Einmaleins des Lebens
Am Anfang sind wir ganz wunzig und haben keine Ahnung. Weder,
wie man sitzt, noch wie man redet, noch wie man den zerdepperten
Wecker wieder ganzmacht. Und jeder hält das nicht nur für ganz
natürlich, nein, alle Welt findet diese selige Unwissenheit
putzig und rührend und zerreißt sich, um uns das Einmaleins des
Lebens beizubringen.
Das Ansinnen, einem Kleinkind, einem Jugendlichen – ja sogar
einem jungen Erwachsenen - etwa eine selbstausgefüllte
Steuererklärung abzuverlangen, kann nur Heiterkeitsausbrüche
auslösen.
Man hilft uns und führt uns, bringt uns alles kleinweise bei,
leitet uns vom Klogehen übers Schuhezubinden bis zum
Autoreifenwechseln. Und jeder sieht es ein: Alle diese Dinge muß
man ja erst lernen – wo soll’s das Kind denn herhaben?!
Aber dann.
Dann kommt die Zeit der Hormonblüte, und schlagartig sind sie
alle verschwunden, plötzlich ist keiner mehr zuständig.
Mit etwas Glück gibt es noch ein paar gutgemeinte Ratschläge mit
auf den Weg: Vielleicht ein tröstlich achselzuckendes "Es ist ja
bloß ein Mann", vielleicht ein anspornendes "Du mußt ihnen
zeigen, wer der Herr im Haus ist"; eine verschämte Warnung vor
unerwünschtem Nachwuchs, der Tip, daß zwar der Mann der Kopf der
Familie ist – aber die Frau der Hals, der ihn dreht...
Das war’s dann, man ist entlassen. Und stürzt sich ins Abenteuer
Liebe/ Sexualität/ Beziehung.
Und alle erwarten, daß man sich auskennt (am meisten man
selber), daß man weiß, wie man umgeht mit Liebsten, die
stundenlang wortlos vor sich hinstarren, mit aus unerfindlichen
Gründen heulenden Geliebten, mit einem Körper, der nicht so
funktionieren will wie in den Erzählungen der besten Freunde...
Die Umwelt meint, man sei doch jetzt erwachsen und müsse wissen,
wie man eine Frau einen Mann glücklich macht, man hat sich
gefälligst auszukennen in den eigenen widerstreitenden Gefühlen,
man habe elegant die Kurve zu kratzen zwischen dem, was die
Konvention vorschreibt und das eigene Wünschen vorgaukelt.
Ab einem bestimmten Alter - jedenfalls noch vor
Führerscheinreife - wird einfach vorausgesetzt (als ob das
Wissen vom Himmel fiele!), daß ein Mann weiß, wie "es" bei einer
Frau funkt, daß der vielstrapazierte weibliche Instinkt jeder
Frau einflüstert, wie ein Mann denkt & fühlt und wie sein Körper
funktioniert, und daß eine lebenslange, freudvolle Beziehung
ganz von allein rennt.
Ungeachtet der kollektiv geheuchelten Selbstverständlichkeit ist
dem bekanntlich leider nicht so. Das – und auch, daß es allen
anderen genauso geht - erfährt man aber erst Jahre später, nach
zahllosen Beziehungsversuchen, die aufregend und neu (am
Anfang), frustig und bestenfalls lehrreich (gegen Ende) waren,
bevorzugt an immer wieder denselben Problemen gescheitert sind
und von denen oft ein Gefühl von hilflosem Sich-nicht-Auskennen
zurückbleibt.
Manche versuchen es unbeirrt immer wieder mit dem Rüstzeug ihrer
Jugendzeit, manche wenden sich resigniert ab ("Besser allein als
in schlechter Gesellschaft", "Versteh einer die Frauen").
Doch manche – und es werden immer mehr! - holen sozusagen im
zweiten Bildungsweg nach, was ihnen an Information über
funktionierende Mann-Frau-Beziehungen vorenthalten wurde.
Man hat sich redlich bemüht, uns die wichtigen Dinge dieser Welt
beizubringen: lateinisch konjugieren, integralrechnen,
historische Daten, chemische Formeln.
Aber das kleine Einmaleins, das grundlegende Wissen, nämlich
jenes über die Geheimnisse von Mann und Frau, über jene
Beziehung, die Ausgangspunkt für alle anderen ist, über das
Zusammensein von Männlich und Weiblich, dem Fundament dieses
Planeten - das durften wir uns lange Zeit aus den Fingern
saugen.
Die Zeiten ändern sich.
Wir können uns heute einen wahrlich Not-wendigen Luxus leisten,
von dem unsere Eltern nichtmal träumen konnten: Aus unserer
dunklen Ahnungslosigkeit auszusteigen, uns anzusehen, was alles
in Beziehungen möglich ist, zu lernen, zu welchen Höhen sich
Menschen gemeinsam aufschwingen können;
wir können üben, über Gefühle und Sexualität zu sprechen, können
uns informieren über die Funktionen des eigenen und des anderen
Körpers, um besser seine Bedürfnisse zu verstehen und sie
liebevoll erfüllen zu können;
wir können lernen, Schuldgefühle loszulassen, uns der Freude zu
öffnen und Vergnügen am Da-Sein zu empfinden;
wir können Fragen stellen und darauf vertrauen, daß umsetzbare
Antworten kommen;
wir können entdecken, daß es ungeahnte Stufen der Verbundenheit
und Innigkeit gibt, die auf uns warten.
Es ist wohl das erste Mal in unserer Geschichte, daß so viele
Menschen die Chance haben, den Schleier des Verdrängens und der
Unwissenheit von unseren ur-menschlichen Bedürfnissen zu ziehen,
uns unserer Lust und Schönheit bewußt zu werden und wie bunt
schillernde Seifenblasen zu einer neuen Ebene des Verstehens und
Verstandenwerdens aufzusteigen.
© Helena Krivan. 1998