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Sivanandas Integraler Yoga

Eine der inspirierendsten Beschreibungen, wie Swami Sivananda den ganzheitlichen Yoga an seine Schüler weitergegeben hat.

Mit vielen Anekdoten aus dem Leben von Swami Sivananda und von Swami Venkatesananda

Übersetzt vom Sivananda Yoga Zentrum München

Inhaltsverzeichnis:

1. Kapitel

2. Kapitel

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1. Kapitel

EIN WENIG VON ALLEM

In der Geschichte der Welt gab es Heilige, Weise und Propheten, die die eine oder andere Methode praktizierten oder lehrten, um an das Ziel der Selbstverwirklichung zu gelangen. Gurudev, der Prophet des integralen Yoga, aber betonte: „Es ist nicht genug, nur eine einzige Art von spiritueller Disziplin zu praktizieren, wie groß die Bemühung dabei auch sein mag. Jeder Suchende muss in sein spirituelles Programm alle Punkte aller Yogas oder Möglichkeiten, um zu Gott zu kommen, aufnehmen.“

Gurudev hatte keine eigene Doktrin. Er trug dieselbe Botschaft weiter, die uns seit Anbeginn der Zeiten vom Göttlichen gegeben worden war. Seine Lippen waren Gottes Lippen. Er war eins mit Gott. Wenn wir es dennoch riskieren wollen, eine Doktrin aus seiner Lehre abzulesen, dann kann seine einzigartige Methode in der Wisssenschaft des Yoga „Der Yoga des ein wenig von allem“, Yoga der Synthese, genannt werden. Er machte uns darauf aufmerksam, dass nur eine harmonische Entwicklung des gesamten Wesens uns leicht zum Ziel führen kann. Jede Schwachstelle in der Struktur würde das Ganze zunichte machen.

Er verfasste ein ganz einfaches aber schönes kleines Lied, das er nach der Melodie des Mahamantra bei jedem von ihm geleiteten Treffen sang, besonders während seiner Indien-Ceylon-Tour im Jahre 1950.

Hare rama, hare rama, rama rama, hare hare
Hare krishna, hare krishna, krishna krishna, hare hare
Iss ein wenig, trink ein wenig;
Sprich ein wenig, schlaf ein wenig;
Ein wenig Gesellschaft, ein wenig Bewegung;
Diene ein wenig, gib ein wenig;
Arbeite ein wenig, ruhe ein wenig;
Lies ein wenig, Gottesdienst ein wenig;
Mach ein wenig Asanas, ein wenig Pranayama;
Reflektiere ein wenig nach, meditiere ein wenig;
Mach ein wenig Japa, mach ein wenig Kirtan;
Schreib ein wenig Mantra, hab ein wenig Satsang.
Mach das alles wenig, wenig. Dann hast du Zeit für alles.

War der Meister dagegen, dass man von all den wunderbaren Dinge – wie Japa, Asanas oder Meditation – mehr machte? Man fragt: „Warum nur ein wenig, warum nicht viel?“ Dann wird weiter hineininterpretiert: „Mache wenigstens ein wenig…“ Er meinte aber tatsächlich genau das: „Mach ein wenig von jedem, spezialisiere dich nicht.“ Das war die Botschaft – das Ego schreit nach Spezialisierung, denn der Spezialist wird von der Menge bewundert. Spezialisierung mästet das Ego, schwächt Toleranz und Verständnis und lässt Verachtung und Hass entstehen.
Yoga ist Harmonie. Eine wunderschöne, symetrische und integrale Entwicklung des gesamten Wesens, und das heißt, jeder Aspekt der Persönlichkeit muss täglich geübt werden. Ansonsten entsteht ein Ungleichgewicht der Persönlichkeit – und das ist nicht Yoga. Bei Gurudevs Methode kann daher nicht zuviel Zeit pro Tag für eine einzelne Praktik erübrigt werden, egal für welche. Ein wahrer Anhänger von Swami Sivananda kann von allem nur ein wenig machen. Das fördert eine harmonische Entwicklung, Gesundheit (Ganzsein) von Körper, Geist und Seele.

Schon in der letzten Phase seines Medizinstudiums war es Gurudev ein großes Anliegen, dass die Menschen die Kunst des gesunden Lebens kennen und nicht so sehr die Technik des Heilens. Die Notwendigkeit einer Heilbehandlung entsteht nur dann, wenn man dumm genug war, krank zu werden. Warum beugt man nicht vor? Kurz nach Verlassen der Universität begann er mit der Veröffentlichung einer Zeitschrift mit dem Namen „Ambrosia“, und in dieser Zeitschrift publizierte er jeden kleinen geheimen oder nicht geheimen Hinweis, den er aufstöbern konnte. Die Menschen müssen dazu erzogen werden, sich davor zu bewahren, krank zu werden, nicht so sehr darin, eine Behandlung zu finden. Heilen ist nur eine Notmaßnahme.

Sein ganzes Leben lang engagierte er sich leidenschaftlich dafür, Wissen und Dienen so vielen Menschen wie möglich verfügbar und unentgeltlich zugänglich zu machen. Das waren die beiden einzigartigen Leidenschaften des Meisters – Gesundheit und Dienen. Geheimnisse waren nicht seine Sache („Ich habe dieses spezielle exklusive Mittel, kommt zu MIR.“). Wenn er auf eine geheime Theorie stieß, musste sie am nächsten Tag veröffentlicht werden. Als eines Tages jemand im Ashram einen Fernkurs mit Swamijis Schriften machen wollte, wobei jeden Monat eine Lektion veröffentlicht und mit dem Projekt Geld verdient werden sollte, stimmte Swamiji zu. Sobald das geschehen war, ließ Swamiji die Lektionen sofort wieder zu einem Buch zusammenfassen und zur unmittelbaren, meist kostenlosen, Verteilung herausgeben.

Er war von Beruf Arzt, der alles daransetzte, dabei zu helfen, dass man nicht zum Arzt gehen musste. Auch die Praxis von Yoga Asanas, die er in Malaysia mit Hilfe von Büchern mit großer Begeisterung begann, wurde Teil seiner ganzheitlichen Gesundheitsmethode. Sein Buch über Hatha Yoga enthält die Grundessenz der alten traditionellen Texte. Die Bedeutung von Hatha Yoga im Gesamtkonzept seiner Lehre war es, gesund, wirklich gesund, zu bleiben.

Wie ist man gesund? Was bedeutet ‚Gesundheit‘ tatsächlich? Gesundheit wird definiert als GANZSEIN. Man kann nicht auf Kosten geistiger Gesundheit körperlich gesund sein. Es gibt keine körperliche Gesundheit. Da Gesundheit Ganzsein ist, kann sie nicht in körperlich, geistig und seelisch unterteilt werden. Eine harmonische Entwicklung von Körper und Geist war Gurudevs Spezialität. Häufig kommt er in seinen Schriften über körperliche Yogadisziplin auf geistige Gesundheit, seelisches Wohlbefinden zurück. Wenn der Geist völlig in Unordnung und neurotisch ist, kann der Körper nicht gesund sein, auch wenn man noch so viele Asanas macht, gleichgültig wie lange und gleichgültig wie perfekt.

YOGA ASANAS

Gurudev vernachlässigte die Praxis seine Yoga Asanas nicht einmal einen einzigen Tag. Er selbst begann damit erst, als er fast dreißig war. Er sagte immer wieder: „Es ist nie zu spät zu beginnen, und es gibt keine Umstände, unter denen die Asanas aufzugeben wären; auch während einer Krankheit sollte man die Asanas nur abändern, um sie dem Zustand des Körpers anzupassen.“ In den besten Zeit machte er fünf oder zehn Minuten Sirsasana (Kopfstand). Er machte auch Sarvangasana (Schulterstand) und fügte diesen beiden einige weitere hinzu; einige Vorwärtsbeugende, Mahamudra, Paschimottasana und Halasana.

So waren auch einige leichte Körperübungen Bestandteil von Gurudevs täglicher Routine. „Im Bett sitzend gleich nach dem Aufwachen können diese Übungen in fünf Minuten gemacht werden.“ sagte er. Aus dem Sitz mit gekreuzten Beinen beugte er sich vor, dann lehnte er sich zurück, stützte den Rumpf mit den auf das Bett gelegten Handflächen und drehte dann den Oberkörper nach rechts und links. Er fasste seine Zehen und rollte mit rundem Rücken zurück. Dann verließ er das Bett, lehnte sich im Stehen von vorne an eine Wand und machte einige sanfte Rumpfdrehungen. Das kann jeder machen, es ist so einfach, und der Nutzen ist unermesslich.

Gurudev ermutigte auch andere voller Begeisterung zu dem, was ihm selbst gefiel. Er war durchaus kein Yoga Asana Spezialist, trotzdem war seine Begeisterung, wenn er darüber sprach, so ansteckend, dass das Gefühl entstand: „O, ich muss sofort damit beginnen.“ Noch in Malaysia wurde Gurudevs Koch, Sri Narasimha Iyer, auch von der Begeisterung des Doktors mitgerissen und machte eifrig mit ihm die Yoga Asanas. (Viele) Jahre später wurde er sein Sannyasin Schüler. Oft zeigte Swami Sivananda jungen Menschen Yoga Asanas, wo immer er sich gerade befand, auf einem Bahnsteig oder auf einem Trottoir. Er nannte es ‘agressives Dienen‘. „Warte nicht, bis jemand kommt, den Beitrag bezahlt und an deiner Stunde teilnimmt. Unterrichte ihn hier und jetzt, wo du auch bist.“ Gurudev war kein Freund von Theorien, die besagen: ‚Das ist Perfektion in dieser Asana.‘ Seine Lehre war: „Mach das, was dir jetzt und heute möglich ist, so gut du kannst, ehrlich, ernsthaft und aufrichtig – das ist Perfektion.“ Wenn du dich heute darum bemühst, und wenn du regelmäßig bist, kann es sein, dass du dich ein wenig weiterentwickelst, und immer etwas mehr. Aber schaue NICHT neidvoll, oder um es ihm gleichzutun, auf einen anderen.

Das war eine weitere Einzigartigkeit an Swami Sivananda – er konnte wirklich echt und aufrichtig jemanden bewundern, der etwas besser machte als er selbst. Nicht eine Spur von Eifersucht war in ihm. Es war bemerkenswert. Wenn zum Beispiel ein großer Hatha Yogi den Ashram besuchte (und es kamen viele) und dieser Mann dann fantastische Leistungen darbot, sprach Swamiji noch jahrelang über ihn, ohne jeden Vorbehalt: „Er ist ein Yogi! Er muss einzigartig auf der Welt sein!“ Offen pries er auch seine eigenen Schüler.

Der Meister mochte auch Gymnastik und Sport und ging sehr gern zu Fuß. Auch als Schüler war er schon ein so guter Turner, dass sein Lehrer ihn oft die Klasse unterrichten ließ. In der ersten Zeit seines Ashramlebens pflegte er um die Bhajanhalle zu laufen. Kann man sich diesen imposanten Mann vorstellen, diesen großen weltberühmten Swami Sivananda, den Weisen aus dem Himalaya, den großen Yogi aus Indien etc. etc., wie er seinen Dhoti (sein Lendentuch) hochband und um eine öffentliche Halle joggte? Er kannte keine Hemmungen. Mit einem alten Tennischläger und einem Ball spielte er auch mit sich selbst gegen eine Wand.

Im Sommer schwamm Gurudev sehr gern. Sein Kopf war kahl, und so saß er am Ufer des Ganges, nur mit einem Lendentuch bekleidet, und rieb seinen Körper sorgfältig mit Öl ein. Er hatte seine eigenen Gesundheitstips und Vorstellungen vom Sonnenbaden. Nicht nur die Haut muss der Sonne ausgesetzt werden, sondern auch Zunge und Zähne. Da saß er im Freien, lächelnd, grinste die Sonne an, streckte die Zunge heraus und badete sie im Sonnenlicht.

Gesundheit ist eine grundlegende Voraussetzung für spirituelle Praxis, und auch, um Freude am Leben zu haben oder geschäftlich erfolgreich zu sein, aber Gesundheit muss Körper, Geist und Seele umfassen. Es muss emotionale Ausgewogenheit herrschen und auch Entspannung und Ernährung sind wichtig.

yoga sedona

ERNÄHRUNG

„Das ist richtig, und das ist falsch.“ Ich habe nie gehört, dass er solche kategorischen Imperative festlegte. Man findet sie in seinen Büchern – aber dort gibt er nur die traditionelle Lehre wider. Hinsichtlich der Ernährung sagte er: „Iss sattvige Speisen.“ Nahrung, die nicht erregt, aus dem Gleichgewicht bringt oder die Ausgewogenheit stört. Das Prinzip, die Lehre, muss verstanden werden, und dann muss man sehen, was in der Phase, in der man sich befindet, entsprechend ist. Der Meister selbst aß sehr scharfe, stark gewürzte, pikante Speisen – aber das war in Ordnung für ihn. Du kannst ihn nicht nachahmen. Du musst herausfinden, was sattvige Nahrung für dich ist; und Swamiji sagte auch: „Sei vernünftig.“ Das scheint schwierig zu sein!
In der Ernährung und auch den Asanas betonte Gurudev mehr die psychischen Wirkungen: psychisch hinsichtlich der Wirkung auf das Nervensystem, den Geist und das innere psychische Prinzip, mehr als eine bloße physiologische Reaktion. Es muss also alles zusammengefügt und der Geist aufgenommen werden – denn die Wahrheit ist weder „dieses“ noch „jenes“ sondern etwas dazwischen.

PRANAYAMA

Gurudev war ein großer Anhänger und Verfechter von Pranayama. Er liebte es. Da sein Ideal ein integraler Yoga war, hatten darin sowohl Körperübungen als auch Kontrolle des Atems (und damit der Lebensenergie) ihren Platz. Pranayama durchflutet das System mit Frieden und Wonne. Es ist eine erstaunliche Tatsache, dass Swami Sivananda mehrere Stunden seines überaus arbeitsreichen Tages dieser Praxis widmete.

Ganz besonders mochte er das, was er ‘Sukha Purvaka’, das ‘einfache Pranayama’, nannte, das sehr leicht und bequem ist. Im Winter machte er auch Bhastrika: es war wunderschön, ihn dabei zu beobachten. Er bestand nicht darauf, den Atem so lange wie möglich anzuhalten (wie es die orthodoxen Texte zu sagen scheinen), sondern so lange, wie es bequem ist. Ist das Problem sofort ersichtlich? „Einatmen so lange wie es bequem ist, anhalten so lange wie es bequem ist, und ausatmen so lange wie es bequem ist.“ Zwei Worte sind gleich wichtig – ‚lange‘ und ‚bequem’. Es ist nicht so ‚kurz‘ wie bequem – dann würde alles richtig sein. Nein. Es muss verlängert werden. Das machte Gurudevs Yoga etwas schwieriger als die traditionelle Methode, wo eine eindeutige Regel und ein Maß als Anleitung festgelegt werden.

Gurudevs Pranayama erfordert Wachsamkeit. Man muss aufmerksam, ernsthaft und aufrichtig sein. Man muss an seine Grenzen gehen, darf sie aber nicht überschreiten. Es darf keinerlei Gewalt, keinen Kraftaufwand und keine Anspannung geben. So wird innere Harmonie gefördert. Yoga muss mit Ernsthaftigkeit praktiziert werden, aber ohne Gewalt, ohne Konkurrenzdenken. Es ist etwas Wunderbares. Es ist Sivanandas Yoga.

Er wachte ausnahmslos vor 3.00 morgens auf, was deutlich früher war, als er alle spirituell Suchenden aufzustehen aufforderte. Dann widmete er mehr als eine Stunde nur Pranayama, und im Laufe eines überaus arbeitsreichen Tages verbrachte er wenigstens noch weitere drei Stunden mit dieser Praxis, in mehreren Sitzungen, mmer wenn er dazu Zeit fand. In seinem letzten Lebensjahr, als er nicht mehr besonders viel im Bereich von Yogaasanas machen konnte, sagte er: „Bei jeder Gelegenheit mache ich Pranayama; auch im Liegen mache ich Pranayama und besonders in der Nacht, wenn ich nicht schlafen kann (nicht schlafe).“ Wenn er konnte, lehnte er sich gegen einige Kissen und machte es. Das war sein Rat an praktisch jeden, der ihm begegnete: „Wenn du die Yogaasanas nicht richtig machen kannst, dann mache einfach das, was dir möglich ist, aber übe sehr viel Pranayama.“ Er erkannte, dass Pranayama, nicht bloß Atemübungen, eine direkte Wirkung auf das Nervensystem und den Geist hat. Es fördert einen inneren Zustand des Wohlbefindens, der ganz anders ist als das, was wir üblicherweise Gesundheit nennen.

GESUNDHEIT NEU DEFINIERT

Wenn jemand sechs Monate lang nicht beim Arzt war, halten wir das für Gesundheit. In Gurudevs Fall bedeutete Gesundheit etwas darüber hinaus. Etwa ab fünfunddreißig litt er an Diabetes und später an Lumbago, und es gab noch weitere Probleme. Aber sein Gesicht strahlte und leuchtete, seine Augen funkelten vor Energie und Humor, und jede seiner Bewegungen war voll Liebe und Weisheit. Sein Geist, sein Gehirn, waren in höchstem Grad wach, auch als sein Körper schwach war. Er war auch physisch sehr attraktiv. Der kräftige Körper, der bei jemand anderem plump und hässlich hätte sein können, unterstrich nur seinen Charme und verstärkte seine majestätische Erscheinung. Auch die Haut war rein, klar und strahlend gepflegt. Seine Kleider waren stets makellos sauber. Auch wenn sein Körper krank war, hatte er dieses außergewöhnliche Leuchten, diesen Glanz.

Einmal hatte er schweren Thyphus und sein Körper war so geschwächt, dass wir ein- zweimal dachten, er würde sterben. Selbst dann glänzten seine Augen, und sein Gesicht strahlte. Er hatte etwa drei Wochen im Zimmer sein müssen und wollte die Sonne und den Ganges sehen. Langsam brachten wir ihn hinaus, und er lag in seinem Lieblingssessel. Wenn man ihn so sah, hätte man gesagt, dass alles in Ordnung wäre. Er bot einen wunderbaren Anblick, und er lachte, scherzte und sprach mit den Menschen. Nach etwa einer Stunde sagte er: „Gut, ich lege mich wieder hin. Wartet, ich versuche, selbst aufzustehen.“ Er setzte seine beiden Füße auf den Boden, und indem er sich auf die Lehnen des Sessel stütze, versuchte er, sich zu erheben … und brach zusammen …. glücklicherweise zurück in den Sessel. Vielleicht kann man sich die ganze Szene vorstellen. Du und ich, wir wären vermutlich ganz traurig und verzweifelt gewesen. Als er zusammenbrach, begann er zu lachen: „Hm, meine Beine haben ihre Kraft verloren.“ Das waren genau seine Worte: „Meine Beine“, nicht „Ich“.

Die Art und Weise, wie er auf die zahlreichen Krankheiten und Leiden reagierte, die seinen Körper befielen, kann als revolutionierende Neudefinition des gesamten Gesundheitsbegriffes gesehen werden. Gesundheit ist ein Geisteszustand, ein Zustand inneren Wohlbefindens, der es ermöglicht, tätig zu sein, zu arbeiten und die erteilte Aufgabe ohne zu klagen und zu murren zu erfüllen. Gesundheit heißt nicht, dass der Körper medizinisch als frei von Krankheiten erklärt wird. Gurudev fand nichts dabei, Medikamente zu nehmen; im Gegenteil, nach dem Mittagessen gab es einen ganzen Teller davon. Seine Philosophie war, dass, wenn man dem Körper Nahrung geben kann, man auch etwas anderes nehmen kann, das Medizin heißt.

Nicht ein einziges Mal während all seiner Krankheiten murrte oder stöhnte er, und wenn Ärzte in sein Zimmer kamen, fiel es uns schwer, sie davon zu überzeugen, dass er krank war. Swamiji fragte: „Und wie geht es Ihnen?“ Und auch wenn Swamis aus dem Ashram ihn besuchten, war er einzig und allein um ihre Gesundheit besorgt, und er bat sie, auf sich zu achten. Wer war der Patient, wer war der Arzt? Im Bett liegend setzte er seine Arbeit erstaunlich gut fort. Er war ungeheuer rege, und da war immer dieser Zustand des inneren Wohlbefindens. Manchmal funktionierte der Körper zu 100%, manchmal nur zu 80% oder zu 70%, und er war bereit, sich darauf einzustellen, bereit, den Körper mitzuziehen. Es sah so aus, als gestatte er freundlicherweise einigen Krankheiten, sich in seinem Körper aufzuhalten.

Einmal bemerkte er: „Zwei, drei Dinge brauche ich. Deshalb gehe ich damit sehr sorgsam um.“ Er achtete auf sein Augenlicht. Seine Stimme war ihm ebenfalls sehr wichtig. Er hatte sein ganzes Leben lang eine glockenklare Stimme, und er hatte dafür spezielle Übungen. Er war sorgsam mit seinen Zähnen. Er sagte: „Wenn die Zähne nicht in Ordnung sind, kann man weder ordentlich sprechen noch ordentlich essen.“ Er wandte jedes Mittel an, das ein Arzt empfahl, um sie rein zu halten. Das morgendliche Zähneputzen war bei ihm eine große Zeremonie.

Er schützte auch bestimmte Organe. Er wollte nicht total und vollständig von anderen abhängig sein. Und er wollte auch nicht die Werkzeuge verlieren, mit denen er den Menschen diente. Als er später nicht mehr frei gehen konnte, nahm er einen Stock. Er gab ihn jemand anderem zum Tragen, falls er ihn brauchen sollte. „Nimm ihn mit, wenn ich ein wenig schwindlig werde, nehme ich ihn mir von dir.“ Der Körper darf nicht zuviel unterstützt werden, denn das würde ihn schwächen. Später wurde es etwas schwieriger, und er selbst hielt den Stock beim Gehen; dann war auch das nicht mehr genug, und  er stützte sich auf jemandes Hand. Aber für den Körper gab es keine Entschuldigung; was getan werden musste, musste getan werden. Der Geist des Meisters war rege, aufmerksam, tatkräftig und kraftvoll. Er lehnte es ab, den Launen des Körpers nachzugeben. Als sich die Beine wegen Lumbago und Rheumatismus kaum mehr bewegten, hielt er weiter daran fest: „Ich komme hinaus. Ich arbeite im Büro.“

Was für ein Geist ist das, der in der Lage ist, physische Leiden zu bezwingen? Was für ein Geist ist das, der sieht, dass, obwohl der Körper schwächer wird, er noch immer bestimmte Tätigkeiten ausführen kann, und dass er dazu gebracht werden muss, diese freudvoll, mit ganzem Herzen und vorzüglich auszuführen? Das ist Gesundheit.

Es gab eine Zeit, da verbrachte er etwa eine halbe Stunde in meinem Raum, bevor er ins Büro ging. Die Stufen neben dem Raum waren sehr steil, und er musste sie erklimmen, um ins Büro zu kommen. Das war eine Zeitlang in Ordnung, als der Körper bei guter Gesundheit war. Dann, als er an Lumbago litt und das Gehen beschwerlich wurde, bat er um einen langen Stock, mit dessen Hilfe er diese Stufen erklomm. Warum musste er diesen Weg gehen? Das wusste niemand. Eines Tages konnte er auch seinen Stock nicht mehr verwenden und kniete sich buchstäblich hin und kroch hinauf. Er hätte ohne weiteres sagen können: ‚Ich fühle mich nicht wohl, komm in mein Zimmer.‘ Es gab absolut kein Aufgeben, keine Entschuldigungen und kein Jammern; es gab nicht einmal Befangenheit.

Diese Einstellung, diese Geisteshaltung, heißt Gesundheit, wenn nicht einmal ein alternder Körper die innere Einstellung einen Moment lang unterkriegen oder schwächen kann. Er hatte diesen Sinn für geistiges Wohlbefinden jederzeit, sein ganzes Leben lang.

Es wäre möglich, Teile davon dem zuschreiben, was gewöhnlich das Erwachen der Kundalini Shakti genannt wird. Darüber wurde nie gesprochen. Ihm entströmte ein Übermaß an Energie. Sie erfüllte ihn und floss stetig aus ihm.

1953 wurde im Ashram das Parlament der Religionen abgehalten. Hunderte Besucher waren gekommen, und drei Tage lang war der Ashram ein Bienenstock von Aktivität. Swami Sivananda dehnte das Programm des letzten Abends aus und schloss nach Mitternacht; und dann zog Swamiji sich zurück. Einer der Besucher, der Sprecher des indischen Parlaments, wollte am nächsten Tag sehr früh abreisen und hatte Swami Sivananda gebeten: „Kann ich deinen Darshan (eine Audienz) haben, nur um dich zu sehen, bevor ich abreise?“ und Gurudev hatte zugestimmt. Der Sprecher war an diesem Morgen um fünf Uhr beim Meister. Wir konnten kaum die Augen offenhalten, aber auf dem Gesicht von Swami Sivananda war keine Spur von Müdigkeit. Er war vor kaum zwei, drei Stunden zu Bett gegangen, und da war er und sprach und plauderte zwanglos. Das war ein besonderer Zug. Egal wie hart er arbeitete oder wie viel er arbeitete (und vergessen wir nicht, dass wir erst um die zwanzig waren, er jedoch über sechzig), er hatte immer noch physische und geistige Energie, die ihn erfüllte und überströmte und andere mit Begeisterung erfüllte – man kann es erwachte Kundalini nennen, Selbstverwirklichung, wie auch immer.

1950 im Alter von dreiundsechzig machte er eine anstrengende zweimonatige Reise durch ganz Indien. Während dieser Zeit musste er täglich mehr als fünf-, sechsmal zu sehr vielen Menschen sprechen. Bei jeder dieser Veranstaltungen sprach, sang und tanzte Gurudev, als könnte er seinen Zuhörern geradezu sein Leben geben. Es gab auch kleine private Treffen und informelle Besuche bei manchen Organisationen, und auch dort sprach und sang Gurudev mit derselben Hingabe und Leidenschaft, die er an den Tag legte, wenn er zu Monsterversammlungen sprach. Auch wenn das Auditorium nur aus den vier Mitgliedern einer Familie bestand, für ihn war es eine Gelegenheit, die Botschaft des göttlichen Lebens, die Herrlichkeit des göttlichen Namens und den Kern aller spirituellen Lehren zu verbreiten. Für ihn war das eine ebenso wichtige Gelegenheit, wie wenn er vor fünf Millionen sprach.

Für ihn war der Augenblick wichtiger als die zukünftigen Jahre. Der momentanen Arbeit widmete er sich einschränkungslos mit Herz und Seele. Als er in Malaysia war, wo er zehn Jahre lang den Menschen unaufhörlich und unermüdlich als Arzt diente, übernahm er auch die Arbeit einiger Kollegen. Er gab jedes Gramm seiner Energie aus. Er konnte nichts zurückbehalten, denn er war die Begeisterung selbst. Jeder andere an seiner Stelle wäre mit 38 Jahren alt gewesen, als er der Welt entsagte und ein neues Leben begann!

Das Leben, das ihn in Rishikesh erwartete, trug keineswegs dazu bei, die Energie wiederaufzubauen, die er in Malaysia verbraucht hatte. Die kärgliche Einsiedlerkost, Nahrung, an die er nicht gewöhnt war, und die herrschenden Lebensbedingungen, weit davon entfernt, das Verlorene wiedergewinnen zu lassen, hätten eigentlich nur erwarten lassen, die in ihm noch verbliebene Energie völlig zu verbrauchen und den Alterungsprozess zu beschleunigen.

Aber es war nicht so. 1930, nach sieben Jahren strenger Askese, als Gurudev zum ersten Mal in U.P. und Bihar sprach, fanden die Menschen in ihm einen voll erblühten Yogi, jungendlich, mit überschäumender Kraft und mit einer kraftvollen Stimme, die eine Seelenstärke erklingen ließ, die das Alter bezwungen hatte und jeder Schwäche Hohn sprach. Welche Kraft lag in Gurudevs Worten! Sie kamen aus seinem Herzen, aus seiner Seele.

Als Swamiji einmal 1930 von einer Reise zurückkehrte, erhielt er einen Brief von den Eltern eines Schülers einer höheren Schule in Sitapur, wo er gesprochen hatte. Der Brief sagte, dass der Sohn von zu Hause fortgelaufen war, nachdem er Gurudev sprechen gehört hatte, und eine Nachricht zurückgelassen hatte: „Ich gehe zu meinem wirklichen Vater, Swami Sivananda.“ Genauso kam auch Dr.Roy bald nach der Indientour 1950 als Arzt in den Ashram, nachdem er den Vortrag Gurudevs in Chidambaram gehört hatte. So war Gurudevs erweckende und verwandelnde Kraft.

Gurudev schrieb diese unaufhörlich sprudelnde innere Energiequelle der regelmäßigen Praxis von Asanas, Pranayama und Meditation zu, und der Wiederholung des Namen des Herrn, im besonderen aber Pranayama. Es gab Gurudev ein phänomenales Gedächtnis und die wunderbare Fähigkeit, Ashtavadhana zu machen (acht Dinge gleichzeitig). Pranayama reinigt die Nadis (die feinstofflichen Energiekanäle) und das Nervensystem und stärkt den Geist. Gurudevs kraftvolles Gehirn konnte hundert Menschen gleichzeitig Arbeitsanweisungen geben. Jeder Besucher in „Ananda Kutir“ (wörtlich „Sitz der Wonne“, womit Gurudevs Raum gemeint war und somit die Keimzelle des jetzt weltberühmten Ashrams) wusste, dass er in Gurudevs Geist gespeichert war, und dass er ihn auch noch nach einem Jahrzehnt wiedererkennen würde, sollten sie sich treffen. Er konnte sich noch nach dreißig oder vierzig Jahren an ein Gesicht erinnern, auch wenn sich das Gesicht verändert hatte. Als jemand, den er als kleines Mädchen gesehen hatte, nach dreißig Jahren zurückkam, sagte er: „Du siehst aus wie ein kleines Mädchen, das ich einmal sah…“, und sie sagte: „Ja Swamiji, das war ich.“

Es gibt jede Menge Beispiele. Während der Indientour traf er den damaligen Ministerpräsidenten von Mysore, Sri K.C.Reddy am Flughafen von Bangalore und sprach einige Minuten mit ihm. Zwei Jahre später kam Mr. Reddy nach Rishikesh, und Swamiji erkannte ihn sofort, obwohl Mr. Reddy anders gekleidet war. Sadhu Murugadas besuchte den Ashram im Jahre 1940 und sang wunderschöne Bhajans (Lieder zur Ehre des Herrn). Er kam 1948 wieder und gab wieder ein wunderbares Programm. Als er abschließen wollte, erinnerte ihn Gurudev: „Was ist mit dem schönen Gebet, mit dem du letztes Mal abgeschlossen hast. -‚Asato ma sat gamaya’?“ Murugadasji war überrascht über Gurudevs außergewöhnliches Gedächtnis.

Es war etwas absolut Außerordentliches an Gurudev; diese Anziehungskraft, diese leuchtende und strahlende Vitalität und überschäumende Energie. Swami Paramananda sagte einmal: „Wenn der Meister nur die Straße entlangging, zog er eine Menschenmenge um sich herum an. Man brauchte ihn gar nicht vorher anzukündigen. Wenn er in London eine Straße entlangginge, würde er dort eine ganze Menschenmenge anziehen.“ Eines Tages fuhren wir nach Dehra Dun, eine Stadt nicht weit weg vom Ashram. Es war Winter, und Swamiji trug einen dicken Mantel, sodass man ihn beim bloßen Hinsehen nicht einmal für einen Swami gehalten hätte. Als er die Einkaufsstraße entlangging, sammelte sich eine ziemlich große Schar um ihn, ohne jeden Grund. Die Leute wollten einfach mit ihm gehen!

Warum möchten wir alle diese Gesundheit? Warum wollen wir überhaupt, dass der Körper lebt? Ist Gesundheit an sich so wichtig? Vergessen wir nicht, dass Gurudev Arzt war, und als solcher musste er unweigerlich erkannt haben, dass es sinnlos ist, den Körper zu verwöhnen. Er machte sich keine Illusionen über das menschliche Leben, keine Illusionen über Vitalität. Er wusste, dass dem Maß an physischer Energie Grenzen gesetzt sind; dass eine Zeit kommt, wenn der Körper altert, und sich das Energieniveau senkt. Er wusste das.

Einmal stieg Gurudev eine Treppe zum Tempel hinauf, und etwa auf halbem Weg setzte er sich auf eine Stufe. In diesem Moment rannte und stolperte ein kleiner Junge, der ebenfalls im Ashram lebte, die Treppe hinunter. Swamiji schaute ihn voller Bewunderung an: „Haah, er ist voller Energie. Ich war einmal auch so, aber jetzt ist das für diesen Körper nicht möglich.“ Er wusste das.

Nur ein einziges Mal hörte ich, dass er mit einem Hauch von Bedauern von seinem Leben in Malaysia sprach. Er sagte: „Hätte ich damals gewusst, dass ich später einmal in einem Bereich aktiv sein würde, der nicht nur einem Patienten oder einem Stadtteil dient, sondern jedem auf der Welt, hätte ich in meiner Jugend etwas mehr Energie bewahrt. Ich hätte mehr auf mich geachtet und nicht soviel Energie in Malaysia verbraucht.“ Er wusste, dass, weil der Energievorrat begrenzt ist, diese fruchtbringend, intelligent und weise verwendet werden muss. Er wusste, dass der Tod unvermeidlich ist, egal wie lange man lebt. Deshalb hielt er nichts von ‘Gesundheit’ um ihrer selbst willen. Er hätte nicht in diesem Körper leben mögen, wäre er nicht anderen auf irgendeine Weise dienlich gwesen. Und so erklärte er einmal: „Ich lebe, um zu dienen. Ich lebe, um allen zu dienen.“ In jedem Moment dieses Lebens wurde der Körper zum Dienen gepeitscht – nicht bloß aufgefordert, zum Dienen gepeitscht. Er wurde gut versorgt und es wurde auch sehr effizient Arbeit aus ihm herausgeholt.

integraler Yoga

Zweites Kapitel

DAS GEHEIMNIS SELBSTLOSEN DIENENS

Gurudev Sivananda war ein so strahlender Mensch, dass es bereits eine Inspiration war, ihn einfach nur anzusehen. Ich glaube, der größte Dienst, den er leistete, war, dass er sich so leicht zugänglich und verfügbar machte. Das war etwas Einzigartiges. Im Ashram war er der, an den man am leichtesten herankam. Wenigstens dreimal am Tag war er draußen. Er nahm am morgendlichen „Unterricht“ teil, am Gottesdienst im Tempel, und von etwa 10 Uhr morgens an arbeitete er im Büro. Es war offen, jeder konnte hineingehen. Auch Kinder liefen hinein und fragten: „Swamiji, wie spät ist es jetzt?“ – und er antwortete ihnen. Leute, die die Straße entlanggingen, konnten sich seines Anblicks erfreuen: „Ah, da ist Swami Sivananda!“ Das allein war ein bemerkenswerter Dienst, Karma Yoga.

Was ist Karma Yoga? Ein amerikanischer Geschäftsmann war im Jahre 1947 für ein paar Tage zu Besuch im Ashram. Es war so Brauch, dass Gäste an ihrem letzten Abend im Abendsatsang sprachen. Der amerikanische Besucher war im Ashram herumgewandert und hatte uns bei unseren Tätigkeiten beobachtet. Er sagte: „Manche von euch machen Bhakti Yoga, manche Hatha Yoga, usw. Wir in den Vereinigten Staaten machen Karma Yoga. Wir alle arbeiten sehr hart, arbeiten Tag und Nacht und verdienen viel Geld.“ Später sagte ihm Swamiji: „Das ist nicht wirklich Karma Yoga. Karma Yoga ist etwas anderes. Isavasyamidam sarvam – Gott allein erfüllt alles. Gott allein ist die Wahrheit. Er ist allgegenwärtig, allmächtig, allwissend. Nur wer diese Sicht hat, ist ein Karma Yogi.“ Karma Yoga ist nicht irgendein Dienen, das wir als selbstlos bezeichnen, sondern Karma Yoga ist das spontane Handeln, das unwillkürliche Handeln, das nicht-egoistische Handeln, das völlig selbstlose Handeln eines erleuchteten Menschen, in dessen Augen nur Gott existiert, innen und außen.
Karma Yoga ist vielleicht nicht das, was ein Yogaschüler praktiziert, sondern die Lebensweise eines vollendeten Weisen. Es ist nicht Karma Yoga, wenn die Handlung aus einem, wie auch immer gearteten Beweggrund getan wird. Es ist nicht nur die Frage einer Handlung, die von Eigennutz, Egoismus oder Eitelkeit motiviert ist. Wahrhaft spontanes Handeln ist nur möglich, wenn der Geist absolut unkonditioniert geworden ist. Solange auch nur das Gefühl vorhanden ist: „Ich tue das.“, ist die Handlung immer noch innerhalb der Grenzen von Selbstsucht; es gibt ein Motiv, auch wenn es auch noch so edel ist.

Wir müssen jedoch bedenken, dass der Meister wollte, dass alle Aspekte des Yoga an jedem Tag unseres Lebens parallel stattfinden sollten. Für uns ist Karma Yoga jedes Dienen, das möglichst wenig Eigennutzen beinhaltet. Karma Yoga als Disziplin reinigt das Herz von Selbstsucht. Es ist als vorbereitende Praxis zur Läuterung vorgesehen, bevor die inneren Bereiche der Kontemplation betreten werden, und Gurudev demonstrierte das umfassend während seines Lebens in Malaysia und im Swarg Ashram.

Um den Geist von Karma Yoga zu verstehen, muss man mit jemandem zusammenleben, der beispielhaft darin ist. Sonst gibt es Missverständnisse!

Zum Beispiel sagte Swami Sivananda sehr schön in seinem ‘Lied über einen Karma Yogi‘: „Prüfe stets dein inneres Motiv.“ Oft machen wir uns selbst vor: „Ich prüfe mein inneres Motiv.“ Wir stellen uns nicht die Frage: „Aber warum tue ich das?“, denn es wäre gut möglich, dass die Antwort ist: „Um mir zu beweisen, dass ich spirituell größer bin als der andere.“ Was ist das innere Motiv, um das innere Motiv zu prüfen? Ist man Gott auch nur einen kleinen Schritt näher, weil man das macht? Wenn man das innere Motiv ohne Motiv prüft, dann schon. Das sahen wir bei Gurudev. Aber Worte können kein lebendiges Beispiel sein.

Kann man aber sehen, wie jemand anderen etwas tut, und sich die Frage stellen: „Oh Gott, hätte ich in dieser Situation so gehandelt wie er?“ Ohne die eigenen Fehler zu rechtfertigen oder das Ideal zu idealisieren? (Das ist nicht falsch zu verstehen – ich habe die größte Hingabe an den Meister. Ich verehre ihn in jeder Hinsicht. Im Ashram machte von Zeit zu Zeit jemand Padapuja (ein Verehrungsritual), wobei wir die Füße des Meisters wuschen und dann das Wasser tranken. All das ist gut und wichtig. Man darf ihn aber nicht nur idealisieren). Da ist das Ideal – du hast es gesehen, wahrgenommen und beobachtet. Vielleicht steht es weit, weit über dir. Blicke aber nicht zu ihm auf, wie wir zu einer Wolke aufblicken, sondern nimm es auf wie die Frucht der Wolke (das Regenwasser). Wir müssen in diese Vollendung eingehen. Sonst hätte Swami Sivananda nicht unter uns zu leben brauchen.

Nicht erst als Dr. Kuppuswamy Mönch wurde, entstand in ihm dieser Geist von Karma Yoga. Schon als Kind war er in ihm. Die Frau von Gurudevs älterem Bruder, die sich um ihn kümmerte, nachdem seine Mutter gestorben war, erzählte mir: „Er war ein normales Kind, es war nichts Außergewöhnliches an ihm. Er trieb Unfug. Er war energisch, sehr energisch, und er konnte auch balgen und raufen. Eines aber – er liebte es, alles, was er hatte, mit anderen zu teilen.“ In seinem späteren Leben wurde das für ihn mehr oder weniger zu einem Mantra. „Teile alles, was du hast, mit anderen.“ (Eine weitere Eigenheit, von der die Dame sprach, war, dass er gutes Essen sehr schätzte, und dass es genau richtig zubereitet sein musste; wenn es etwas weniger als perfekt war, aß er es nicht. Das war auch sein ganzes Leben lang so.) Es konnte niemals etwas hinter dem Schrank verborgen essen. Er musste immer Freunde rufen und Gesellschaft haben. Dieser Gemeinschaftssinn war immer vorhanden. Er konnte nie etwas alleine machen, etwas alleine genießen, was sich sogar bis zur Wonne der Selbstverwirklichung hin erstreckte. Geben war für ihn wie ein Zwang. Es lag ihm im Blut.

Die kostenlose Verteilung von Literatur begann mit der medizinischen Zeitschrift ‘Ambrosia’, die er als junger Arzt veröffentlichte. In Malaysia gab Gurudev sein medizinisches Wissen weiter, vor allem vorbeugende Maßnahmen. Er verteilte auch Speisen, Geld und Kleider. Patienten wurden nicht als Patienten behandelt, sondern als Freunde. Wenn nötig nahm sie der Doktor zu sich nach Hause und traf Vorkehrungen für ihre Rekonvaleszenz, damit sie die richtige Diät bekommen konnten; er gab ihnen das Geld für die Heimreise, half ihnen, eine geeignete Arbeit zu finden, verfolgte weiter ihr persönliches und soziales Wohlergehen, etc. Kein Opfer war ihm zu groß im Dienst für kranke Menschen. Gurudev kümmerte sich mehr um die Armen als um die Reichen – dass die Armen nicht zahlen konnten, war ihm egal.

Gurudev war der Inbegriff von Barmherzigkeit. Unterschiedslose und uneingeschränkte Barmherzigkeit. Personen, die in seinem Haus an den Sraddhas teilnahmen (Sraddha ist eine jährlich stattfindende Zeremonie zum Andenken an die Eltern), erhielt noch zehn Dollar als Geschenk, abgesehen von wertvollen Gaben an Kleidern, Silbergefäßen, usw. In den meisten anderen Häusern hätten sie vielleicht zwei Dollar bekommen. Ein Mönch, der eines Tages das Haus des Meisters in Johore-Bahru besuchte, wurde herzlich willkommen geheißen und wie ein Fürst behandelt. Als er abreiste, bereitete Gurudev ihm einen liebevollen Abschied und gab ihm eine Fahrkarte erster Klasse zu seinem Reiseziel.

Dass Gurudevs Leben sehr einfach war, versteht sich von selbst. Ein einfaches Leben ist eine der Voraussetzungen für Wohltätigkeit und selbstaufopferndes Tun. Wenn man Luxus liebt, ist keines von beiden möglich. Gurudev gab und gab und gab, und er bekam auch – natürlich, man kann aus der Gelddose nur das herausnehmen, was drinnen ist, nicht mehr als das. Er betonte das, was er als ’spontane, überwältigende Großzügigkeit‘ beschrieb … diese Worte klingen noch immer in meinen Ohren. Er gab und er erhielt, und in seinem Fall, war es so, dass er dem anderen bei beiden Gelegenheiten dankbar war. Wenn man ihm etwas gab, freute er sich, und wenn er etwas gab, war er wiederum erfreut und überaus dankbar – dir, weil er erhalten hatte, und weil ihm die Gelegenheit gegeben worden war zu dienen. Ich habe es millionenmal aus seinem Mund gehört – „Wenn ein armer oder kranker Mensch vor der Tür steht und du die Gelegenheit hast, dich um ihn zu kümmern, wisse, dass es Gott selbst ist, der in dieser Gestalt gekommen ist, um dir eine Gelegenheit zum Dienen zu geben. Danke dem Herrn, dass er gekommen ist!“

Als Hr. Narasimha Iyer  als Koch zum Meister gekommen war, hatten sie einen bestimmten Lohn vereinbart, vielleicht 30-40 Dollar plus Essen, Kleider und Ausgaben für den Haushalt. Am ersten Tag des folgenden Monats lief Gurudev mit einem Tablett in Händen in die Küche. Darauf waren Früchte, Blumen, neue Kleider und etwa 50 Dollar. In indischen Häusern wird so ein Gast, ein Heiliger oder ein Brahmane begrüßt und verehrt – als Gott. Der Koch erwartete seinen Lohn und blickte den Doktor fragend an; Gurudev verbeugte sich vor ihm und sagte: „Das ist Sambhavana für dich, Iyer … ist es angemessen?“ Das Wort ‚Sambhavana‘ hat eine heilige Bedeutung. Es heißt „ein mit Hingebung und Verehrung gemachtes Geschenk“. Gurudev verwendete niemals Worte wie ‚Bezahlung‘, ‚Gehalt‘ oder ‚Lohn‘. Er sah seine Dienstboten als Manifestationen Gottes. So war seine Einstellung sein ganzes Leben lang. Alles, was er gab, einschließlich sein Dienen, war stets eine bescheidene Opfergabe an Gott.

BEDINGUNGSLOSES TEILEN

Alles, was Gurudev besaß, stand jedem zur Verfügung, der es brauchte. Wenn ein Bettler kommt und vor dem Haus steht, ist es (zu unserer Schande) üblich, „Müll“ abzuladen. Man hat einen Bund Bananen und die besten bereits gegessen. Das, was noch das ist, ist überreif und verfault. Wenn ein Bettler an die Tür kommt, bekommt er sie! Niemals konnte Gurudev davon überzeugt werden, so zu handeln. Wenigstens einmal sah ich es: er wollte gerade etwas essen und, stellte fest, dass es ein wenig abgestanden war, und jemand schlug vor: „Heb es auf, Swamiji, wir können es der Kuh oder den Affen geben.“ Er antwortete: „Nein. Wirf es weg. Etwas, das für mich nicht gut genug ist, ist auch für einen anderen nicht gut genug.“

Ein typischer Vorfall, der sich oft wiederholte: Ein Bettler kommt in Malaysia an die Tür des Doktors (Gurudevs). Was erwartet er? Ein paar schäbige Münzen oder Reste? Es ist gerade genug da für eine Mahlzeit, und der Doktor will sich eben zum Essen setzen, als der Bettler an die Tür kommt. Der Koch sagt: „Ich gebe ihm gleich etwas.“ Aber der Doktor hält ihn zurück, und der erstaunte Bettler wird aufgefordert, in der Küche Platz zu nehmen und wird zuerst bedient. Für drei ist nicht genug Essen da! Der Doktor und sein Koch teilen sich das, was von der Mahlzeit übrig ist. Der Doktor sagt zum Koch: „Komm, du hast einen Hungrigen satt gemacht, jetzt können wir teilen, was übrig ist. Seine Sattheit wird auch unseren Hunger stillen.“ Das ist der Geist von Karma Yoga.

Es machte ihm die allergrößte Freude, anderen zu essen zu geben. Er war überglücklich, wenn er Menschen dazu bringen konnte, noch ein wenig mehr zu essen, und so wurde eine seiner zwanzig spirituellen Anweisungen ignoriert, sobald man den Ashram betrat. „Iss ein wenig, trink ein wenig…“, sang er, aber tun konnte man das erst, wenn man wieder zu Hause war! Wenn er Prasad gab – oder Früchte und Süßigkeiten – schöpfte er mit seinen riesigen Händen und gab. Und man musste es sofort vor seinen Augen verzehren! Dabei zuzusehen, bereitete ihm grenzenlose Freude. Er war begeistert, begeistert, wenn er sah, wie etwa hundert oder zweihundert Menschen dasaßen und nach Herzenslust aßen. Ich glaube nicht, dass er jemals das Gefühl hatte, dass das ein Widerspruch zu seiner Lehre war. Zu Beginn nahm er es sehr genau mit der Einhaltung bestimmter Regeln, wie Fasten zu Ekadashi (der elfte Tag des Mondhalbmonates), aber später wurden auch diese Regeln gelockert. Die Menschen brachten Früchte und Süßigkeiten in sein Büro, und im Handumdrehen wurde das Ganze an die ihn Umgebenden verteilt.

Einmal kam es dadurch zu einer etwas heiklen Situation. Eine sehr fromme südindische Dame aus Bombay war in den Ashram gekommen und hatte eine ganz besondere Süßspeise mitgebracht, von der sie wusste, dass Gurudev sie sehr mochte. Sie war Expertin für die Zubereitung dieser Speise und hatte sich offensichtlich allergrößte Mühe gegeben. Sie kannte die Gewohnheit des Meisters, an andere zu verteilen, und hatte das auch in Betracht gezogen, aber sie war den Tränen nahe, als sie sah, wie Gurudev den Teller an alle herumreichte und selbst gar nichts nahm. Ihr wurde schwer ums Herz. Gurudev sagte zu dem Verteilenden: „Gib ihr auch ein Stück.“, und da sah er plötzlich ihren Gesichtsausdruck. Er „befahl“ dem Swami, der austeilte: „Stop, stop … Oh Swami, warte, bringe es her, der Rest ist für mich, ich werde es essen. Gib es nicht her.“ Er sah, wie das Gesicht der Dame erblühte und ihre Wangen rosig wurden. „Bringe es her, ich werde es essen.“ Er nahm einen Bissen in den Mund, und irgendwie machte der Teller schon wieder die Runde. Die Freude, die es ihm machte zu teilen, und ganz besonders Speisen, Früchte und Bücher, war unbeschreiblich.

Bei anderer Gelegenheit – war das sogar noch schlimmer. Es war im Jahre 1948 oder 1949, als der Ashram sehr arm war, und Früchte nicht nur rar, sondern auch sehr teuer waren. Wenn jemand in sein Kutir kam, musste er etwas bekommen. Ich hatte ihm etwas Arbeit abgenommen, und er fragte seinen Koch, ob Orangen da wären. Der Koch hatte einige Orangen ganz speziell für Gurudev gekauft. Er hatte eine ungeheure Hingabe an seinen Guru, und er rührte sich nicht von der Stelle. Inzwischen ging Gurudev in die Küche. Er sah, wo die Früchte waren, und so nahm er eine und gab sie mir. Bald hatte er auch den Affen und den Fischen davon gegeben, und eine Orange nach der anderen war dahin! Das war der absolute Zwang zum Geben in ihm. Wenn Orangen rar waren, dann sollten auch die Fische und die Affen sich ihres Anteils erfreuen!

1944 – 45 waren nur etwa zehn oder zwölf Leute im Ashram, und normalerweise gingen wir zum Essen alle in die Küche. Das, was später der Essraum wurde, diente in jenen Tagen als Büro. Manchmal kam Gurudev, setzte sich auf eine der Zementbänke und sprach zu uns: „Ihr meint jetzt, das ist ein kleiner Platz, aber eines Tages, ihr werdet schon sehen. Von hier bis Lakshman Jhula werden die Leute sitzen und essen.“ Es geschah. Wir gaben nicht tatsächlich den Menschen entlang der ganzen Straße zu essen, hätte man aber alle, die 1958 – 59 im Ashram aßen, aneinandergereiht, wäre es mindestens eine Meile gewesen – problemlos vier- fünfhundert Personen. Diese Vision hatte er.

Einmal hatte er Typhus und konnte nicht einmal stehen. Er war sehr schwach und schwindlig. Um zur Toilette zu gehen, hing er buchstäblich an den Schultern von zwei Personen. Von der Toilette schaute er eines Tages aus dem Fenster auf den Ganges. Er fragte: „Wer sitzt dort?“ Einer von uns antwortete ihm. „Oh, dort ist es sehr heiß.“ Gurudev sagte: „Geh und sage ihr, dass sie nicht dort sitzen soll. Wie lange ist sie dort gesessen? Vielleicht hat sie gar nicht zu Mittag gegessen.“ Er sagte seinem Koch: „Geh und frage sie, ob sie gegessen hat, wenn nicht, sage ihr, sie soll herkommen und etwas essen.“

Das war sein einziger Wunsch! Man musste gut gefüttert werden, man durfte nicht leiden, man durfte nicht mit leeren Händen weggehen. Ich habe nie einen anderen Menschen gesehen, der sich so verhalten hat. Zuerst Nahrung für den Körper, dann Nahrung für die Seele. Dieses Geben kannte keinen Unterschied. Es musste getan werden. Sowohl Speisen als auch Bücher wurden völlig ohne jeden Unterschied verteilt. Wohltätigkeit – Geben, Geben, Geben, allezeit – das musste weitergehen; und darin lag eine Vision, die wir vermutlich nicht einmal erahnen können. Wenn wir versuchen, es intellektuell zu verstehen, wird es zu nichts als einer Aneinanderreihung von Worten.

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SPONTANE ÜBERWÄLTIGENDE FREIGEBIGKEIT

Eines Tages kam ein wandernder Bettler in den Ashram. Swamiji fragte ihn, wie er gereist sei, da er überhaupt nicht müde wirkte. Der Bettler antwortete, er sei im Zug erster Klasse gereist, da diese Wagen leerer waren, und er so den Passagieren der überfüllten dritten Klasse nicht zur Last fiele. Dieser Bettler hatte zufälligerweise auch eine sehr gute Stimme und ein wunderbar natürliches musikalisches Talent. Gurudev fragte ihn, ob er singen könne. „Swamiji, ich vermute, jeder Bettler kann ein wenig singen.“ „Wunderbar. Du gibst heute im Satsang ein Konzert.“ Alle Ashrambewohner und Gäste versammelten sich in der Bhajan Halle. Nun war der arme Bettler wirklich in Bedrängnis. Nie hatte man ein erschreckteres Gesicht gesehen! Er wusste nicht, was ein Satsang ist; er hatte nie vorher in seinem Leben ein Konzert gegeben. Er wurde auf eine Bühne gesetzt, und als er einen Swami mit einer Girlande auf sich zukommen sah, erstarrte er. Er wusste nicht, was er tun sollte – und er wusste auch nicht, wie er sich davonmachen konnte! Zu allem Überfluss gab ihm Swamiji auch noch einen schönen Titel „Sangita Ratna“, das heißt Musikspezialist. Weder er noch irgendjemand anderer, der Zeuge dieser ganzen Szene wurde, kann das je vergessen.

Überwältige den anderen ab und zu mit deiner Großzügigkeit; wenn er gerade eben zwei Groschen erwartet, gib ihm ein paar Dollar und sieh, was passiert. Sieh dieses Leuchten im Gesicht des anderen, fühle die Freude in seinem Herzen. Vielleicht ist das ‘das Licht Gottes’.

Warum praktizieren wir nicht eine solche überwältigende Freigebigkeit? Es scheint, als gäbe es zwei Faktoren, die das verhindern. Der erste ist: „Nun ja, wenn ich das einmal mache, wird er erwarten, dass ich es immer wieder tue, und in zehn Tagen bin ich bankrott.“ Schon richtig. Auch Swami Sivananda tat es nicht jeden Tag – selbstverständlich – denn dann hätte er nicht einmal eine kleine Hütte bauen können, geschweige denn einen Ashram. Aber gönne dir ab und zu das Vergnügen, zwei Dollar sind nichts für dich – aber wenn du sie einem Armen gibst, diesem Bettler, einfach so, wenn er eigentlich nur ein paar Cents erwartet, ruft das eine ungeheure Reaktion hervor. „Hah!“ Er sieht dich an. „Mein Gott, das hast du mir wirklich gegeben?“ Gönne dir von Zeit zu Zeit ein wonnevolles, wunderbares Gefühl, eine himmlische Freude.

Der zweite Hinderungsgrund ist: „Wie kann ich wissen, ob er es verdient?“ (Wenn Gott sich diese Frage stellte, würden wir nicht einmal leben, wenn Gott sich fragte: „Weiß ich, ob diese Menschen all die frische Luft verdienen?“, was wäre die Antwort?). Eine solche Frage stellt sich nur, wenn wir über Wohltätigkeit nachdenken! Und das neue Kleid, das du gestern gekauft hast?

Gurudev konnte mit einer sogenannten „unterscheidenden Wohltätigkeit“ gar nichts anfangen. Während des Kumbha Mela (ein Fest) 1950 ging ein ununterbrochener Fluss von Pilgern die Straße entlang, die durch den Ashram führte. Wir hatten am Straßenrand eine Art Notbüro eingerichtet, und dort saß Gurudev ein, zwei Stunden und gab den Pilgern Darshan. Eine kleine Gruppe junger Männer sang, begleitet von einigen Instrumenten. Gurudev hörte es. „Rufe sie.“ Swami Paramananda rief die ganze Gruppe. Der Meister war begeistert. „Kommt, setzt euch her und singt eine Stunde oder so.“ Das taten sie und sangen wunderbar. Gurudev nahm etwas Geld heraus, legte es mit Früchten und Blumen auf eine Tasse und gab sie dem Leiter des Gruppe. Jemand sah das und bemerkte: „Sie sind Hausierer, Swamiji. Sie verkaufen Zigaretten. Das sind keine frommen Menschen, die den Namen Gottes singen. Das ‚Hare Rama, hare Krishna‘ soll vermutlich nur die Menschen anlocken.“ Ich erinnere mich noch gut an den schelmischen Ausdruck in Swamijis Gesicht. „Ja wirklich? Dann gib noch etwas Geld dazu. Gib ihnen noch zehn Rupis. Sie haben das Mahamantra gesungen, sie haben den Namen Gottes wundervoll gesungen. Wohltätigkeit ist Wohltätigkeit. Man muss geben. Was er damit macht, geht uns nichts an. Das ist das Wirken Gottes.“

Spontane, überwältigende, bedingungslose Fregebigkeit. Sie hatte keinerlei Motive. Wenn du auf Not triffst, gib. Und ich habe nie gehört, dass er später noch darüber gesprochen hätte. Der Eindruck, den man erhielt, wenn man den Meister so handeln sah, war – übe Wohltätigkeit genau so, wie du beim Tod den Körper ablegen wirst.
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KRITISCHE SITUATIONEN

Man kann sich gut vorstellen, dass es für den Sekretär, den Kassier, usw. einer Institution, nämlich des Ashrams, ein Problem darstellte, wenn ein Mensch wie Swami Sivananda sie leitete. Ständig gab er und gab und gab – er schien keinerlei Vorstellung davon zu haben, woher das Geld kam und wohin es ging. Aber ich glaube, er wusste es genau, obwohl andere nicht dieser Meinung waren. Er war sich stets bewusst, dass die Quelle auch das Ziel ist. „Es kommt von Ihm und kehrt zu Ihm zurück; wir sind nur Kanäle. Wir denken, dass wir diese Institution, diesen Ashram, leiten, aber wir sind nur Verwalter.“

Wenigsten einmal im Jahr durchlebte der Ashram eine finanzielle Krise. Gurudev überlegte dann die Situation ganz ernsthaft und sagte: „Wir werden sehr vorsichtig sein. Wir werden keine neuen Schüler im Ashram aufnehmen.“ Normalerweise dauert das nur einige Tage. Bald kam dann irgendein armer Mensch, der nicht einmal Kleider zum Wechseln besaß, und wollte im Ashram bleiben; dann sagte Swamiji: „Ja, ja … lasst ihn nur bleiben. Wohin soll er sonst gehen? Macht euch keine Gedanken um die Kosten. Jeder bringt seine Verpflegung selbst mit. Bevor Gott ihn herschickt, hat er das Essen, das er braucht, schon in die Küche geliefert.“

Das waren nicht nur Worte; wenn man in sein Gesicht sah, in seine Augen, dann wusste man, dass es die Wahrheit war. In ihm war keinerlei Zweifel, es gab keine Unsicherheit. Diese Wahrheit lebte in ihm. Er wusste, dass nur das zählte, was du und ich den Willen Gottes nennen. Wenn wir Bankrott machen sollten, dann würden wir so und so Bankrott machen. Es gibt nichts, worüber man sich sorgen müsste! Und der Sekretär gehorcht: „Gut, Swamiji.“ Und dann sind die Schleusen wieder offen – sonst käme die nächste finanzielle Krise vielleicht nicht so schnell.

Einmal hatten wir eine klassische Tragödie. Ein junger Mann kam in den Ashram. Er arbeitete unaufhörlich und unermüdlich, er war in jeder Hinsicht brilliant. Er hatte das Herz des Meisters erobert. Gurudev liebte und bewunderte ihn, und er zog ihn ins Vertrauen. Er hatte ihm fast alle Kompetenzen gegeben. Er war der Postchef, der Schatzmeister, inoffiziell war er beinahe der Sekretär. Er war der Kassier, und darüber hinaus erledigte er auch noch Schreibarbeit für Gurudev. Er war ein so dynamischer Mensch; nur eine halbe Stunde nachdem er eines Tages den Ashram verlassen hatte, entdeckte man, dass er, Gott alleine weiß wieviel, unterschlagen hatte. Er war Kassier und Postchef, und daher konnte niemand wirklich abschätzen, in welcher Höhe der Ashram beraubt worden war. Alles, was wir wussten, war das – im ganzen Ashram, der bei den Kaufleuten im Ort schwer verschuldet war, war kein einziger Groschen.

So begannen wir wieder einmal mit einem Minus auf dem Konto, und die Neuigkeit verbreitete sich bis Rishikesh. Wieder einmal sagten die Kaufleute dem Sekretär sehr höflich: „Könnt ihr bitte eine Zeitlang alles, was ihr nehmt, bar bezahen.“, denn der Ashram schuldete ihnen schon sehr viel. Das war die größte Katastrophe, die ich je im Leben des Ashrams gesehen habe. Und was tat der Meister? Nichts. Absolut nichts. Er genoss das Ganze als einen großen Witz: „Wie war es ihm nur möglich, uns derart zu betrügen? Er war ein so guter Mann! Er muss ein Genie sein.“ Immer wieder wiederholte er zwei Dinge. „Er muss genial gewesen sein, um das zu tun.“ Und: „Aber er hat viel gearbeitet.“ Er fügte hinzu: „Wir müssen ihm Geld geschuldet haben – aber er hätte mich fragen können, ich hätte es ihm gegeben.“ Was ist diese Sicht, diese Erkenntnis, in der jemand verankert sein muss, um das sagen zu können? Das ist die Sicht Gottes.

Ein ähnliches Beispiel. 1946 kam ein Geschäftsmann aus Südindien in den Ashram. Er wusste, dass dem Meister sehr an der Verbreitung von spirituellem Wissen gelegen war und dass die Regale voll waren mit Büchern, die vom Ashram gedruckt und veröffentlicht worden waren. So sagte er zu Swamiji: „Ich kann alle deine Bücher in Südindien auf den Markt bringen und vertreiben.“ Er nahm einen großen Posten mit. Nach sechs Monaten schrieb der Sekretär an die Adresse, die der Geschäftsmann angegeben hatte – der Brief kam zurück: „Adressat unbekannt!“ Der Sekretär war verblüfft. Gurudev sagte: „Oji, wenn du denkst, dass du das Selbst des Mannes bist, der dich betrogen hat, dann bist du nicht enttäuscht.“ Wenn Gott eins ist, allgegenwärtig, was heißt dann stehlen? Stehlen ist nur die Übergabe des Objekts von der rechten in die linke Hand. Du  denkst, du bist Swami So-und-so bist, hast einen Ashram, diese Bücher gehören dem Ashram und jemand anderer hat sie genommen und Gewinn gemacht, und so weiter. Das macht dich zornig. „Wenn du dein eigenes Selbst in diesem anderen siehst, wirst es dir nicht nur nicht leid tun, sondern du fühlst dich vielleicht sogar glücklich.“ Sonst wurde über die Sache nichts gesagt.

„Sei gleichmütig; ausgewogen; gelassen in Erfolg und Misserfolg, Gewinn und Verlust.“ Es bedeutet nicht, gute Miene zum bösen Spiel zu machen – gar nicht. „Der, der mich, und das, was ich ‘Ich’ nenne, betrügt, sind nur die zwei Hände des allgegenwärtigen Wesens, das einzig und alleine existiert!“

Manchmal jedoch machte Gurudev, zum Unbehagen der für den Ashram Verantwortlichen, aus der ganzen Sache einen großen Witz. Eines Nachts wurde in den Ashramtempel eingebrochen, obwohl eine Menge Leute auf der überdachten Veranda schliefen, die an den vier Seiten des Tempels entlanglief. Der Silbertopf und andere Silbergefäße fehlten. Der Priester, der den Verlust entdeckt hatte, berichtete dem Meister von dem Diebstahl. Aber anstatt ernst zu werden, war Gurudev neugierig; „Da schliefen Leute, zur selben Zeit, als der Diebstahl passierte?“ Dann lachte er schallend. „Es muss ein sehr kluger Dieb sein. Wenn er gefunden wird, gebe ich ihm einen Titel ‘Chora Shikhamani’ (das heißt Superspezialist im Stehlen).“

Das war alles. Gurudev stellte es so dar, als hätte es keinen Diebstahl gegeben. Der, der sie gebraucht hatte, hatte sie mitgenommen. Er sagte etwas sehr Schönes. Er nannte es ‘Gupta Daan’ – geheime Wohltätigkeit, wo der Empfänger dich sogar der Mühe des Gebens enthebt. Er brauchte es – er nahm es.

Einmal beschlossen wir, dass er anstatt Swami Sivananda, Swami Givananda heißen sollte – der, der es genießt zu geben. Er wusste, dass der Nachschub aus der Quelle kam und zur Quelle zurückkehrte. Materielle Überlegungen hinsichtlich der Buchführung berührten ihn überhaupt nicht. Sein eigenes Leben war ein Beweis dafür, dass solche Freigebigkeit nicht zum Bankrott führt. Er sagte sehr oft: „Geben hat noch niemanden arm gemacht; Wohltätigkeit hat noch niemanden arm gemacht.“ 1924 kam der Meister nach Rishikesh mit nichts als den Kleidern, die er am Körper hatte. 1973, kaum fünfzig Jahre später, war der Ashram, den er errichtet hatte, einige Millionen Rupis wert, obwohl er ständig gab und gab und gab. Er sagte selbst: „Diese Haltung bringt dich in direkten Kontakt mit der unerschöpflichen Quelle allen Reichtums.“

Gurudevs Dienen war die Sonne, angesichts derer die Nebel der Unterschiede von Hautfarbe, Glaube, Kaste und Geschlecht verschwanden. Als Arzt in Malaysia diente er allen Nationalitäten, allen Kasten, jedem, vor allem den Armen. Genauso im Swarg Ashram, wo er als Bettler lebte, war das Dienen, im Speziellen für die Kranken, sein Hauptanliegen. Später waren die Türen des Sivananda Ashrams immer offen (und sie sind es noch) für Menschen aller Kasten, Glaubensbekenntnisse und Nationalitäten – südindische Brahmanen, Nichtbrahmanen, Christen, Europäer, Amerikaner, Inder, Muslime, Parsen und Buddhisten, alle wurden von Gurudev mit dem gleichen Respekt aufgenommen und mit der gleichen Liebe und Gastfreundschaft versorgt.

Swami Sivananda kümmerte sich niemals darum, welche Religion oder welchen Glauben jemand hatte; in all das mischte er sich nie ein. Er sagte nie, eine Religion sei gut und eine andere falsch, oder dass die eine der anderen überlegen wäre. Eines Tages sollte der Meister einen Multimillionär treffen, der ein fanatischer Hindu war. Das einzige, was er hören wollte, war: „Das Sanatana Dharma (der Hinduismus) alleine ist die Wahrheit.“ Während der Meister zu diesem Treffen gebracht wurde, ließ der Sekretär des Multimillionärs einige Hinweise fallen, dass dieser reiche Mann eine große Hilfe in der Mission Gurudevs sein könnte. Der Meister hörte ihn an. Gurudev wurde von dem reichen Mann mit allen Ehren empfangen, und wie vorhergesehen stellte er die Standardfrage: „Swamiji, was hältst du vom Islam, ist er auch eine Religion?“ „Oh ja. Ja, ja. Ja, ja.“ „Der Koran ist auch Gottes Wort?“ fragte der Millionär. „Ja, ja. Ja, ja. Ja, ja.“ erwiderte Gurudev. Gurudev kam mit einem Teller Früchten zurück, die meisten verteilte er an Ort und Stelle! Swami Sivananda war nicht käuflich! Deine Religion ist deine Sache. Letztlich ist Religion ein Abenteuer zwischen dir und Gott. Gurudev hatte kein Interesse daran, anderen seine Lehre, seinen Glauben, seine Überzeugung und nicht einmal seine Verwirklichung aufzudrängen.

AUF MESSERS SCHNEIDE

Angesichts des Dienens verschwand auch der Unterschied zwischen den Geschlechtern. Einmal, es war in seiner ersten Zeit in Rishikesh, wurde eine junge Dame aus Sündindien, die im Kalikamliwala Gästehaus wohnte, krank. Der Leiter empfahl ihr, zu Gurudev zu gehen, und das tat sie. Swamiji gab ihr ein Medikament, aber da die Dame zurückhaltend und schüchtern war, gab er den Gedanken an eine Fußmassage auf, obwohl sie ihm sinnvoller erschienen wäre als Medikamente. Zurück in seinem Kutir dachte er noch einmal über die Sache nach und kam zu dem Schluss, dass er nicht unterlassen hätte sollen, was für ihr Wohlergehen notwendig war. „Schließlich und endlich wohnt derselbe Atman (dasselbe Selbst) in mir und auch in ihr. Ich hätte nicht vor diesem Dienst zurückschrecken dürfen.“ Früh am nächsten Morgen suchte Gurudev gemeinsam mit seinem Schüler die Dame erneut auf, und nachdem er ihr das Medikament gegeben hatte, erklärte er ihr, dass er in ihr nichts anderes sah als die göttliche Mutter des Universums, die ihm, ihrem Kind, gestattete, ihre Füße zu massieren. Es ging ihr rasch besser.

Gurudev wurde nie müde, die Mönche davor zu warnen, zu engen Kontakt mit Angehörigen des anderen Geschlechts zu haben, und er warnte sie streng davor, die Nacht in einem Raum zu verbringen, der an den einer Dame grenzte – das ist der Sittenkodex. Aber es gibt einen höheren Kodex, den Kodex des Dienens. Als er einmal in Lucknow war, stellte er fest, dass die alte Maharani (seine Gastgeberin) an einer sehr starken akuten Erkältung litt, und schlief in einer Ecke ihres Zimmers, gleich zur Stelle, falls sie jemanden brauchen sollte. Nicht einmal ihre eigene Familie diente ihr mit solchem Eifer.

Wenn es notwendig wurde, war Gurudev bereit, jeglichen Dienst zu tun.

In Gurudev glänzte die Furcht vor öffentlicher Kritik durch Nichtvorhandensein. Wir dürfen nicht überheblich sein und gesellschaftliche Normen verletzen, wir müssen aber auch den Mut haben, das zu tun, was wir als richtig erkannt haben. „Wenn du überzeugt bist, dass du einen Mantel anziehen solltest, um deine spirituellen Praktiken ungehindert fortzusetzen und den Menschen bestmöglich dienen zu können, und wenn dir der Gedanke kommt, dass dich die Leute vielleicht kritisieren, ziehe den Mantel sofort an! So überwindest du die Furcht vor öffentlicher Kritik. Die Menschen kritisieren dich vielleicht, aber bald werden sie dich verstehen.“

Die Frage, die er sich andauernd stellte, war: „Was ist unter den gegebenen Umständen das Beste und Richtigste?“ und niemals: „Was werden die Leute denken?“ Die alte Maharani von Singhai kam oft nach Rishikesh. Wenn sie in der heißen Sonne die Straße entlangging, hielt der mit dem Feuergewand eines Sannyasin bekleidete Gurudev einen Schirm über ihren Kopf; und die anderen Mönche lachten in ihrem Sannyasin-Stolz über diesen kühnen Entsagten, der der Mutter diente, anstatt sie nur als weltliche Person zu behandeln und von ihr zu verlangen, sich zu seinen Füßen zu verbeugen.

Eines Tages machte Swami Sivananda mit der Maharani eine Pilgerreise nach Ganga Sagar (der heilige Zusammenfluss von Ganges und der Bucht von Begalen). Auf ihrem Weg mussten die Pilger einige Meter durch das Meer waten und die alte Dame war dazu nicht in der Lage. Gurudev bot ihr sofort seine breiten und muskulösen Schultern an. Die Maharani sträubte sich, aber Gurudev hob sie ohne zu zögern hoch und trug sie zum Boot. Ein anderes Mal im Palast der Maharani in Lucknow wurde eine Bettlerin sehr wütend, als die Maharani ihren unmäßigen Bitten um Geld, das sie für irgendwelche Rituale benötigte, nicht nachkam. In ihrem wahnsinnigen Zorn verlor sie jede Kontrolle über sich und wurde ohnmächtig. Gurudev trug sie auf seinen Schultern in das nahegelegene Krankenhaus und sorgte dafür, dass sie behandelt wurde. Die Maharani hatte eine Vorliebe für Limonade, die sie regelmäßig am frühen Morgen trank. Ihre Diener, die öfters ihre Pflichten vernachlässigten, versäumten vielleicht, sie ihr zur vereinbarten Zeit zu bringen; aber der geschätzte Gast, Gurudev, den die Maharani als ihren Lehrer verehrte, kam dem Wunsch der Schülerin zuvor, und ohne dass sie es wusste, kümmerte er sich darum, dass die Limonade griffbereit für sie bereitstand.

Als die Maharani jedoch beabsichtigte, Gurudev dazu zu veranlassen, als königlicher Lehrer ständig im Palast zu bleiben, machte er sich stillschweigend aus dem Staub und unter großer Mühsal und Anstrengung ging er nach Rishikesh zurück. Er ging, ohne irgend jemanden im Palast zu informieren, ohne auch nur eine Decke mitzunehmen, obwohl es mitten im Winter war; er ertrug auf seinem Weg Kälte und Hunger, aber er war fest entschlossen, sich vor dem geringsten Hauch von Weltlichkeit zu retten.

Im Leben dieses einzigartigen gewaltigen Individiuums floss das selbstlose Dienen durch viele verschiedene Kanäle. In besonderm Maße betonte er den Dienst für die Kranken und die Armen. Er hatte Krankheit und das Leid, das daraus entsteht, von Jugend an ganz aus der Nähe gesehen, und er fühlte ganz intensiv den Schmerz, der einen anderen Menschen betraf. Ein alter Freud Gurudevs aus Malysia besuchte den Ashram und erzählte uns: „Wir konnten Swamijis Größe damals nicht erkennen. Mehr oder weniger waren wir zu dem Schluss gekommen, dass er voller ungewöhnlicher Exzentrik war.“ Es war der Geist, in dem er diente, der so einzigartig an Gurudev Sivananda war. Er war dynamisch und beschäftigt, den ganzen Tag aktiv – nicht um etwas zu verdienen, und auch nicht, um zu etwas zu verlieren, nicht aus Furcht, ohne jede Erwartung……

In seinem Fall gab es keinerlei ‘Weil’. Warum machte er es also? Wie kann ein Mensch, der keinen Ehrgeiz, keine Wünsche, keine Sehnsüchte und keine Erwartungen hat, überhaupt arbeiten? Wir sind in diesem Gedanken gefangen, dass ein Mensch ohne irgendein Motivation zu haben, müßig sein muss. Swami Sivananda fragte: „Warum sollten wir müßig sein? Wenn du etwas tust, dann fragst du: ‘Warum soll ich das machen?’, aber wenn du es nicht tust, fragst du dich nicht: ‘Warum mache ich das nicht?’“ Wenn man sich selbst als nicht-existent sieht, ist man weder daran interessiert, etwas zu tun, noch daran interessiert, etwas nicht zu tun, faul zu sein, müßig zu sein. Müßig zu sein ist nutzlos. Müßig zu sein ist nur eine andere Form von Eitelkeit oder Egoismus. Wenn du dich selbst als nicht-existent siehst, arbeiten in dir die Energie und das Bewusstsein (das wir Gott nennen). Hier ist die Bezeichnung ‘Gottes Wille’ oder ‘Gottes Gnade’ angebracht. Genau das sahen wir im Leben Swami Sivanandas.
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FURCHTLOSIGKEIT

Wahrhaft selbstloses Dienen birgt keine Gefahr; es ist im Gegenteil das göttliche Reich, wo die Gläubigen absolute Immunität genießen. In der ersten Zeit seines Lebens im Swarg Ashram erwarb sich Gurudev den Ruf, sich in Gebiete vorzuwagen, um die jeder, dem etwas an seinem Leben lag, einen großen Bogen machte. Cholera- und Typhusfälle, wie die meisten ansteckenden Infektionskrankheiten, blieben ihm vorbehalten. Als Swami Anantanandaji an einer besonders bösartigen Cholera litt, und die Leute Angst davor hatten, sich seiner Hütte zu nähern, wachte Gurudev unausgesetzt am Bett des Swamis. Gurudev empfand absolut keine Abneigung und keinen Widerwillen, wenn er die ekelerregenden Ausscheidungen der Patienten versorgte. Eigenhändig reinigte er die Leibschüssel und wusch die Exkremente vom Körper des Patienten. Als Swami Anantananda sehr krank war, beseitigte Gurudev ohne weiteres und ohne zu zögern mit dem Finger den Kot aus dem Enddarm des Swami, ohne Ekel, ohne Angst. Diese Sicherheit war nicht einmal auf seinem medizinischen Wissen begründet – „Ich kann mich mit einem Desinfektionsmittel waschen.“ Ich habe nie gesehen, dass er seine Hände in Desinfektionsmittel gewaschen hätte. Bestenfalls verwendete er gerade reines Wasser. Und auch als ein Schüler von Swami Veeraraghavachari an Cholera litt, war es wieder Gurudev, der sich bereit erklärte, sich um ihn zu kümmern. Die Menschen waren voll des Staunens über Gurudevs Dienen; und viele machten es wie Sri Kalyanandaji, der ausschließlich nach Gurudev schickte, wenn er erkrankte – er gab sich mit niemand anderem zufrieden. „Was auch immer du mit deinen wundertätigen, heilenden Händen tust, wird mich heilen.“ sagte er.

Sehr viel später, 1948-49, bewohnte Gurudev eine Kellerwohnung, und über ihm war ein Familienvater, der von der schlimmsten Form von Pocken befallen war. Die Haut des Mannes war nicht mehr zu sehen. Nur noch die Augäpfel stachen hervor und der Rest des Körpers war voller Pocken. Und der Meister war immer da unten. Niemand konnte ihn dazu bewegen, den Ort zu verlassen und an einen anderen Platz im Ashram zu gehen. Man sah in seinem Gesicht, dass überhaupt keine Furcht vorhanden war. Genauso, als er selbst Typhus hatte, beunruhigte ihn das auch nicht.

Auch in psychologischer Hinsicht, wie wir gesehen haben, war er absolut furchtlos – furchtlos in erster Linie gegenüber öffentlicher Kritik. Es ist sehr wichtig, diese Furchtlosigkeit nicht mit Gleichgültigkeit oder einer Trotzhaltung zu verwechseln. Es war kein Trotz in ihm. Ich habe das gesehen; wenn er etwas tun wollte und einer seiner Schüler sagte: „Nein, Swamiji, so sollte es nicht gemacht werden, es sollte auf diese Art gemacht werden.“, sagte er ganz sanft und schlicht: „Ja gut, machen wir es so.“ Wenn es jedoch um etwas ging, was er mit seiner ganzen Person zu tun wünschte, dann kümmerte er sich nicht im mindesten darum, wer irgendetwas sagte. In den ersten Jahren dieses Jahrhunderts, so lange bis er den Brauch änderte, war es undenkbar für einen Swami im feuerfarbenen orangen Gewand zu singen und zu tanzen, nicht einmal wenn es das Mahamantra war – Hare Rama, Hare Rama, Rama Rana, Hare Hare, Hare Krishna, Hare Krishna, Krishna Krishna, Hare Hare. Einem Swami war es nicht einmal gestattet, sich vor anderen zu verbeugen. Swami Sivananda begann damit, sich vor jedem zu verbeugen. Er wurde kritisiert! Sri Swami Tapovanji erinnerte sich lebhaft daran, wie Gurudev drei kleine Stoffsäckchen mit sich trug, überall wohin er ging. Einer davon enthielt Flugblätter, Broschüren und ein Notizheft; in einem waren Süßigkeiten und Kekse oder ein paar Früchte, und im dritten waren einige gebräuchliche Medikamente wie Aspirin, Verbandszeug, etc. Auf seinem Weg blieb er hundertmal stehen, erkundigte sich nach den Einsiedlern und Dorfbewohnern, verteilte die Broschüren und gab jedem, der es brauchte, Medizin. Die Süßigkeiten gab er den Kindern. Im Swarg Ashram lebte Gurudev nur von Almosen (aus dem Armenhaus), die aus Suppe und trockenem Brot (rotti) bestanden. Nachdem er sein Heim in Südindien verlassen hatte, stellte jemand fest, dass eine Versicherungspolizze auf seinen Namen fällig geworden war, deren Wert sich auf etwa fünftausend Rupis belief. Wenn er sich strikt an die Regeln gehalten hätte, hätte er auf das Geld verzichtet, aber anstatt dessen verwendete er es, um Medikamente, Obst und Frischkäse für die Kranken zu kaufen, und um den Sadhus zu dienen. Er errichtete die Satyasevashram Apotheke, wo alle Patienten, Einsiedler wie Laien, Medikamente, Essen und Geld erhielten, wenn sie es brauchten, wie auch aufrichtige Dankbarkeit und Sashtang Namaskar (volle Verbeugung), zu ihrer größten Verlegenheit. Die Patienten wurden als die lebendige Gottheit behandelt.

Gurudev wurde wegen all dem von den Swamis und heiligen Männern kritisiert, die von ihm sagten: „Oh, er ist ein Familien-Swami, obwohl er das orange Gewand trägt, denn er macht Geldgeschäfte und veröffentlicht all diese Schriften. Ein Swami muss mit absolut bloßem Kopf herumgehen. Er darf nicht einmal sein Wassergefäß tragen – ein Schüler soll es machen.“ Diejenigen, die das zu ihrer Regel gemacht hatten, kritisierten ihn natürlich, aber er ließ sich davon nicht beeindrucken und reagierte auch nicht darauf. Nur schwache Menschen reagieren. Später hörte ich das selbst aus dem Mund eines seiner Kritiker. Er war ein wundervoller Mann und sagte: „Wir alle haben euren Guru kritisiert, und jetzt haben wir uns alle ihm angeschlossen. Er war im Recht und wir im Unrecht.“

Der Meister wollte nicht etwa beweisen, dass er im Recht war. Es war so klar – es musste geschehen. Er war so gänzlich und absolut furchtlos. Furchtlos, denn die falsche Identifikation ‘Ich bin der Körper’ war weg. Der Körper ist der Körper, und das ‘Ich’ gibt es nicht. Die Chit Shakti, die Kraft Gottes, arbeitet. Das ist Karma Yoga. Nur ein solcher Mensch konnte es sich leisten, niemanden zu hassen, und auch keine Spur von Feindseligkeit zu hegen. Nur reine Liebe und Demut waren verkörpert in dieser riesenhaften Gestalt, die einem Angreifer ganz offen die Stirn bieten und sich gleichzeitig niederbeugen und liebevoll um ein kleines Kind kümmern konnte.

Als sich Gurudev an den Ort begab, an dem sich der Ashram jetzt befindet, richtete er wieder eine Apotheke ein, und alle Ashrambewohner wurden einer strengen Ausbildung im Dienst an Kranken unterzogen. Gurudev bemächtigte sich ‘aggressiv’ der Pilger, die von Pilgerreisen in den Himalaya zurückkamen, und rieb ihre übel zugerichteten Beine mit Terpentinsalben ab; einen Schüler bat er, das zweite Bein einzureiben und gab so seinen Schülern eine praktische Ausbildung in selbstlosem Dienen. Dieser Sat-Sankalpa (heilige Wunsch) nahm in der Sivananda Augen Klinik und im riesigen Sivananda Allgemeinen Krankenhaus mit all seinen modernen Einrichtungen Gestalt an. Als Gurudev 1953 an Lumbago litt, brachten wir ihn in ein nahegelegenes Militärkrankenhaus zu einer speziellen Behandlung für seinen Rücken. Er sagte: „Wieso kaufen wir kein solches Gerät? Dann können alle Armen der Gegend es gratis benutzen.“ So war er.

DER ZUFLUCHTSORT FÜR LEIDENDE

Die drei größten Kennzeichen von Gurudevs selbstlosem Dienen waren Mitgefühl, Toleranz und die feste Entschlossenheit, nichts Schlechtes zu sehen. Sein Mitgefühl brauchte keine Rechtfertigung dafür, wenn er alten und armen Menschen, die ohne die geringste Absicht, ein Leben der Entsagung zu führen, in den Ashram kamen, Essen und Geld gab. Sie kamen nur zu ihm, um Essen, Kleider und ein Obdach zu bekommen. „Wohin soll er gehen? Wir müssen uns um ihn kümmern.“ Diese Feststellung verblüffte sehr oft die für den Ashram Verantwortlichen und auch Besucher. Gurudev übernahm die Verantwortung dafür, sich um einen armen Menschen, der an seine Tür kam, zu kümmern, aus dem einfachen logischen Grund, dass der arme Mensch vom Herrn, der in ihm wohnt, veranlasst worden war, zu Gurudevs Füßen Zuflucht zu suchen. Wie konnte der Ashram diese Menschen erhalten? Die Frage wurde von Gurudev ebenso leicht beantwortet: „Der Herr, der sie hierher schickt, wird auch für ihren Unterhalt sorgen. Derzeit kümmert sich der Staat nicht um diese alten Menschen und deshalb ist es meine Pflicht es zu tun so gut ich es kann.“

Unter den Armen waren Witwen, die der frühzeitige Tod ihres Mannes hilflos zurückgelassen hatte; Frauen, die die schlechte Behandlung durch ihre Ehemänner oder Schwiegereltern aus dem Haus getrieben hatte, und Waisen und alte Menschen. Ihnen allen standen die Tore des Sivananda Ashrams immer offen. Ihnen allen war Gurudev Mutter und Vater. Er fragte sie weder nach ihrer Vergangenheit noch über ihre Pläne für die Zukunft; sie litten Mangel, und zuerst wurde dieser Mangel beseitigt. Immer wieder geschah nach ein zwei Monaten ein ‘Wunder’. Sie stiegen im Ansehen ihrer Verwandten, und die Wunde wurde geheilt. Es kam oft zu einer glücklichen Wiederzusammenführung zerbrochener Familien. Einmal lag ein Notleidender vor dem Rama Ashram. Niemand schenkte ihm auch nur einen Blick, aber wie gewöhnlich, sobald Gurudev davon erfuhr, ließ er den Mann in den Ashram bringen und veranlasste jeden seiner Schüler, sich um ihn zu kümmern. Oft tauchte Gurudev in einem Moment auf, der für den Menschen psychologisch höchst kritisch war, und rettete so sein Leben. Viele, die in höchster Verzweiflung am Rande von Leben und Tod standen und dem Tod den Vorzug vor der leidvollen Existenz hier gaben, wurden von der höchsten Gnade des Herrn zur göttlichen mitleidsvollen Umarmung von Gurudevs Liebe geführt. Eine wundersame Veränderung fand in ihrem Leben statt, Schwermut und Verzweiflung wichen Frieden und Hoffnung.

Diese Art von Dienst tat Gurudev auch in Malaysia. Narasimha Iyer erzählte uns, wie völlig gebrochene und verzweifelte junge Menschen in das Haus des Doktors stolperten. Sie wollten ihr Leben und ihr Elend beenden, und der Doktor zeigte ihnen immer, wie sie das Elend beenden und ein neues Leben gewinnen konnten. Er kümmerte sich um sie wie um seine eigenen Geschwister und verfolgte ihren Lebensweg, solange bis sie einen achtbaren Platz in der Gesellschaft einnehmen konnten.

Sein ganzes Leben lang setzte er diese Art von Dienst fort, und der einzige Grund, den er nannte, diese Menschen im Ashram aufzunehmen, war: „Gott hat sie zu uns gesandt, damit wir ihnen dienen können.“ Menschen, die an schweren Schocks litten, entweder durch den Verlust eines geliebten Menschen oder wegen Rückschlägen in ihrer offiziellen und sozialen Karriere, kamen schutzsuchend zu Gurudev. Sie stellten fest, dass sie willkommen waren. Gurudevs Abhaya-Hasta (die Hand, die Furchtlosigkeit garantiert), sicherte ihnen Freisein von allen Spannungen und Ängsten und ließ die Sonne von Hoffnung und Freude in ihrem Leben aufdämmern. Einen so unterschiedsloser Schutz kann nur der Herrn gewähren.
Diese Einstellung ließ Gurudev auch behaupten, dass es niemanden auf der Welt gab, der seinen Dienst nicht verdiente, niemanden auf der Welt, der Nächstenliebe nicht verdiente. Dieses Gefühl stand hinter seinem unterschiedslosen Dienen und seiner Nächstenliebe – und das ist der Schlüssel zu Yoga.
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DIE GEISTESHALTUNG

Gibt es auf der Welt nicht Menschen und Institutionen, die den einen, mehrere oder vielleicht sogar alle Arten des beschriebenen Dienstes tun? Vielleicht gibt es sie. Was also war in dieser Hinsicht das Besondere an Gurudev? Was ist es, das jemandem, der einfach sozial tätig ist, oft fehlt, das ihn zur Göttlichkeit erhoben hätte, hätte er es nicht übersehen? Es ist dieses innere Bhava (die Einstellung), die später als Anubhava (Erfahrung) erblüht. Wenn man sich während des Dienens daran erinnert, dass alle Hände und Füße SEINE sind, dann wird das Dienen eine heilige Pflicht. Den Dienst zu tun, ist an sich schon der größte Lohn und an ein Ergebnis wird im Vorhinein nicht einmal gedacht.

Das ist also das Geheimnis von Gurudevs unermüdlicher Schulung von Suchenden, auch wenn sich etliche darunter als falsch und unwürdig herausstellten, und ihnen zu dienen, auch wenn sie sich ihm gegenüber schlecht verhalten hatten. Wenn man ihm Gelegenheit bot zu dienen, dann tat er es, ohne weiteren Gedanken. Was man dafür für ihn tun könnte, interessierte ihn nicht. Der Dienst hat als solcher bereits seine Erfüllung gefunden. Diese Einstellung was das Geheimnis von Gurudevs vollkommener Verhaftungslosigkeit.

Gurudevs Toleranz kannte keine Grenzen. Wenn Swami X dem Ashram einmal einen Dienst erwiesen hatte und dann begann, ein bequemes Leben zu führen, ohne irgendwie zu arbeiten, dann verlangte Gurudev nicht von ihm, wieder zu arbeiten oder den Ashram zu verlassen. Bei solcher Gelegenheit sagte er: „Für die Arbeit, die er getan hat, muss ich die nächsten fünf, sechs Leben für ihn zu sorgen.“ Gurudev selbst arbeitete vierundzwanzig Stunden am Tag, jeden Tag des Jahres – keine Ferien, keine Sonntage, nichts. Sogar wenn er krank war, war er aktiv; aktiv im Dienst für die Menschen, und doch tadelte er nie jemanden, weil er diesem Beispiel nicht folgte.

SIEH GOTT IN ALLEM

Gurudev konnte nirgends etwas Schlechtes sehen, und es gab nichts, das er nicht verzeihen konnte. Seine Kraft in dieser Fähigkeit wurde auch bis an die Grenze menschlichen Duldungsvermögens getestet. Es war am Abend des 8. Januar 1950. Wir hatten damals in der Bhajanhalle keinen Strom. Auf dem Altar standen Bilder von Rama und Krishna und nur eine Öllampe. Zum Vorlesen verwendeten wir eine Sturmlaterne, und sobald der Teil des Vorlesens im Satsang zu Ende war, wurde sie weggestellt. Es war also recht dunkel im Satsang. Der Meister saß immer gleich an der Tür, beim Eingang.

Einmal fragte ihn jemand: „Warum sitzt du hier, warum setzt du nicht irgendwohin, wo es weniger zugig ist?“, und er antwortete: „Du weißt, ich habe einen schwachen Darm und ich bin Diabetiker, und es kann sein, dass ich manchmal aufstehen und zur Toilette gehen muss. Ich möchte nicht den ganzen Satsang stören. Deshalb sitze ich hier. Ich könnte auch zu spät kommen. Ich möchte keine Störung verursachen.“ Effektiv hat er kein einziges Mal den Satsang verlassen. Er kam auch nie zu spät; normalerweise war er als Erster da.

An diesem Tag hatte der Satsang begonnen, das Vorlesen war vorbei, und das Licht wurde weggestellt. Es war Winter, und der Meister wickelte immer einen Schal um seinen Kopf, aber normalerweise nahm er ihn sofort ab, sobald er die Halle betrat. Aus einem Grund, den niemand kennt, tat er das an diesem Abend nicht. Ein junger Mann, verärgert und wahrscheinlich geistig verwirrt, kam mit einer Axt in der Hand in die Satsanghalle. Er wusste, wo Swami Sivananda immer saß und zielte drei Schläge auf Gurudevs Kopf. Der erste Schlag, der niederging, traf den Turban. Nichts passierte. Es gab nur das Geräusch, wie wenn etwas irgendwo aufschlägt. Also hob der Attentäter die Axt rasch wieder hoch und schlug dabei gegen ein Bild, das über Gurudev an der Wand hing. Das machte noch mehr Lärm, jetzt war der Mann völlig nervös geworden, und obwohl er zu einem neuerlichen Schlag ansetzte, traf er irgendwie die offene Tür und streifte nur leicht Swami Sivanandas Arm. Leute sprangen auf, erfassten den Mann und entdeckten so die ganze schreckliche Wahrheit. Das Einzige, was Gurudev in dieser Phase interessierte, war, dass der Satsang weitergehen und wie üblich mit allen Schlussgebeten und so weiter abgeschlossen werden sollte. Einige von uns arbeiteten unten im Büro, als jemand hereinstürzte und uns berichtete. Wir liefen sofort hinauf, und da hörte ich, wie die ganze Versammlung sang: „sarvesam svasti bhavatu, sarvesam santir bhavatu…“, und ich sagte zu meinem Gefährten: „Swamiji ist sicher in Ordnung.“, denn nur er konnte die Nerven, die Ruhe und die Geistesgegenwart haben, den Satsang fortzusetzen und den ganzen Vorfall so zu behandeln, als wäre nichts passiert. Gurudev saß ruhig da und sagte alle Mantras!

Später erfuhren wir, dass das bereits die zweite wundersame Rettung Gurudevs an diesem Tag gewesen war. Dieser Mann, den Gurudev aus reinstem Mitleid im Ashram behielt, ohne von ihm auch nur ein wenig seiner Zeit und seiner Energie für den Dienst für die Institution zu verlangen, hatte auch noch ein anderes Attentat geplant. Er hatte an der Biegung der Straße auf Gurudev gewartet, dann, wenn Gurudev immer zur Morgenmeditation hinaufging. Der Meister ging immer alleine. Aber eben an diesem Morgen versäumte er die Meditation und war unglücklich darüber. Als er später ins Büro kam, sagte er: „Heute schlief ich so tief… Ich weiß nicht, was los war – ich habe einfach verschlafen.“ Erst später erfuhren wir, dass es ihn vermutlich das Leben gekostet hätte, wenn er gekommen wäre, da dieser Mann gewartet hatte. Da er diese Chance verpasst hatte, kam er auf einen neuerlichen Versuch in die Halle.

Nach dem Vorfall wurde der Mann in einen Raum gebracht, wo jetzt die Druckerpresse ist. Gurudev ging hin, stellte sich vor den Attentäter, faltete seine Hände und sagte: „Bist du zornig über mich? Bist du zufrieden? Möchtest du mir noch weitere Schläge versetzen?“ Es war eine wunderschöne Szene. Welche Liebe! Am nächsten Morgen sagte der Polizeiinspektor: „Wir müssen ihn anzeigen?“ Swamiji antwortete: „Nein. Keine Anzeige. Er hat nichts getan; es wurde nur mein Karma ausgearbeitet. Warum sollte er dafür bestraft werden?“ Die Polzei wollte amtshandeln. Also willigte Swamiji schließlich ein, dass der Mann in seine Heimatstadt nach Südindien zurückgeschickt werde. Am Morgen seiner Abreise ging Swamiji selbst mit einem Teller, auf das er eine Blumengirlande, Früchte, Kleider, Bücher, Geld für die Fahrkarte und Taschengeld gelegt hatte, zur Polizei hinunter. Er legte diesem Mann die Girlande um, gab ihm zu essen, brachte ihm seine Verehrung dar und verbeugte sich zu Füßen des Attentäters. Niemand außer Gurudev wäre dazu in der Lage gewesen. Dann sagte er: „Gott Selbst kam in dieser Gestalt, aus Gründen, die nur Er kennt. Gott kommt nicht nur als dein Wohltäter, als Bettler oder als Kranker zu dir, sondern Gott kommt sogar als dein Mörder zu dir. Auch dieser Mann ist niemand anderer als Gott.“ Er ging weiterhin im Dunkeln in die Bhajan Halle. Er machte weiterhin alleine seinen regelmäßigen Abendspaziergang. Das nennt man Glauben. Es ist leicht, Gott in jemandem zu sehen, der den Feind getötet hat, aber wenn du Gott in jemandem sehen kannst, der kam, um dich zu töten, dann bist du über jede Unterscheidung hinausgegangen.

Gurudev sagte: „Ehre Menschen mit schlechtem Charakter. Diene zuerst dem Schurken. Behandle ihn als zukünftigen Heiligen oder als tatsächlichen Heiligen; auf diese Weise reinigst du dein Herz und erhebst auch ihn.“ In einem seiner ersten Briefe an Swami Paramanandaji (1934-35) schrieb er: „Ich möchte Menschen um mich haben, die mich beleidigen, beschimpfen, schlecht machen und verletzen. Ich möchte ihnen dienen, sie erziehen und sie verändern.“ In einer Gruppe von Menschen suchte er zuerst die schlechten Charaktere heraus, egal ob sie weiß oder orange gekleidet waren, und begrüßte sie mit gefalteten Händen. Er sprach sie überaus respektvoll an. Gurudev sagte: „Nenne den Schurken einen Heiligen; erweise ihm in aller Öffentlichkeit Respekt, und er wird sich schämen, weiterhin Schlechtes zu tun. Sage einem aufbrausenden Menschen immer und immer wieder: ‘Du bist eine Verkörperung von Frieden.’, und er wird sich schämen, zornig zu werden. Nenne einen faulen Menschen einen dynamischen Arbeiter, und er wird sich in den Dienst stürzen. Aber das Lob muss von tiefstem Herzen kommen, und es muss die Kraft der Seele in jedes Wort gelegt werden, du musst ehrlich fühlen, dass hinter der scheinbar negativen Eigenschaft eine strahlende positive Tugend verborgen ist, die nur darauf wartet, zum Vorschein zu kommen. Wenn du das tust, werdet ihr beide einen Nutzen davon haben.“

Wenn dieser Geist des Karmayoga in unseren Herzen geweckt wird, dann wird auch jede unserer Handlungen notwendigerweise diese Einstellung widerspiegeln. Im Falle des Meisters konnte man sehen, dass er die Gegenwart Gottes fühlte, nicht nur in Schreinen und Tempeln, in heiligen Menschen und heiligen Orten, sondern auch in Pflanzen, in Tieren und auch in unbelebten Dingen. Wie er seine Füllfeder schloss, war ein Genuss anzusehen. Er plazierte sie – nicht legte sie – auf den Tisch. Es war wunderschön. Es war eine Kunst. Es hatte etwas ganz Zartes. Wenn er ein Tuch aufnahm und es sich umlegte, war das schön. Es war Kunst, denn das Herz war dabei. Auch als Gurudev bettlägerig war, wenn ihm ein Paket gegeben wurde, obwohl er nicht auf den Boden gelangen konnte, sah man, wie sehr er sich bemühte, es nicht fallenzulassen. Ich glaube nicht, dass er jemals etwas kaputtgemacht hat. Nur einmal schnappte ein Affe seine Füllfeder und nahm sie mit, und dann gab ihm jemand eine Banane – er ließ die Feder fallen. Ansonsten kann ich mich nicht erinnern, dass die Dinge, die er benutzte, jemals Schaden genommen hätten. Menschen, im besonderen Besucher aus dem Ausland, schenkten ihm oft Dinge, und dann gab er die alten jemand anderem. Nichts ging jemals kaputt. Auch in diesen Gegenständen konnte er die Gegenwart Gottes spüren.

Es ist nicht so, dass man, um Karmayoga zu praktizieren, arme Menschen suchen müsste, um wohltätig zu sein, oder Kranke finden (oder sie sogar krank machen), um ihnen dienen zu können. Für Swami Sivananda war alles heilig. Alle Dinge auf der Welt waren heilig. Der Meister beschränkte Karmayoga nicht auf bestimmte Bereiche. Er war klar und bestimmt: „Selbstloses, absichtsloses Handlen ist überall möglich, egal, wo man ist, Lebenstil oder Beruf sind unbedeutend. Der richtige Geist verlangt – tue deine Pflicht und Schuldigkeit, ohne jedes Motiv, und deine Handlungen werden friedvoll, wonnevoll und fruchtbringend sein.“
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AUSBILDUNG VON SCHÜLERN

Im Ashram des Meisters in Rishikesh, gingen die Swamis jeder erdenklichen Tätigkeit nach. Einmal sagte Gurudev selbst: „Ich arbeite nicht nur selbst hart, ich weiß auch, wie man aus anderen Arbeit herausholt.“ Das ist schön gesagt. Wie machte er das? Manchmal lehnte er sich in seinem Stuhl zurück und schob die Brille nach oben; manchmal schloss er ein Auge und schaute nur einfach. Und dann lächelte er. Was war in dieser Stimme, in diesen wenigen Worten, nur in diesem Blick? Und etwas in diesem Gesicht, etwas in diesen Augen verzauberte. Er eroberte durch Liebe.

Gurudev war äußerst geduldig mit schlampiger Arbeit, mit Untüchtigkeit und Fehlern. All das störte ihn gar nicht. Es gab buchstäblich nichts, was er nicht tolerieren konnte, außer, wie er sagte, Faulheit. Wie bringt man einen anderen zum Arbeiten? Die erste Antwort ist, dass man ein Beispiel geben muss. Swami Sivananda selbst war das beste Beispiel.

Er verwendete noch eine weitere Methode. War man faul, bekam man vom Meister zuerst einige Früchte und Milch und Kaffee und noch andere Geschenke. Immer wenn man Swami Sivananda begegnete, grüßte er und lobte die guten Eigenschaften. Das war eine indirekte Suggestion: „Du bist ein so wunderbarer Mensch, warum zeigst du es nicht?“ Manchmal versteht man den Hinweis, und manchmal sagt man: „Ich meditiere sechs Stunden am Tag.“ und dann antwortete er beflissen: „Sehr gut, du musst meditieren, mach ein wenig Kirtan und Bhajan.“ Man meint, man wird von ihm ermutigt, das zu tun und wird nur noch fauler. Auch Früchte und Kaffee inspirieren oder stimulieren nicht. Dann beginnt er in deiner Gegenwart über jemand anderen zu sprechen: „Was für ein dynamischer Mensch er doch ist. Jeder sollte so sein.“ Das gilt dir, aber du hast schon das Image, sechs Stunden zu sitzen und zu meditieren, und achtest nicht darauf. Wenn all das nicht funktioniert, sagt er vielleicht: „Steh zur Abwechslung einmal auf und tu etwas.“ Er konnte einige Minuten lang einschlagen wie ein Donnerschlag, und dann war er wieder Milch und Honig. Wenn auch das fehlschlug, waren die Faulen die ersten, die bei einer finanziellen Krise gehen mussten. Faulheit tolerierte er nicht. Auch als er Typhus hatte und deshalb äußerst schwach war, fragte er oft nach den faulen Leuten im Ashram: „Wir sollte keine faulen Menschen hierbehalten.“ Er selbst war niemals faul. Für den Körper wurde sehr gut gesorgt und dann musste er hart arbeiten. Warum sollte man einen gesunden Körper zum Verzehr der Würmer ins Grab legen? Quetsche ihn aus; hole den letzen Tropfen „Saft“ aus ihm heraus, bevor du ihn wegwirfst.

Gurudev war den Suchenden im Ashram mehr als Vater und Mutter. Wenn jemand die geringste Spur eines verborgenen Talents zeigte, machte er es sich beinahe zu seiner persönlichen Aufgabe, es zu erwecken und seine Entfaltung zur vollsten Manifestation zu führen. Gurudev dachte unausgesetzt über Mittel und Wege nach, um das zu tun. Jeder muss zum Wohle der Menschheit in vollem Maße Ausdruck finden. Ein junger Mann, der behauptete, er sei mit der Technik der Papierherstellung vertraut, betrat den Ashram. Am nächsten Morgen ließ Gurudev das Loch ausheben und Rohmaterialien wurden bestellt. Gurudev ermutigte diesen Mann, mit seinen Ideen zu experimentieren, obwohl er absolut keine Zeugnisse hatte und Gurudev auch niemals welche verlangte.

Ein guter Musiker kam in den Ashram, und gleich am nächsten Tag wurden für ihn ein neues Harmonium und Tablas bestellt. Gurudev zeigte so großes Interesse an all diesen Unternehmungen, dass man meinen konnte, er hätte gerade nur darauf gewartet, dass du kommst, um ihm bei dieser Arbeit zu helfen. Seine Begeisterung war so groß, dass er binnen kurzem dem Experten auf dessen Gebiet Tips zur Verbesserung seiner Arbeit gab.

Swami Saradananda kam 1947 in den Ashram. Als Gurudev feststellte, dass er eine Begabung für Photographie hatte, wurde sofort eine Photoabteilung eingerichtet und Gurudev war voller Ermutigung. Schlussendlich war es eines der best eingerichteten Studios des Landes. Man muss bedenken, dass das alles am Fuße des Himalaya stattfand, nicht in einer hochtechnisierten Metropole.

Ein weiteres interesessantes Ereignis war, als ein Koch, der eigentlich nicht gekommen war, um im Ashram zu bleiben, von Gurudev ermutigt wurde, ein Restaurant zu eröffnen und es zu seinem eigenen Gewinn zu führen. Gurudev war der Ansicht: „Bringe ihn zuerst dazu, dass er bleibt, und dann lenke ihn allmählich zu spiritueller Praxis.“

Alle Bereiche im Ashram wurden von den Swamis selbst betrieben. Die Swamis machten den ganzen Schriftverkehr und die Buchhaltung. Man scheute diese Tätigkeiten nicht, weil es ‘weltliche’ Aktivitäten waren.

Gurudev schämte sich nicht zu tun, was zu tun war. In der ersten Zeit des Ashrams veranstaltete Swamiji eine Woche dauernde Yoga Camps in den Oster- und Weihnachtsferien. Besucher kamen aus ganz Indien und auch aus dem Ausland. Darunter waren Beamte, Polizisten, Anwälte, Geschäftsleute, aber im Ashram wurden sie als spirituelle Sucher behandelt. Eines Morgens kündigte der Meister an: „Heute ist Karma Yoga. Kommt, wir sind alle Straßenkehrer – heute werden wir die Straßen saubermachen.“ Und es gab keinerlei Unterschiede, der Meister war der erste. Wenn man sich daranmacht, in indischen Dörfern den Rinnstein zu säubern, kann man alles Mögliche finden – Kuhmist, tote Ratten, etc. Nun kommt das Problem: der professionelle Straßenkehrer hat seinen Besen, mit dem er den ganzen Unrat wegschiebt, aber das dürfen wir nicht tun. Das ist absolut nicht der richtige Geist, denn sogar in diesem Kuhmist ist die göttliche Gegenwart. Wenn Gurudev diesen triefenden Korb mit Kuhmist auf seinem Kopf trug, machte es überhaupt nicht den Anschein, als würde er Kuhmist tragen, der Herr hatte auf seinem Haupt Platz genommen. Und jeder musste das machen, das war die Schulung; sicherlich ein sehr spezielles Training, aber hier wurde uns gelehrt, dass nicht das zählt, was man tut, sondern die innere Einstellung.
Manchmal wurden wir aufgefordert, in der Küche zu arbeiten, Kartoffel zu schälen und Gemüse zu schneiden, und er bestand darauf, dass wir die ganze Zeit Gottes Namen wiederholten, und manchmal sangen wir alle gemeinsam: „Hare Rama Hare Rama, Rama Rama…“ und arbeiteten dabei weiter, und der Gesang, oder was auch immer es war, erinnerte uns immer wieder daran, dass es Gott ist, der es tut, und dass es an Gott getan wird. Das Subjekt ist Gott, und das Objekt ist ebenfalls Gott, und daher wird die Handlung an und für sich göttlich.

Eines Tages arbeiteten wir alle im Büro, genau dem Meister gegenüber. Einige tippten, einige schrieben, einige machten Buchhaltung. Er hatte eine sehr liebenswürdige Art, anzudeuten, dass er einen Witz zu machen gedachte. Er trug eine Brille, diese schob er auf die Stirn, schloss ein Auge und schaute. Mit den Ellbogen auf dem Tisch sah er uns an. Mit einem strahlenden und leicht schelmischen Lächeln sagte er: „Habt ihr dieserlei Arbeit nicht auch in Delhi gemacht?“ „Ja Swamiji.“ „Was ist der tiefe Sinn darin, hierher zu kommen? Man geht in einen Ashram, an einen heiligen Ort, auf der Suche nach Moksha, Befreiung, und hier tut man absolut dasselbe wie seinerzeit als Beamter. Warum muss man überhaupt hierher kommen? Kann nicht jeder in seinem eigenen Lebensbereich Karamayoga praktizieren?“

Wir alle schwiegen. Dann gab er selbst die Antwort: „Hier wird die innere Einstellung erweckt.“ Es ist sehr schwierig, solange man noch mit dem Lebenskampf beschäftigt ist, wenn man verwirrt ist, die richtige Einstellung zu entwickeln. Nur wenn man zu Füßen eines Meisters lebt, kann man diese Einstellung entdecken. Wenn man in die Welt zurückgeht, ist es noch immer dieselbe Welt, aber man selbst ist nicht derselbe, und deshalb ist auch die Welt nicht mehr dieselbe. Man hat eine neue Sicht. Darin zu schulen, war die Aufgabe von Gurudevs Ashram.

Der wirkliche, aufrichtige, dürstende Suchende war Gurudevs Gott. Er lebte für solche Schüler. Der einzig mögliche Vergleich dazu wären ein Vater und sein einziger Sohn, der ihm spät im Leben geboren worden war, und über den der Vater seine ganze Liebe ergießt, und für dessen Wohlergehen ihm kein Opfer zu groß erscheint.

Nicht nur im Bereich der Arbeit sondern auch im Bereich der spirituellen Praxis, schuf Gurudev die Atmosphäre, die für jeden Suchenden nötig war, damit er sich entsprechend seinem Temperament und seiner Anlagen entwickeln konnte. Nie wurde ein Suchender veranlasst, seine Art der spirituellen Praxis zu ändern. Wenn man Vedanta studieren wollte, stellte er alle notwendigen Annehmlichkeiten und Bequemlichkeiten zur Verfügung, damit man in Zurückgezogenheit studieren und sich entwickeln konnte. Er verlangte dann niemals, dass man arbeitete, lobte öffentlich die Weisheit und machte die Person zu einem Professor der Yoga Vedanta Wald Akademie. Genauso geschah es mit ernsthaften Schülern, die andere Arten spiritueller Praxis pflegten.

Gurudev arbeitete unermüdlich, damit die überaus glücklichen Suchenden, die zu seinen heiligen Füßen Zuflucht gesucht hatten, davor bewahrt blieben, die Schwierigkeiten zu erleben, mit denen er selbst zu Beginn seines Lebens in Rishikesh hatte fertig werden müssen. Er tat alles Erdenkliche, um sie davor zu bewahren, in der Sorge um die alltäglichen menschlichen Bedürfnisse des Körpers – Nahrung, Kleidung, Unterkunft und medizinische Versorgung – kostbare geistige Energie zu vergeuden, damit sie dafür frei blieben, den Weg zu beschreiten, den sie für sich entworfen hatten. Niemand im Ashram hatte schlimmere körperliche Beschwerden als Gurudev selbst, und doch gab es niemanden, der schwerer arbeitete als er. Sobald er feststellte, dass es einem Schüler nicht gut ging, auch wenn es nur ein leichter Kopfschmerz war, sagte er: „Bitte geh und leg dich hin.“ und beauftragte einen Arzt und ein halbes Duzend weitere Personen, die sich um ihn zu kümmern. Wenn  er jedoch selbst krank war, wies er die dringende Bitte des Arztes, dem Körper ein wenig Ruhe zu gönnen, entschieden zurück. Das war ein Punkt, wo ein riesiger Unterschied bestand zwischen Gurudevs Anweisung und Praxis. Er übte selbstaufopferenden Dienst, der nicht an Annehmlichkeiten dachte, aber anderen predigte er: „Bitte achte auf deine Gesundheit.“ Seine Liebe zu einem ernsthaften spirituell Suchenden war unfasslich.

Im Jahre 1946 waren wir recht arm und hatten weder viele Räume, noch viele Annehmlichkeiten oder Bequemlichkeiten. Wir hatten nicht einmal einen sicheren Schutz gegen die Affen, die in den Ashram eindrangen. Es gab einen sehr kleinen Raum, den wir Büro nannten, mit zwei klapprigen Türen, und daneben war ein Raum mit einer niedrigen Decke und einem niedrigen Eingang. Gurudev nannte ihn den ‘Eingang der Demut’. Wenn man sich nicht bückte, war man seinen Kopf los – was auch im Leben so ist. Zwischen diesen beiden Räumen war eine Verbindungstür. An einem sehr heißen Mittag hatten wir die Bürotür und auch die Zwischentür geschlossen und waren in einem kleinen angrenzenden Raum. Wenn der Meister zu Mittag aß, bat er immer um einen zweiten Teller, nahm eine Portion von dem, was er aß, und legte sie auf diesen Teller. Nachdem er gegessen hatte, nahm er, ohne vorher auszuruhen, diesen Teller, bedeckte seinen kahlen Kopf mit einem dünnen Tuch, ging von einem Raum zum anderen, und gab jedem seiner Schüler ein wenig von dem Essen. Damals war das an und für sich schon etwas Besonderes, denn viele Swamis ließen weder ihre Schüler noch jemand anderen nicht einmal sehen, was sie aßen! Gurudev war die Ausnahme von der Regel. „Alles, was ich esse, alles, was ich habe, musst du auch bekommen, du musst auch teilen.“ – das war der Geist. Also kam er um etwa 1.00 in der glühenden Hitze zum Büro, mit dem Teller in der Hand. Da er alle Türen geschlossen sah, nahm er an, dass wir schliefen. Er ging in die Küche daneben und fand dort einen Swami. Gurudev gab ihm zwei oder drei Tassen von irgendetwas und sagte ihm: „Die drei Burschen haben sich hingelegt, störe sie bitte nicht, aber wenn aufwachen, gib ihnen das.“ Zwei Minuten später lachte einer von uns, und der Swami in der Küche, der das hörte, kam mit drei Tassen herein und sagte: „Swamiji ist gekommen und hat mir das für euch gegeben. Er dachte, ihr würdet schlafen.“ Das war der Geist von Gurudev; sein ganzes Leben lang war er mehr um andere besorgt als um sich selbst. Vielleicht ist das der Grund, warum sein Körper so von Krankheiten geschüttelt wurde – der Körper hielt es einfach nicht aus.

Wenn man mit einem solchen Menschen lebte, was es schwierig, ihn auch nur zu beobachten. Man musste einen Adlerblick haben, um all diese Masken zu durchschauen, und den wahren Meister und seine Lehre zu sehen. Wie soll man die Lehre eines so großen Meisters aufnehmen, der diese vollkommen symetrische duale Beziehung zu seinen Schülern hatte? Zweifellos wollte er lehren, seine Schüler ausbilden, aber er liebte sie so sehr, dass die Lehre in einen dicken Zuckerguss gehüllt war, so dass wir ziemlich oft nur den Zucker ableckten und die Pillen wegwarfen. Man musste sehr ausdauernd sein, um all diese Süße abzulecken und dann zu der (vielleicht bitteren) Pille zu kommen. Beide Seiten dieser Beziehung waren gleich stark: seinem Eifer, seine Schüler zu unterweisen, kam nur seine Liebe zu ihnen gleich. Der Wunsch zu lehren entsprang der Liebe, und die Liebe entsprang dem Wunsch zu lehren.

Wenn er etwas tat, musste man in sein Gesicht sehen, in seine Augen sehen, und dort nahm man etwas wahr, was ganz anders war als das, was man gewohnt wahr. Wenn er dir etwas gab, wenn er etwas für dich tat, war in diesem Gesicht kein Stolz, keine Arroganz, kein Hauch von blasierter Selbstzufriedenheit.

In diesem Gesicht, in diesen Augen war Demut, da war Liebe, und was noch wichtiger war, da war Dankbarkeit.

Wenn es dann um die Lehre ging, hatte der Meister eine zauberhaft schöne und kluge Methode. Er sagte: „Man kann nicht den Oberbefehlshaber angreifen, aber man kann mit der Armee fertigwerden. Selbstsucht ist kein einzelner Soldat, der kommt, um dich anzugreifen, sondern sie kommt mit einem Gefolge, einer großen Streitkraft. Wenn man ehrlich und sorgfältig ist, kann man leicht das eine oder andere Mitglied dieser Armee aufstöbern. Gier, Lust, Zorn, Angst, das Streben nach Vergnügen, Wunsch, Hass, Eifersucht, Ehrgeiz, der Wunsch zu beherrschen und der Wunsch nach Macht, Ruhm und Reichtum, sie alle entspringen der Selbstsucht – bekämpfe sie.“

Wie wird man aber schon mit dem Gefolge fertig? Wie weiß man, was Wunsch bedeutet, was Sehnsucht bedeutet, was Eifersucht bedeutet? Wie kann man sie bekämpfen? Hier wird der Guru wertvoll. In der Art, wie Gurudev seine Schüler ausbildete, sahen wir die beste Methode, um die innere Schlechtigkeit, schlechte Gewohnheiten, schlechte Gedanken und Emotionen und ein lasterhaftes Wesen zu bekämpfen. Nur wenn sich eine Meister – Schüler Beziehung entwickelt, können sie leicht überwunden werden.

Der größte Dienst, den ein Heiliger den Menschen erweisen kann, ist es, viele Bilder von sich selbst zu hinterlassen. Gurudev war wie der Stein des Weisen, und mit magnetischer Kraft zog er alles Metall an sich und verwandelte es in pures Gold. Er kannte den Trick, um aus Steinen wertvolle Juwelen zu machen.

Nicht alle, die Zuflucht zu Gurudevs Lotusfüßen suchten, waren gute spirituelle Suchende. Viele waren Produkte der modernen Zivilisation, die, bevor sie der Welt entsagen konnten, bereits mit ihrem heimtückischen Gift gestochen und injiziert worden waren. Und nicht jeder konnte dieses Übel auf dem Weg nach Rishikesh ablegen. Wie reagierte Gurudev auf sie?

Er war die Sonne höchster Güte, vor der kein Schatten des Bösen bestehen konnte. Er sah nur das Gute in den neuen Suchenden; für das Böse war er blind. Diese reinste Form der Liebe verurteilte nie einen Menschen, konnte niemals auch nur streng mit jemandem sein, der vielleicht einen bedauerlichen schlechten Charakterzug aufwies.

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Wenn ihm von einem Vergehen eines Schülers berichtet wurde, lehnte er es ab, der Beschwerde Glauben zu schenken, solange er es nicht mit eigenen Augen sah. Wenn man ihn darauf hinwies, dass So-und-So diese und jene negative Eigenschaften habe, hatte er seine eigene Gegenliste – die vielen guten Eigenschaften des Menschen. Zuerste lehnte er es ab, es zur Kenntnis zu nehmen. Zweitens ergoss Gurudev die nächsten paar Tage lang seine Liebe und Zuneigung über den Betreffenden. Wenn die Beschwerde dann weiterbestand, bedeutete das, dass etwas Wahres daran sein musste. Er schickte einen starken Strahl von Liebe, der von ihm zu dir floss, und erst wenn er sicher war, dich in seinen Fängen zu haben, dass dein Herz vollständig erobert war, vollständig gewonnen worden war, erst dann ließ er eine sanfte Bemerkung fallen. Sehr sanft. Wie gesagt, er ließ nicht einmal seine Füllfeder fallen. So durfte auch diese Bemerkung nicht verletzen, denn wenn Kritik weh tut, bewirkt sie das Gegenteil. Du wirst dich nur dagegen auflehnen und abwenden. Das ließ er keinesfalls zu. Um des Guten willen, dass sicherlich jeder in sich hat, ließ Gurudev dem Schlechten eine lange Leine, und gewann so einen weiteren Bruder für die spirituelle Familie.

Für ihn gab es keinen schlechten Menschen auf dieser Erde, der nicht auch gute Seiten hatte. Niemand war unverbesserlich. In seiner Sicht gab es den ewigen Sünder nicht. Er sah Gott und Göttlichkeit überall, und so übertrugen diese Sicht und seine überwältigende Dynamik seine Seelenstärke, die sofort in jedem das schlummernde Gute erweckte und Tugend verstärkte, wo sie bereits bestand. Auch der, dem dies zugute kam, war sich dessen oft nicht bewusst. In seiner Einstellung den spirituell Suchenden gegenüber bewies Gurudev Anpassungsfähigkeit in höchstem Grad. Kein Opfer war zu groß in dieser Aufgabe, Menschen zu Heiligen zu formen.

Wenn es nur ein oberflächlicher Fehler war, wie eine schlechte Essgewohnheit, überwand sie der Suchende in der spirituellen Atmosphäre rasch. Damit der Schüler nicht von anderen kleineren Schwächen oder einem Hang zu Luxus in Versuchung geführt wurde, stellte Gurudev selbst diese zur Verfügung und verhinderte so unmittelbar den großen Rückschlag, in der Überzeugung, dass der Suchende früher oder später die Schwäche überwinden und den Luxus aufgeben würde. Und wenn es tief genug saß, dass es ihn davon abhielt, sich in der spirituellen Praxis sehr hoch zu erheben, arbeitet er als Werkzeug in Gurudevs Händen, und diese Arbeit erhob Tausende andere. Das war Gurudevs Zauberei. Genau der Mensch, den die Welt verachtete, wurde von Gurudev aufgenommen und in einen sehr nützlichen Mitbürger verwandelt. Der Zauberstab war – konzentriere deine ganze Aufmerksamkeit auf das Gute und mache es größer. Man kann nur gewinnen, wenn man damit in Berührung kommt. Einen Menschen zu schmähen des Schlechten wegen, das man vielleicht in ihm sieht, ist ein schrecklicher Verlust. Gurudev tat das nie. Er holte sogar aus dem Teufel ausgezeichnete Arbeit heraus.

Gurudev veranschaulichte dies oft durch ein Beispiel. „Wenn man an einem Dornbusch vorbeigeht, und plötzlich ein Wind aufkommt und das Tuch, das man um die Schultern trägt, sich im Busch verfängt, kann man es nicht einfach herausziehen. Wenn man das tut, zerreißt das Tuch. Man muss stehenbleiben und ganz vorsichtig einen Dorn nach dem anderen lösen. Soviel Geduld ist auch nötig, wenn man an das eigene schlechte Wesen geht.“ Gurudev gab uns eine wunderbare, effektive und fast tägliche Demonstration dieser Haltung. Wenn man einige Jahre lang mit Gurudev lebte, war man erstaunt, auf welche Art und Weise er Suchende ausbildete.

Die hervorragenden Schüler kamen zu seinen Lotusfüßen, so wie Suchende in früheren Zeiten zum Guru kamen, mit dem lodernden Feuer von Entsagung, Leidenschaftslosigkeit und Unterscheidung. Sie erlangten vielleicht Gottverwirklichung allein durch einen Blick aus Gurudevs Augen oder ein Wort von seinen heiligen Lippen. Das waren wenige. Die großen Mehrheit, mit denen Gurudev arbeitet, waren mittelmäßige Suchende, die vielleicht große Höhen spiritueller Erfahrungen erreichten, nachdem er sie ein wenig ausgebildet hatte. Aber auch die schlechtesten Schüler wurden bald von seiner grenzenlosen Nachsicht, unerschöpflichen Geduld, schrankenlosen Barmherzigkeit und allerhöchsten Liebe verwandelt. Adhikari-Bheda (die Klassifizierung von Schülern nach ihrer Eignung) steuert vielleicht die Geschwindigkeit ihrer Entwicklung zu Heiligkeit, aber es war ganz sicher kein Kriterium, das Gurudev anlegte. Er selbst musste (sehr) oft die Samen von Vairagya (Leidenschaftslosigkeit) in sie legen. Es ist vielleicht einfacher, dem eigenen Sohn Vairagya einzuflößen, als für Gurudev einem jungen Mann, der in den Ashram kam. Gurudevs Herz war voller Liebe, und nicht einmal um garantierter Moksha (Befreiung) für sich selbst willen würde er die Suchenden im Geringsten beleidigen, ihnen die geringste Entbehrung verursachen oder von ihnen verlangen, ein asketisches Leben zu führen.

Ich hörte selbst, wie Gurudev die Schwierigkeiten, die dem Suchenden begegnen, überbewertete, wenn er sagte: „Wie geheimnisvoll ist doch der Geist! Wie kann man ihn beherrschen? Und dann, noch dazu, wie kann ein Mensch sich anstrengender spiritueller Praxis und tiefer Meditation widmen? Ich meine, Gott sollte allen Befreiung geben, auch wenn sie Seinen Namen nur einmal am Tag aussprechen, oder wenn ein Mensch nur einige gute Handlungen des Dienens in seinem Leben tut.“ Wenn Gurudev im Königreich Gottes dazu ausersehen worden wäre, für das Schicksal der Menschen verantwortlich zu sein, dann wäre er in der Tat (mit den Worten Winston Churchills) „für die Auflösung des Reiches“ von Maya (Unwissenheit, die täuschende Kraft des Herrn) eingetreten und hätte jedem Befreiung gewährt.

Wenn es zwischen zwei Schülern zu einem Missverständnis oder einem Streit kam, beschwichtigte Gurudev häufig beide, aber manchmal wollte vielleicht der eine oder der andere den Ashram verlassen. Gurudev tat alles, um einen Aspiranten davon abzuhalten, den Weg zu verlassen, oder um die Sache ungeschehen zu machen. Es gab keine Beleidigung oder Sünde, die er nicht verzieh. Oft sagte er den Suchenden: „Es ist extrem schwierig, ein klein wenig Sadhana Reichtums zu erwerben und sehr einfach, ihn wieder zu verlieren. Es ist so wie wenn man einen Ball mit großer Anstrengung die Stufen hinaufwirft – in dem Augenblick, wenn man auch nur eine einzige Sekunde nicht aufpasst, fällt er sofort auf den Boden zurück.“

Ein Suchender ließ es vielleicht geschehen, dass der Weise seine Persönlichkeit meißelte; dann war er in der Tat gesegnet. Oder er zeigte vielleicht seine Schwäche und rebellierte sogar gegen seinen Wohltäter. Die Nachsicht Gurudevs wurde oft sehr hart auf die Probe gestellt. In der falschen Vorstellung, er wäre schon von Geburt an ein Heiliger, lehnte sich ein törichter Suchender gegen den Meißel auf, mit dem Gurudev versuchte, eine Form aus der plumpen Masse zu erschaffen, die der Schüler war. Ein geliebter Sohn mochte den Vater durch ein solches Verhalten verärgern, aber Gurudev unterbrach nur das Meißeln, ergoss seine Liebe über den Unwissenden und ließ ihm Zeit, zur Besinnung zu kommen. Der junge Mann verließ vielleicht sogar den Schutz des Meisters und, höchst seltsam, derselbe Meister, der das allergrößte Interesse daran hatte, den Schüler zu formen, schaute den fehlgeleiteten Schüler, der seinem Eigensinn, seinem Zorn oder seiner Gier nachgab und so in einem einzigen Augenblick das wunderbare Gebäude zum Einstürzen brachte, das in Jahren geduldiger und ausdauernder Arbeit errichtet worden war, dann scheinbar teilnahmslos an. Gurudev schien alles sofort zu vergessen – aber nein. Eben dann wirkte Gurudev das größte Wunder. Bevor er sich kühl von dem Schüler verabschiedete, warf er ganz unauffällig den unsichtbaren Panzer seines Segens über ihn, der eines Tages den Schüler ganz sicher zurückbringen würde. Wo sonst auf der Welt konnte er einen solchen Meister finden? Wo sonst im ganzen Universum diente ein Meister auf diese Weise? Wo sonst auf der Welt gehorchte ein Guru dem Willen des Schülers? Der kühle Schatten von Gurudevs gütiger Gegenwart hatte für ihn offensichtlich durch zu große Vertrautheit seinen Glanz verloren. Der Schüler musste noch einige Lektionen lernen, er musste noch einige Schritte in der glühenden Hitze gehen, auf dem heißen Sand der Welt, bevor er tatsächlich die Oase, ja das Paradies, zu schätzen vermochte, das die Lotusfüße des Herrn sind. Er würde zurückkommen.

Ein Swami, der länger dagewesen war als wir alle, obwohl er nicht sehr alt war, hat nach irgendwelchen Schwierigkeiten den Ashram verlassen. Nach einigen Jahren kehrte er etwa zur Zeit der Durga Puja zurück, 1948. Der Meister saß am Straßenrand, und ich kam zufällig vorbei. Er rief mich und sagte: „Weißt du, Swami…..ist gekommen?“ Er schloss ein Auge. „Er ist ein großer Mann! Da gibt es eine lange Geschichte….“ Er wollte nicht die Geschichte erzählen und auch nicht den Skandal aufwärmen. Ich sagte: „Ja Swamiji, ich habe davon gehört.“ Nun, ganz plötzlich und dramatisch änderte er den Ton. Er sagte: „Aber das war früher; früher war er vielleicht ein schlechter Mensch. Wahrscheinlich ist er jetzt anders. Ein schlechter Mensch kann ein guter Mensch werden.“ Dann fügte er hinzu: „Geben wir ihm noch eine Chance; ich hab ihn aufgefordert zu bleiben.“

Die Menschen sagen oft: ‘Vergib und vergiß’, aber das ist leichter gesagt als getan. Gurudev wandte die einzige narrensichere Methode an: urteile nicht. Unterlasse jegliches Urteil. Wenn er etwas tut, das du nicht gutheißt, dann reagiere dementsprechend, aber erkenne, dass er selbst kein schlechter Mensch ist.

Bei anderer Gelegenheit erwähnte er den Verkehr in zwei Richtungen. Er schrieb gerade ein Buch mit dem Titel ‘Ashrams und Heilige in Indien.’ Darin musste er eine Kurzbiographie von einem heiligen Mann widergeben, der später geheiratet hatte – nicht gerade das Beste, was ein Swami tun kann. Gurudev bemerkte: „Er war ein großartiger Mensch, aber er fiel in Ungnade. Aber gute Menschen werden schlecht und schlechte Menschen werden gut. Man darf nicht urteilen.“ Die Biographie wurde in das Buch aufgenommen. Sobald man erkannt hat, dass dieser Verkehr in zwei Richtungen möglich ist, ist man achtsam, ständig achtsam. Ich habe nie gehört, dass Gurudev über solche Menschen gespottet hätte, nicht einmal im Scherz.

Wenn ein solcher Schüler in den Ashram zurückkam, behandelte Gurudev ihn so, als wäre er immer Teil davon gewesen und nie weggegangen. Ja, und so war es in Wirklichkeit, denn wo er auch gewesen sein mochte, er war immer in Gurudevs Herzen. Swamiji tanzte vor Freude und pries ihn in Gegenwart aller, denn dieser Mensch war der lebende Beweis für den Sieg, den Gurudevs erhabene Liebe errungen hatte. Auch der Suchende konnte dann Gurudevs unbeschreibliche Herrlichkeit besser schätzen und sich seiner Gnade mehr öffnen. Diese Schüler von Gurudev sind das unschätzbare Vermögen der Menschheit.

Gurudev gab auch schlechten Menschen und Sündern eine ehrliche Chance. Er, der die Verkörperung von Liebe war, verstand, dass es für den schlechten Menschen voller schlechter Eindrücke beinahe unmöglich ist, auch nur den ersten Schritt zum Göttlichen hin zu tun.

Oh Herr! Du wartest nicht einmal, bis wir bei dir Zuflucht suchen. Du ziehst uns an mit deinen süßen Liedern und inspirierenden Vorträgen, mit deinen liebevollen Worten und deinem unnachahmlichen Humor. Mit amüsanten Bildern und Filmen, köstlichem Prasad (dem Herrn geopferte Süßigkeiten), guten Speisen und einem Leben voller Annehmlichkeiten und frei von Sorgen, Du ziehst uns buchstäblich zu Dir hin. Du verlangst nichts von uns und gibst und gibst, immer. Du verstehst unsere Schwierigkeiten, hast Einsehen mit unseren Unzulänglichkeiten und führst uns an der Hand. Du flößt uns Frömmigkeit ein. Du inspirierst uns mit Leidenschaftslosigkeit. Du hauchst Weisheit in unsere Seelen. Nun, eines Tages wird die Welt finden, dass deine Schüler weise und begabt sind, aber nur wenig erkennt sie, welch unendliche Schmerzen du auf dich nahmst, um dieses Wunder zu wirken. Für dich, den guten Hirten, war es keine Plage. Du hattest tatsächlich Freude daran, hinter dem verlorenen Schaf herzulaufen. Führe uns Herr, führe uns zu Deinen Lotusfüßen.
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