarâni = andere Pratyayas, Gedanken; samskârebhyah = aus der Stärke der Samskaras, der früheren Eindrücke im Geist
Gedanken, die als Unterbrechung der Unterscheidungskraft aufsteigen, rühren von vergangenen Samskaras her.
Deshalb geht es auf dem spirituellen Weg nicht so schnell. Wir können einen Augenblick lang eine wunderschöne Einsicht haben und wirklich erkannt haben: Ja, ich bin das unerschütterliche, unvergängliche Selbst, ich bin nicht der Geist. Und kurz danach identifizieren wir uns wieder mit unseren Gedanken und unserem Selbstbild und all dem. Das merkt man besonders an der eigenen Reaktion, wenn einen jemand kritisiert oder etwas schief geht oder man meint, man müsste etwas anderes tun als das, was jetzt gerade von einem verlangt wird. Dann merkt man, dass man sich wieder identifiziert
Diese Identifikation kommt von den vergangenen Samskaras (Eindrücken) aus früheren Leben. Samskara für Samskara muss ersetzt werden, wie im Beispiel von dem Baumwolltuch, das wir in ein goldenes Tuch umwandeln können, indem wir Faden für Faden auswechseln. Deshalb dauert es so lange, bis man die Selbstverwirklichung erreicht.
28. Hânam eshâm kleshavad uktam
Hânam = Beseitigung; eshâm = von diesen; kleshavat = wie das der Leiden; uktam = wurde beschrieben
Ihre Beseitigung wird auf dieselbe Art erreicht wie die Beseitigung der Leiden, wie früher beschrieben wurde.
Wir hatten von den Ursachen der Kleshas, der Leiden gesprochen, nämlich Avidya, Asmita, Raga, Dwesha, Abhinidwesha, also Unwissenheit, Ego, Mögen, Nichtmögen und Angst. Auch die Samskaras (Eindrücke) rühren letztlich vom Handeln aus den Kleshas (Leiden) her. Das hinterlässt Eindrücke im Unterbewusstsein, die dazu führen, dass die Unterscheidungskraft nicht dauerhaft ist.
29. Prasamkhyâne ¢py akusîdasya sarvathâ viveka-khyâter dharma-meghah samâdhih
Prasamkhâne = in Kenntnis der höchsten Meditation; api = sogar; akusîdasya = kein Interesse haben, den Wunsch aufgeben; sarvathâ = auf jede Weise; viveka–khyâteh = Unterscheidungskraft; dharma–meghah = Herabströmen der Dharmas; Samâdhih = überbewusster Zustand
Wer selbst den Wunsch nach dem höchsten Bewusstseinszustand aufgegeben hat und Unterscheidungskraft übt, bekommt Dharma-Meghah-Samadhi.
Wenn man schließlich sogar den Wunsch nach Befreiung aufgegebenen hat, erreicht man nicht nur normalen Samadhi, sondern Meghah-Samadhi, ja sogar Dharma-Meghah-Samadhi.
Dharma-Meghah-Samadhi heißt eigentlich „Die Wolke“. Shri Karthikeyan hat mir mal gesagt, die Übersetzung von Swami Vishnu sei hier nicht ganz treffend. Aber Swami Vishnu hält sich sehr eng an Vivekanandas Interpretation der Yoga Sutras, daher scheint es zumindest eine verbreitete Übersetzung zu sein.
Das Hauptmittel zur Befreiung ist der Wunsch nach Befreiung. Aber er ist gleichzeitig auch das letzte Hindernis. Ganz zum Schluss, wenn wir sehr weit entwickelt sind, müssen wir auch den Wunsch nach Befreiung aufgeben. Dann sind wir befreit. Das mag paradox klingen.
Wenn wir zum Beispiel aufs Dach steigen wollen, was benutzen wir? – Eine Leiter. Das Mittel, um aufs Dach zu steigen, ist eine Leiter. Und was müssen wir als letztes tun, um wirklich auf das Dach zu kommen? – Die Leiter verlassen. Das letzte Hindernis vor der Berührung des Daches ist die letzte Stufe der Leiter und vielleicht auch die Sicherheit der Leiter.
30. Tatah klesha-karma-nivrittih
Tatah = daher; klesha = Leiden; karma = Handlung und ihre Folgen; nivrittih = Aufhören, Freiheit von
Daraus folgt Befreiung von allen Leiden und Karma.
31. Tadâ sarvâvarana-malâpetasya jnânasyâ-nantyâj jneyam alpam
Tadâ = dann; sarva = alle; âvarana = das, was verschleiert, verhüllt; mala = Unreinheiten; apetasya = ohne, nach Beseitigung von; jnânasya = vom Wissen; ânantyât = wegen der Unendlichkeit von; jneyam = das Erfahrbare; alpam = nur wenig
Dann, mit der Beseitigung aller Ablenkungen und Unreinheiten wird es ersichtlich, dass das, was vom Geist erkannt werden kann, winzig ist, verglichen mit dem unendlichen Wissen der Erleuchtung.
Dann erkennen wir: Alles, was vorher war, war eigentlich nichts im Vergleich zu dem, was wir jetzt erfahren.
32. Tatah kritârthânâm parinâma-krama-samâptir gunânâm
Tatah = dadurch; kritârthânâm = nachdem sie ihren Zweck erfüllt haben; parinâma = von den Veränderungen; krama = Vorgang; samâptih = das Ende; gunânâm = der drei Gunas, Grundeigenschaften
Die drei Gunas, die ihren Zweck, den Vorgang der Veränderung, erfüllt haben, hören auf zu existieren.
Haben wir die Selbstverwirklichung erreicht, dann verschwinden die drei Gunas für uns. Die Verbindung von Prakriti (Natur) und Purusha (Selbst) löst sich auf.
33. Kshana-pratiyogî parinâmâparânta-nigrâhyah kramah
Kshana = Augenblicke; pratiyogî = entsprechend; parinâma = Wechsel; aparânta = am Ende; nirgrâhyah = wahrnehmbar, ersichtlich; kramah = Vorgang, Aufeinanderfolge
Der Vorgang der Aufeinanderfolge von Augenblicken wird am Ende der Umwandlung der Gunas ersichtlich.
Das Leben besteht aus aufeinanderfolgenden Augenblicken. Es erscheint so, als hätten diese alle etwas miteinander zu tun, aber eigentlich läuft nur ein Film ab. Einige Verse weiter oben hat Patanjali uns ja schon die Illusion von einem freien Willen geraubt, indem er gesagt hat:
Es existiert schon alles und wir gehen einfach irgendwie hindurch. Wenn wir ins Kino gehen, können wir uns entscheiden, welchen Film wir anschauen. Im Film entwickelt sich die Handlung schrittweise, so, als entstünde sie gerade eben. Alles verläuft meist sehr dramatisch, man bangt mit dem Helden und der Heldin, freut sich über das Happyend oder ist traurig, wenn es ausbleibt. Aber es ist alles vorher schon auf einem Zelluloidstreifen aufgezeichnet. So ist es mit dieser Welt.
Letzter Vers:
34. Purushârtha-shûnyânâm gunânâm pratiprasavah kaivalyam svarûpapratishthâ va chiti–shakter iti
Purushârtha = Ziel des Purusha, des Selbst; shûnyânâm = ohne; gunânâm = der Gunas, der Grundeigenschaften; pratiprasavah = Rückgang, Wiedereintauchen; Kaivalyam = Befreiung; svarûpa = in der eigenen Natur; pratishthâ = Niederlassung, Rückzug; vâ = oder; chiti–shakteh = von der Kraft des reinen Bewusstseins; iti = Ende
Kaivalya ist der Zustand, in dem die Gunas ins Gleichgewicht kommen und verschmelzen. Sie haben keinen Bezug mehr zu Purusha. Die Seele ruht in ihrer wahren Natur – reinem Bewusstsein.
Dann sind wir befreit: Nichts mehr zu tun, kein Leid, kein Vergnügen, kein Schmerz, keine Aufgaben, keine Mantras, keine Asanas, nichts.
Ist das nicht langweilig? Es gibt dann nicht mehr die Frage von Langeweile, weil es keine Zeit mehr gibt. Es gibt auch niemanden, dem es langweilig werden könnte, denn es gibt nur noch eine Bewusstheit, Sat Chid Ananda, reines Sein, Wissen und Glückseligkeit.



