Das ist die Ursache für Sucht. Es ist nicht, was Sie denken
Johann Hari
Es ist jetzt einhundert Jahre her, seit Drogen für illegal
erklärt wurden. Während des gesamten Jahrhunderts wurde Krieg
gegen die Drogen geführt und uns wurde von unseren Lehrern und
unserer Regierung ein Märchen über die Sucht aufgetischt.
Dieses Märchen ist so tief in unseren Gehirnen verwurzelt, dass
wir es für bare Münze nehmen. Es erscheint so überzeugend. Es
erscheint augenscheinlich so richtig. Bis ich mich vor
dreieinhalb Jahren auf eine fast 50.000 Kilometer weite Reise
machte, um für mein Buch 'Chasing The Scream - The First And
Last Days of the War on Drugs' herauszufinden, was wirklich
hinter dem Drogenkrieg steckt, glaubte ich es auch.
Ich habe auf meiner Reise jedoch gelernt, dass fast alles, was
uns über Sucht beigebracht wurde, falsch ist - und dass eine
ganz andere Geschichte darauf wartet, erzählt zu werden - wenn
wir nur bereit sind zuzuhören.
Wenn wir diese neue Geschichte wirklich annehmen, werden wir
viel mehr ändern müssen als den Krieg gegen die Drogen - wir
werden uns selbst ändern müssen.
Das habe ich von einer ungewöhnlichen Mischung Menschen gelernt,
die ich auf meiner Reise kennengelernt habe. Da waren die noch
lebenden Freunde von Billie Holiday, die mir berichteten, dass
der Begründer des Krieges gegen die Drogen sie stalkte und dabei
half, sie umzubringen.
Dann der jüdische Doktor, der als Baby aus dem Budapester Ghetto
geschmuggelt wurde und als Erwachsener die Geheimnisse der Sucht
entschlüsselte. Außerdem der transsexuelle Crack-Dealer, der
gezeugt wurde, als seine Mutter, eine Crack-Süchtige, von seinem
Vater, einem Polizisten, vergewaltigt wurde. Und auch von einem
Mann, der zwei Jahre lang von einer grausamen Diktatur am Grund
eines Brunnens gefangen gehalten wurde, nur um später zum
Präsidenten von Uruguay gewählt zu werden und die letzten Tage
des Krieges gegen die Drogen einzuläuten.
Meine Gründe für die Suche nach Antworten waren ziemlich
persönlich. Eine meiner frühesten Kindheitserinnerungen ist,
dass ich es nicht schaffe, einen meiner Verwandten zu wecken.
Seitdem beschäftige ich mich gedanklich mit dem Mysterium Sucht
- was bringt Menschen dazu, sich so auf eine Droge oder ein
Verhalten zu fixieren, dass sie nicht mehr damit aufhören
können? Wie können wir diesen Menschen helfen, zu uns
zurückzufinden?
Als ich älter wurde, wurde ein weiterer enger Verwandter von mir
kokainsüchtig und ich entwickelte eine enge Beziehung zu einem
Heroinsüchtigen. Vermutlich fühlte sich die Sucht einfach
vertraut an.
Hätten Sie mich anfangs gefragt, wodurch die Drogensucht
ausgelöst wird, hätte ich Sie angeschaut, als seien Sie ein
Idiot und gesagt: „Na, Drogen!" Das ist eine ganz einfache
Schlussfolgerung und ich dachte, ich hätte dies in meinem
eigenen Leben bereits beobachtet. Auf diese Weise können wir
alle es erklären.
Stellen Sie sich vor, Sie und ich und die nächsten 20 Leute, die
uns auf der Straße begegnen, würden für die nächsten 20 Tage
eine starke Droge nehmen. Die Droge enthält süchtig machende
Chemikalien. Wenn wir also am 21. Tag aufhören sie zu nehmen,
brauchen unsere Körper diese Chemikalie. Wir hätten ein heftiges
Verlangen danach. Wir wären süchtig. Das ist es, was eine Sucht
ausmacht.
Diese Theorie wurde ursprünglich durch Rattenexperimente
aufgestellt - Experimenten, mit denen wir in den 1980ern
geradezu indoktriniert wurden, durch eine bekannte Werbung von
der Partnership for a Drug-Free America. Vielleicht erinnern Sie
sich daran.
Das Experiment ist ganz simpel: Eine Ratte wird alleine mit zwei
Flaschen Wasser in einen Käfig gesetzt. In einer Flasche ist
einfach nur Wasser, die andere enthält jedoch etwas Heroin oder
Kokain. Beinahe jedes Mal, wenn dieses Experiment durchgeführt
wird, wird die Ratte völlig besessen von dem „Drogenwasser" und
trinkt so lange immer wieder davon, bis sie daran stirbt.
In dem Spot wurde erklärt: „Es gibt nur eine Droge, die so
suchterzeugend ist, dass neun von zehn Laborratten davon
abhängig werden, und sie wieder und wieder einnehmen - bis sie
tot sind. Diese Droge heißt Kokain. Und Sie kann Ihnen das
Gleiche antun."
In den 1970ern bemerkte ein Psychologie-Professor aus Vancouver
namens Bruce Alexander jedoch, dass etwas mit dem Experiment
nicht stimmte. Die Ratte wird alleine in den Käfig gesetzt. Sie
hat nichts anderes zu tun, als Drogen zu nehmen. Er fragte sich,
was passieren würde, wenn er es etwas anders aufziehen würde.
Also baute Professor Alexander einen Rattenpark. Das war ein
luxuriöser Käfig, in dem den Ratten bunte Bälle, das beste
Rattenfutter, Tunnel, durch die sie klettern konnten und jede
Menge Freunde zur Verfügung standen: also alles was das
Rattenherz begehrt. Was würde passieren, wollte Alexander
wissen, wenn das Experiment in dieser Umgebung durchgeführt
würde?
In diesem Rattenpark probierten die Ratten natürlich auch beide
Wasserflaschen aus, da sie nicht wussten was darin war. Was als
nächstes passierte, war jedoch überraschend.
Die Ratten, die ein gutes Leben führten, mochten das mit Drogen
versetzte Wasser nicht. Sie mieden es zumeist und nahmen weniger
als ein Viertel der Menge zu sich, die die isolierten Ratten
konsumierten. Und keine von ihnen starb. Während die einsamen,
unglücklichen Ratten alle schwerabhängig wurden, wurde es keine
der Ratten mit einem glücklichen Umfeld.
Ich dachte zunächst, dass dies eine Eigenart der Ratten sei, bis
ich entdeckte, dass gleichzeitig mit dem Rattenpark-Experiment
eine nützliche Studie mit Menschen durchgeführt wurde. Sie
nannte sich Vietnamkrieg. Das Magazin TIME berichtete, dass
Heroinkonsum unter US-Soldaten so verbreitet war wie
Kaugummikauen.
Und dies lässt sich durch harte Fakten untermauern: Über 20
Prozent der US-Soldaten wurden laut einer Studie der Archives of
General Psychology heroinabhängig. Verständlicherweise hatten
viele Menschen große Angst - schließlich glaubten sie, dass mit
Ende des Krieges eine beträchtliche Anzahl Süchtiger heimkehren
würde.
Tatsächlich hörten jedoch laut der Studie etwa 95 Prozent der
süchtigen Soldaten einfach auf, die Droge zu nehmen. Einige
wenige durchliefen Entzugstherapien. Sie wurden von einem
beängstigenden Käfig zurück in einen sehr schönen gesetzt, also
wollten sie die Droge nicht mehr.
Professor Alexander erklärt, dass diese Entdeckung sowohl die
konservative Ansicht anficht, dass Sucht eine moralische
Schwäche ist, die durch zu viel Hedonismus und zu viele Partys
ausgelöst wird, als auch die liberalere Sichtweise, dass Sucht
eine Krankheit des durch Chemikalien überfluteten Gehirns ist.
Seiner Meinung nach ist Sucht eine Anpassung - nicht Teil der
Persönlichkeit, sondern ausgelöst durch den Käfig, der uns
umgibt.
Nach der ersten Phase des Rattenparks, ging Professor Alexander
noch einen Schritt weiter. Er führte das Experiment, in dem die
Ratten isoliert und schwer abhängig wurden, noch einmal durch
und ließ sie die Droge für 57 Tage nehmen - wenn irgendwas eine
Sucht auslösen kann, dann das. Danach nahm er sie aus der
Isolation und setzte sie in den Rattenpark. Er wollte wissen, ob
eine Sucht so sehr die Kontrolle über das Gehirn übernimmt, dass
es unmöglich ist, sich wieder zu erholen.
Übernehmen die Drogen die vollständige Kontrolle? Es war
wiederum verblüffend, was passierte. Die Ratten schienen einige
Entzugssymptome aufzuweisen - beendeten ihren Drogenkonsum
jedoch bald und führten ein normales Leben. Der gute Käfig
rettete sie. (Die Quellenangaben zu den Studien, die ich hier
erwähne, werden in meinem Buch vollständig aufgeführt.)
Als ich dies zum ersten Mal hörte, war ich verwirrt. Wie konnte
das sein? Diese neue Theorie stellte alles, was ich gelernt
hatte, so sehr in Frage, dass ich glaubte, sie könne nicht wahr
sein. Aber je mehr Wissenschaftler ich interviewte und je tiefer
ich mich in ihre Studien einarbeitete, desto mehr Punkte fand
ich, die keinen Sinn ergaben - außer dieser neue Ansatz wurde
berücksichtigt.
Hier ist ein Beispiel für ein Experiment, das überall um Sie
herum stattfindet und das Sie vielleicht eines Tages auch
betreffen mag: Wenn Sie heute angefahren werden und sich die
Hüfte brechen, wird Ihnen vermutlich Diamorphin verabreicht -
das ist der medizinische Name für Heroin. Im Krankenhaus rund um
Sie wird einer Menge Patienten ebenfalls für längere Zeiträume
Heroin verabreicht - zur Schmerztherapie.
Das Heroin, das Sie von Ihrem Arzt erhalten, ist sehr viel
reiner und potenter als das, welches die Süchtigen auf der
Straße kaufen, da diese es von Kriminellen kaufen, die es
gepanscht haben. Wenn also die alte Theorie über Sucht stimmt,
sind es die Drogen, die Sie abhängig machen - dann ist
offensichtlich, was passieren sollte: Massen von Menschen, die
das Krankenhaus verlassen, müssten versuchen, auf der Straße
ihren nächsten Schuss zu kaufen, um ihre Sucht zu befriedigen.
Das Seltsame ist jedoch, dass das so gut wie nie passiert. Wie
der kanadische Arzt Gabor Mate mir als Erster erklärte, hören
Menschen, die es aus medizinischen Gründen verwenden, einfach
auf - obwohl sie es monatelang angewendet haben. Die gleiche
Droge über den gleichen Zeitraum angewendet macht aus
Drogenkonsumenten auf der Straße verzweifelte Abhängige -
beeinflusst Patienten jedoch nicht.
Wenn Sie immer noch überzeugt sind, dass Sucht durch Chemikalien
ausgelöst wird, ergibt diese Beobachtung keinen Sinn. Wenn Sie
jedoch an Bruce Alexanders Theorie glauben, lässt sich alles
erklären. Der Drogensüchtige auf der Straße lässt sich mit den
Ratten im ersten Käfig vergleichen: isoliert, alleine und mit
nur einer Quelle des Trostes. Der Patient im Krankenhaus ist wie
die Ratten im zweiten Käfig: Er geht nach Hause - zurück zu
einem Leben, wo er von geliebten Menschen umgeben ist. Die Droge
ist die gleiche, aber das Umfeld ist ein anderes.
Dies ermöglicht uns viel tiefergehende Erkenntnisse als das
Bedürfnis, Drogensüchtige zu verstehen. Professor Peter Cohen
argumentiert, dass Menschen ein tiefverwurzeltes Bedürfnis haben
Beziehungen aufzubauen. So erreichen wir Zufriedenheit.
Wenn wir keine Verbindung zu anderen aufbauen können, bauen wir
Beziehungen zu allem auf, das wir finden können - sei es das
Wirbeln des Roulettes oder der Stich einer Nadel. Cohen findet,
wir könnten aufhören von „Sucht" zu reden und es stattdessen
„Verbindung" nennen. Eine Heroinsüchtige ist eine Verbindung mit
Heroin eingegangen, weil sie keine Verbindung mit einem Menschen
eingehen konnte.
Das Gegenteil von Sucht ist also nicht Nüchternheit, sondern
menschliche Beziehungen und soziale Kontakte.
Ich erfuhr all dies und es überzeugt mich langsam, dennoch
nagten an mir immer noch die Zweifel. Behaupteten diese
Wissenschaftler tatsächlich, dass die Chemikalien keinerlei
Einfluss hätten? Es wurde mir so erklärt: Wenn man spielsüchtig
wird, glaubt auch niemand, dass man sich einen Stapel Karten
durch die Adern jagt. Es ist möglich, genauso süchtig zu sein
und das ganz ohne Chemikalien.
Ich ging zu einem Treffen der Anonymen Spieler in Las Vegas
(natürlich mit der Erlaubnis aller Anwesenden, die wussten, dass
ich da war, um zu beobachten) und sie waren genauso abhängig wie
die Kokain- und Heroinsüchtigen, die ich aus meinem eigenen
Leben kannte. Und doch sind an einem Würfeltisch keine
Chemikalien im Spiel.
Aber dennoch mussten die Chemikalien doch irgendeine Rolle
spielen? Ich fand in Richard DeGrandpres Buch „The Cult of
Pharmacology" ein Experiment, dass darauf eine ganz konkrete
Antwort gibt.
Jeder würde mir zustimmen, wenn ich sage, dass Zigaretten zu den
süchtigmachendsten Gewohnheiten überhaupt gehören. Die
Chemikalie in Zigaretten heißt Nikotin. Als in den 1990ern
Nikotinpflaster entwickelt wurden, gab es eine riesige Welle des
Optimismus - Zigarettenraucher konnten nun ihre Chemikalien
bekommen, ohne die schmutzigen und tödlichen Auswirkungen des
Rauchens. Sie konnten frei sein.
Laut Erkenntnissen des Gesundheitsministeriums konnten sich
jedoch nur 17,7 Prozent der Raucher mit Nikotinpflastern das
Rauchen abgewöhnen. Das ist schon einmal etwas. Wenn also 17,7
Prozent der Suchtfälle durch Chemikalien verursacht werden, sind
es Millionen von Leben weltweit, die ruiniert werden. Es deckt
aber ebenfalls auf, dass die Theorie, dass Sucht durch
Chemikalien ausgelöst wird, nur ein kleiner Teil eines viel
größeren Gesamtbildes ist.
Und das hat enorme Auswirkungen auf den hundertjährigen Krieg
gegen die Drogen. Dieser Krieg, der Menschen von den
Einkaufszentren in Mexiko bis zu den Straßen von Liverpool
tötet, basiert auf der Behauptung, dass wir eine ganze Klasse
von Drogen physisch ausmerzen müssen, da sie die Kontrolle über
die Gehirne von Menschen übernehmen und so die Sucht
verursachen. Wenn Drogen jedoch gar nicht die Ursachen für die
Sucht sind, sondern fehlende Verbundenheit, dann ergibt dieser
ganze Krieg gegen die Drogen keinen Sinn.
Ironischerweise verstärkt der Krieg gegen die Drogen sogar all
die tatsächlichen Ursachen für Sucht: Ich war zum Beispiel in
einem Gefängnis in Arizona - 'Tent City' - in dem die Häftlinge
wochenlang in winzigen Isolierungszellen aus Stein eingesperrt
werden, dem sogenannten Loch.
Ich kann mir keine bessere menschliche Entsprechung für den
Isolationskäfig vorstellen, der Ratten zu tödlicher Abhängigkeit
getrieben hat. Und wenn diese Häftlinge entlassen werden, finden
sie keine Arbeit, da sie eine Strafakte haben - was wiederum zu
einer noch größeren Isolation führt. Ich konnte dies bei meiner
Reise um die Welt überall in menschlichen Schicksalen
beobachten.
Es gibt eine Alternative. Es kann ein System aufgebaut werden,
dass Drogenabhängigen hilft, wieder eine Verbindung zur Welt
aufzubauen und so ihre Sucht hinter sich zu lassen.
Das ist nicht bloß graue Theorie. Dieser Ansatz wird umgesetzt
und ich habe es mit eigenen Augen gesehen. Vor fast fünfzehn
Jahren hatte Portugal eines der schwersten Drogenprobleme in
Europa - ein Prozent der Bevölkerung war heroinsüchtig. Sie
hatten es mit einem Krieg gegen die Drogen versucht, doch das
Problem verschlimmerte sich nur weiter.
Daher wurde beschlossen, einen radikal anderen Ansatz zu testen.
Es wurde beschlossen, alle Drogen zu entkriminalisieren und die
Gelder, die bisher für die Verhaftung und die Haft von
Drogensüchtigen verwendet wurden, darein zu investieren, sie
wieder mit ihren eigenen Gefühlen und der Gesellschaft in
Kontakt zu bringen.
Der wichtigste Schritt hierbei war, ihnen eine sichere
Unterkunft und subventionierte Jobs zu verschaffen - um ihrem
Leben einen Sinn und ihnen einen Grund zu geben, morgens
aufzustehen. Ich beobachtete, wie ihnen in warmen und
freundlichen Kliniken geholfen wurde, wieder einen Zugang zu
ihren Gefühlen zu bekommen, nach jahrelangen Traumata und dem
Versuch, diese mit Drogen zum Schweigen zu bringen.
Ein Beispiel, das ich sah, waren ein paar Süchtige, denen ein
Kredit gewährt wurde, um eine Spedition zu gründen. Sie waren
plötzlich eine Gruppe und gehörten zusammen, sie wurden ein Teil
der Gesellschaft und waren füreinander verantwortlich.
Die Ergebnisse dieses Versuchs sind jetzt da. Eine unabhängige
Studie des britischen Journal of Criminology fand heraus, dass
seit der Entkriminalisierung, die Zahl der Süchtigen und der
Konsum von injizierbaren Drogen um 50 Prozent abgenommen haben.
Ich wiederhole: Der Konsum von injizierbaren Drogen hat um 50
Prozent abgenommen.
Die Entkriminalisierung war so ein durchschlagender Erfolg, dass
nur sehr wenige Menschen zum alten System zurückkehren wollen.
Der stärkste Gegner der Entkriminalisierung im Jahr 2000 war
João Figueira - der führende Drogenfahnder des Landes. Er hatte
all die düsteren Warnungen parat, die man vom Daily Mail oder
Fox News erwarten würde.
Aber als ich mich mit ihm in Lissabon traf, erzählte er mir,
dass seine Vorhersagen nicht eingetroffen seien - und dass er
nun hoffe, dass die ganze Welt dem Beispiel Portugals folgen
würde.
Das betrifft nicht nur die Süchtigen, die mir persönlich etwas
bedeuten. Es betrifft uns alle, da es uns zwingt, anders über
uns selbst zu denken. Menschen sind Tiere, die Beziehungen zu
anderen haben. Wir brauchen den Kontakt und die Liebe.
Der weiseste Satz des zwanzigsten Jahrhunderts stammt von E. M.
Forster - only connect. Er wollte damit ausdrücken, dass wir
durch den Kontakt zu anderen Menschen alle Unterschiede
überbrücken können. Wir aber haben ein Umfeld und eine Kultur
geschaffen, die uns von diesem Kontakt abschneidet oder uns über
das Internet nur eine Parodie dessen bietet.
Der Anstieg der Sucht ist ein Symptom der Krankheit, die unsere
ganze Lebensweise befallen hat - unser Blick wird magisch vom
nächsten glitzernden Gegenstand angezogen, den wir kaufen
könnten, anstatt dass wir den Menschen um uns herum
Aufmerksamkeit schenken.
Der Autor George Monbiot nennt dies „das Zeitalter der
Einsamkeit". Wir haben Gesellschaften geschaffen, in denen es
für Menschen einfacher denn je zuvor ist, sich von allen
menschlichen Kontakten abzukapseln.
Bruce Alexander - der Erfinder des Rattenparks - sagte mir, dass
wir uns allzu lange mit individueller Genesung von der Sucht
beschäftigt hätten. Wir müssen uns stattdessen mit der Genesung
der Gesellschaft beschäftigen - damit, wie wir alle uns zusammen
von der Krankheit der Isolation erholen können, die auf uns
lastet wie ein dicker Vorhang.
Diese neuen Erkenntnisse sind nicht nur eine politische
Herausforderung für uns. Sie zwingen uns nicht nur zum Umdenken.
Sie zwingen uns auch, unsere emotionale Einstellung zu ändern.
Es ist schwer, einen Süchtigen zu lieben. Wenn ich an die
Süchtigen dachte, die mir viel bedeuteten, war ich oft versucht,
dem Ansatz der liebevollen Strenge zu folgen, der von
Reality-Shows wie Intervention propagiert wird: Dem Süchtigen
wird gesagt, er solle sein Leben auf die Reihe bekommen,
ansonsten würde er aus dem Leben seiner Lieben gestrichen.
Ihre Botschaft ist also, dass ein Süchtiger, der sich nicht
ändert, geächtet werden sollte. Diese Logik steht auch hinter
dem Krieg gegen die Drogen und wurde in unser Privatleben
übernommen. Meiner Erfahrung nach wird die Sucht dadurch jedoch
nur verstärkt - und der geliebte Mensch entfernt sich noch
weiter, bis man ihn für immer verliert.
Ich kehrte von meiner Reise mit dem festen Vorsatz zurück, die
Süchtigen in meinem Leben enger an mich zu binden - um sie
wissen zu lassen, dass ich sie bedingungslos liebe, unabhängig
davon, ob sie sich von ihrer Sucht lösen können oder nicht.
Als ich von meiner langen Reise zurückkehrte, schaute ich meinen
Ex-Freund an, wie er vom Entzug zitternd auf meinem Gästebett
lag, und dachte anders über ihn. Seit einem Jahrhundert singen
wir Kriegslieder über Süchtige. Während ich ihm die Stirn
abtupfte, kam mir der Gedanke, dass wir von Anfang an
Liebeslieder hätten singen sollen.
Sie können die ganze Geschichte über Johann Haris Reise in
seinem Buch 'Chasing The Scream: The First and Last Days of the
War on Drugs' nachlesen, das von Bloomsbury veröffentlicht wurde
und in dem er über die Geschichten der Menschen berichtet, die
ihm unterwegs begegnet sind. Das Buch wurde von jedem gelobt,
von Elton John über Glenn Greenwald bis Naomi Klein. Es ist in
jedem guten Buchladen erhältlich. Weitere Informationen bekommen
Sie unter
www.chasingthescream.com.
Dieser Beitrag erschien zuerst in der HuffPost US und stammt von Johann Hari. Er wurde von Anne Warmbier aus dem Englischen übersetzt.